| # taz.de -- Start der KiWi-Musikbibliothek: Verzwergung hat Pop nicht verdient | |
| > Die ersten vier Bände der KiWi-„Musikbibliothek“ inszenieren Popmusik als | |
| > Biedermeier-Hochkultur. Ein bedauernswerter Rückschritt. | |
| Bild: Annäherung an Nick Cave | |
| Im Orwell-Jahr 1984 ist beim Verlag Kiepenheuer & Witsch „Rawums.“ | |
| erschienen, eine Anthologie, herausgegeben von Peter Glaser. Darin fanden | |
| sich Text- und Bildbeiträge, unter anderem von [1][Clara Drechsler], | |
| Rainald Goetz, Diedrich Diederichsen und dem Maler Martin Kippenberger, | |
| deren Weltzerlegungslust erkennbar an den Moden und Stilen von Pop geschult | |
| war. | |
| Ein existenzstiftender Paradigmenwechsel, der den Autor:Innen höheres | |
| Reflexionstempo abverlangte, so steht es auf dem schwarzen Einband. Der | |
| zeichensetzende Punkt des Titels „Rawums.“ markiert diese Zäsur bereits | |
| lexikalisch. Glaser erschauderte im Vorwort („Zur Lage der Detonation“) vor | |
| der Befindlichkeitsliteratur, da kritische Sensibilität ein Stadium | |
| erreicht habe, „in dem man mit einem Teleobjektiv seinen eigenen großen Zeh | |
| fotografiert“. Eine Absage an jede Form von Innerlichkeit und den | |
| wehleidigen Ton der herrschenden Hochkultur. | |
| Der alte Plunder der Achtziger soll hier nicht glorifiziert werden, er wird | |
| auch nur erwähnt, weil im selben Verlag seit Kurzem eine „Musikbibliothek“ | |
| publiziert wird, in der bedauerlicherweise genau jener | |
| Befindlichkeitsgestus als Pop deklariert wird, vor dem Peter Glaser damals | |
| gewarnt hat. „Unsere Liebe zur Literatur hatte schon immer eine kleine | |
| Schwester: die Liebe zur Musik“, schickt KiWi-Lektorin Kerstin Gleba | |
| vorweg. Dabei ist es doch so, dass das Überwältigtwerden durch Popmusik | |
| durchaus etwas Egalitäres im Kulturverständnis bewirkt hat: „Alles wird | |
| Augenblick, das Leben wird Moment“, hat Klaus Theweleit diesen Vorgang mal | |
| treffend beschrieben. | |
| ## Wie die Reclam-Materialienbände | |
| Jedenfalls sind bis jetzt vier Bände in der KiWi-Musikbibliothek | |
| erschienen: Thees Ullmann schreibt über ein Konzert der Toten Hosen, | |
| [2][Tino Hanekamp] nähert sich dem australischen Rockstar Nick Cave, Anja | |
| Rützel bekundet ihr Fantum zu Take That und Sophie Passmann denkt mit Frank | |
| Ocean über sich selbst nach. | |
| Das handliche Buchformat erinnert von der Aufmachung her an die | |
| Materialbände zu den gelben Reclam-Klassikerausgaben. Autor:Innen-Namen | |
| liegen quer über denen der Künstler, Subjekt kreuzt Objekt. Ein bisschen | |
| suggeriert die Anordnung, als seien die Autor:Innen ebenbürtig oder sogar | |
| größer als der Gegenstand, über den sie schreiben. | |
| „Die Pubertät ist ein Tropfen Wasser auf einem Blatt, auf dem ein Vogel | |
| landet.“ (Ullmann) „Im Dezember 2016 saß ich in einer kleinen Kapelle in | |
| einer niederrheinischen Kleinstadt und beschloss, dass meine Beerdigung | |
| ganz anders werden sollte.“ (Passmann) Zwei Anfangssätze, die belegen, wie | |
| Pop aktuell für Verzwergung steht, wo er früher Horizonte erweiterte. | |
| Auch wenn es gelingt, über die ersten Sätze aller vier Fibeln | |
| hinauszulesen, finden sich nicht viel mehr als ermüdende Monologe über den | |
| Alltag, reaktionäre Provinzialität, ausgegeben als Widerstandsakt und eine | |
| eindimensionale Auslegung der ersten Person Singular zur allwissenden | |
| Erzählebene, in der jede Staubmusche aus dem Bauchnabel als Sensation | |
| verkauft wird. | |
| Es kostete Anstrengungen, Pop zu einem Ort gesellschaftlicher | |
| Auseinandersetzung zu machen. Dass er noch heute Raum für unkonventionelle | |
| künstlerische Aktivitäten und Interventionen bietet, ist keine | |
| Selbstverständlichkeit. In der „Musikbibliothek“ ist diese Errungenschaft | |
| zur Werbefläche geschrumpft, im Tonfall von Homestorys wird aus einem | |
| Mausoleum des leeren Konsums berichtet. „Ich lege den Gang ein, gebe Gas, | |
| der Jeep ruckelt den Hang hoch.“ (Tino Hanekamp) | |
| ## Seltsames Genre Popliteratur | |
| Vielleicht liegt es ja auch am urdeutschen Genre „Popliteratur“, dass aus | |
| dem beweglichen Feld Pop ein starres literarisches Reglement wurde. Genau | |
| genommen gibt es im angloamerikanischen Raum gar keine Popliteratur. Was es | |
| dort gibt, ist Fan-Fiction, ein Westentaschenformat, das entstand, als Fans | |
| von Arthur Conan Doyle begannen, in den 1930ern eigene „Sherlock | |
| Holmes“-Stories zu verfassen. | |
| Seit gut zehn Jahren existiert die Reihe „33 1/3“ beim US-Verlag Continuum, | |
| in der unbekannte Autor:Innen neben prominenten Schriftstellern | |
| gleichberechtigt über ihnen wichtige Popalben schreiben und die Egos schön | |
| hinter dem Forschungsgegenstand belassen. Und es gibt den britischen Verlag | |
| [3][Zero Books], der es mit Minibudget geschafft hat, aktuelle Popdiskurse | |
| in allen Facetten abzubilden und somit der grassierenden | |
| antiintellektuellen Stimmung etwas entgegenzusetzen. | |
| Tino Hanekamp hat als Autor des Romans „So was von da“ und ehemaliger | |
| Clubbetreiber schon stärkere Duftmarken gesetzt, und Anja Rützels | |
| journalistische Texte über Trash-TV-Formate sind lustvolle Verdikte über | |
| Mainstreamkultur. In Zeiten, in denen Friedrich Merz gefühlt alle zwei Tage | |
| zum nächsten „Popstar der CDU“ ausgerufen wird, wäre es sinnvoll „Pop�… | |
| in homöopathischen Dosen einzusetzen und die Sophistication nicht völlig | |
| unter den Tisch fallen zu lassen. | |
| 19 Nov 2019 | |
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| ## AUTOREN | |
| Julian Weber | |
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