# taz.de -- Im Zug mit einer Stimme: Schreiben mit Karl Lagerfeld | |
> Zum Ende des Jahres ließe sich viel sagen – wenn die Stimme im eigenen | |
> Kopf nur endlich mal still wäre. Ein Dialog. | |
Bild: In vollen Zügen kommen die Gedanken in Fahrt | |
Zweiter Weihnachtsfeiertag, Bahnfahrt nach Irgendwo. Der Zug ist voll, | |
Kindergebrüll und Handygedudel wechseln sich ab. Das Internet funktioniert | |
nicht. Die feiste Stimme, die sich immer kurz vor Kolumnenschluss meldet | |
und sich anhört wie [1][Karl Lagerfeld], [2][wenn er Dickenwitze macht], | |
hat ausreichend Zeit, im Kopf der Kolumnista rumzunölen. | |
Kolumnenstimme (KS): Dumdidum, wieder ein Jahr rum. | |
Ich: Bitte? | |
KS: Ich wollte es ja nur mal gesagt haben. Rate, wer heute Abend noch eine | |
Kolumne abgeben muss? Überleg dir schon mal deinen Einstieg und das Ende, | |
Püppi. Und in deiner Jahresendkolumne solltest du jetzt mal wirklich über | |
das schreiben, worüber du schon seit Juli schreiben wolltest – aber da | |
warste ja in Dresden und musstest unbedingt Ananasdöner testen. Als ob es | |
nichts Wichtigeres gäbe! Seitdem hast du nicht einen Gedanken an dieses | |
hochpolitische Thema verschwendet … | |
Ich: Ey, ist gut jetzt. | |
KS: (nachäffend) Ey, ist gut jetzt. Hast du heute überhaupt schon | |
Nachrichten geguckt oder auch nur eine Seite einer überregionalen, | |
deutschsprachigen Zeitung gelesen? Der Rote Faden ist, wenn ich mich recht | |
erinnere, ein aktuelles Format, eine politische Analyse der Woche, Exzerpt | |
des frisch Vergangenen, das du mit deinem dir eigenen Blick kommentierst. | |
Wie willst du das hinkriegen, frage ich dich, wenn du noch nicht einmal die | |
Deutschlandfunk-Nachrichten der letzten Stunde gehört hast? | |
Ich: Es gibt hier kein Internet, schon mitgekriegt? | |
KS: Zeitungen gibt es auch noch in Papierform, aber klar, bei der taz ist | |
man ja Avantgarde und liest nur noch online. | |
Ich: Hör mal zu, du Gehirnzellen-Pumuckl. Ich lese keine drei Tage alten | |
Zeitungen. | |
KS: Seufz. | |
Ich: Wetten, dass ich den Kolumnentext auch so schreiben kann? Allein hier, | |
in diesem einen Zugwagen, gibt es so viele Ideen, Geschichten und | |
menschliche Abgründe, dass das doch Stoff für drei, ach was, fünf Kolumnen | |
bietet. Ich muss doch hier nur mal eine halbe Stunde in den Wagen | |
hineinhorchen und bin so krass dran an den Schicksalen – und das auch noch | |
an Weihnachten! Da hinten, das Paar, das nur noch über die Kinder | |
kommuniziert und auch sonst sehr abwesend scheint – sind sie nicht ein | |
fantastisches Abbild der Überforderung in der neoliberalen Gesellschaft? | |
KS: Ich dachte immer, das wärst du. (lacht) | |
Ich: Sehr witzig. Okay dann: Was hältst du davon, wenn ich einen | |
Jahresrückblick schreibe? Was war gut, was war schlecht? | |
KS: Gähn. | |
Ich: Ich könnte natürlich auch meine Fragen des Jahres aufschreiben. | |
Fragen, die so aufgeploppt sind in diesem Jahr und Antworten zum Ankreuzen | |
hineinschreiben. Eine Mitmachkolumne sozusagen. | |
KS: Nee, das kann [3][Hengameh] besser. Und wenn die Kolumne erscheint, | |
sind eh alle von Weihnachten überfordert. | |
Ich: (summend) „This year, to save me from tears“… Wusstest du eigentlich, | |
dass der unscheinbare von Wham! nicht einen Cent an „Last Christmas“ | |
verdient? Wie heißt der doch gleich? | |
KS: Andrew Ridgeley. Aber das kannst du wirklich nicht in die Kolumne | |
schreiben. | |
Ich: Hm. Aber ich könnte etwas Post-Weihnachtliches schreiben: Etwa [4][an | |
Ramazan Avcı] erinnern, der 1985 von rechten Skins mitten in Hamburg mit | |
Baseballschlägern bewusstlos geschlagen wurde und drei Tage später, an | |
Heiligabend, an den Folgen starb. Man könnte fragen, warum die Täter mit | |
ein paar Jahren Jugendknast und der Begründung Totschlag, nicht Mord, | |
davonkamen. Einfach, weil die Richter kein rechtes Gedankengut erkennen | |
konnten. Und warum diese Kurzsichtigkeit, drei Jahrzehnte später, immer | |
noch … | |
KS: Dieses Jahr haben nach dem Mord an Lübcke und dem Anschlag in Halle nun | |
wirklich alle kapiert, dass Rechtsterrorismus ein Problem für die | |
Demokratie in diesem Land darstellt. | |
Ich: Der war gut. | |
KS: Excuse-moi, aber du darfst wirklich, wirklich nicht vergessen, der oder | |
dem edlen Spender*in zu danken, die dir im Mai eine Küchenwaage in die taz | |
schickte. Weil du dir eine in deiner Kolumne wünschtest. | |
Ich: Werde ich nicht. | |
KS: Du kannst auch noch den taz-Meinungs-Redakteur*innen und Leser*innen | |
der taz danken, und den Herstellern der Biozigaretten ohne die du keine | |
Kolumne schaffst. | |
Ich: Ja, ja und ja. Und jetzt ist Ruhe im Karton, KS. | |
KS: (fies lachend) Ciao Kakao, bis Ende Januar. | |
29 Dec 2019 | |
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## AUTOREN | |
Ebru Tasdemir | |
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