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# taz.de -- Die Wahrheit: Halberstädter Pottsuse reloaded
> Realsozialistisches „Feeling“ in Hoyerswerda: Wie Sahra Wagenknecht mit
> einer pfiffigen Geschäftsidee ihren Burn-out überwunden hat.
Für Überraschungen war Sahra Wagenknecht, die einstige Hoffnungsträgerin
der Partei Die Linke, schon öfters gut. Im März 2017 gestand sie dem
Zeit-Magazin, dass sie dank ihrer Liaison mit Oskar Lafontaine „weniger
verletzbar“ sei als früher, ein halbes Jahr später verriet sie der FAZ,
dass sie sich privat „sehr wenig“ schminke, und im Juli 2019 machte sie mit
einer „Burn-out-Beichte“ in der Zeitschrift SuperIllu Schlagzeilen. Letzte
Woche ist der jüngste Hammerschlag erfolgt: Sahra Wagenknecht und Oskar
Lafontaine sind nach Hoyerswerda umgezogen und haben in der sächsischen
Kreisstadt einen Devotionalienhandel für DDR-Produkte eröffnet.
„Sahra’s Lädchen“ nennt sich das Geschäft, in dem es alles gibt, was die
Herzen nostalgisch gestimmter Sozialisten höherschlagen lässt: Club-Cola,
Melkfett, Borschtsch, Soljanka, Letscho, Puffreistafeln, Gurkensülze,
Knusperflocken, Schaumzuckerfiguren, Tangermünder Nährstangen, gezuckerte
Kondensmilch, ampelmannförmige Keksausstecher, Nordhäuser Doppelkorn,
Köstritzer Schwarzbiersenf und vieles mehr.
Ein besonderer Renner ist der Bautz’ner Brotaufstrich in den
Geschmacksrichtungen Gemüse-Senf, Gartenkräuter-Senf und Eier-Senf. Und
natürlich umfasst das Sortiment auch Klassiker wie Halberstädter Pottsuse,
Frühstücksfleisch im Geleemantel, NVA-Feldsuppe, den legendären
Pfefferminzlikör „Pfeffi“ und den guten alten Dreistern-Schmorkohl, dessen
unvergleichlicher Geruch bei so manchem Greis die Erinnerung an verflossene
Schlemmerstunden im Jugendwerkhof Hummelshain oder in der
Justizvollzugsanstalt Bützow wecken dürfte.
Frisch eingetroffen sind chinesische Raubkopien von Kampfsportnadeln der
Nationalen Volksarmee und Medaillen für ausgezeichnete Dienste in
landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften. „Man fühlt sich wirklich
um sechzig, siebzig Jahre zurückversetzt“, schwärmt ein Rentner mit
Überbein, und eine eigens aus Dresden angereiste Hausfrau jubelt: „Ähnfach
groußahrdch!“
## Bockwürste im Naturdarm
An der Frischfleisch-, Wurst- und Fischtheke bedient Sahra Wagenknecht die
Kundschaft persönlich mit marinierten Goldbroilern, Döbelner Bockwürsten im
Naturdarm, russischer Dorschleber, Rigaer Sprottenpaste und Eisbeinfleisch
in Aspik, während aus den Lautsprechern an der Decke ein Medley aus Golden
Oldies der Puhdys und Kampfliedern der Arbeiterklasse erklingt: „Bei jedem
Wind, bei Tag und Nacht, / die Rote Jungfront hält die Wacht. / Drum,
Jungproleten, Mann für Mann, / schließt euch der Roten Jungfront an …“
Das Durchschnittsalter der Kunden liegt nach ersten Erhebungen bei 82,7
Jahren, doch Sahra Wagenknecht hofft, mit heißer „Bückware“ aus dem Westen
bald auch die Generation der Sechzig- bis Siebzigjährigen anlocken zu
können. Auf dem Hof stehen schon drei Paletten mit VHS-Kassetten von
Spielfilmen aus dem Zeitalter der Entspannungspolitik bereit: „Beim Jodeln
juckt die Lederhose“, „Kursaison im Dirndlhöschen“, „Zwei Kumpel in Ti…
und „Jagdrevier der scharfen Gemsen“. Und wer ein volles Rabattmarkenheft
vorweisen kann, dem winkt als Treueprämie ein holziger Reprint des 1971er
Jahrgangs der Zeitschrift Schlüsselloch aus dem Heinrich-Bauer-Verlag.
An der vorsintflutlichen Registrierkasse sitzt Oskar Lafontaine. Er trägt
eine etwas zu enge Uniformjacke der Volkspolizei und hat die Ruhe weg,
obwohl die Schlange der Käufer sich durch den gesamten Laden windet und
draußen noch um zwei Hausecken herumreicht.
„Alter Mann ist kein D-Zug“, sagt er schmunzelnd und sucht auf einer
Verpackung des Antischweißmittels Odorex volle drei Minuten lang nach dem
Preisschild, bevor er die Zahl mit dem rechten Zeigefinger im
Zeitlupentempo eingibt.
Nach Ladenschluss erläutert er einer Runde ausgewählter Journalisten bei
einem wohlgefüllten Pokal Rosenthaler Kadarka und einem Gläschen
Wurzelpeter die dahinterstehende Strategie: „Man muss die Menschen dort
abholen, wo sie sind. Wenn sie bei uns im Laden stehen, wollen wir ihnen
das Gefühl vermitteln, wieder ganz bei sich zu sein, also bei sich selbst
als jungen Menschen, für die das Schlangestehen eine Grunderfahrung war.
Wir treten bewusst auf die Bremse, damit unsere Kernwähler bei uns die
Möglichkeit haben, während des Einkaufs miteinander ins Gespräch zu kommen
und einen Gemeinschaftssinn zu entwickeln, der ihnen von den großen
Discountern verwehrt wird. Aus diesem Grund führen wir sogar künstliche
Versorgungsengpässe herbei …“
## Handliche Plattenbaufertigteile
Leere Regale klaffen zurzeit vor allem dort, wo das bewährte
Milwa-Gardinensalz, handliche Plattenbaufertigteile und die Polierpaste
Elsterglanz lagern sollten. Aber auch an Südfrüchten herrscht ein
eklatanter Mangel, der den vom Schicksal geschlagenen Kundenstamm
zweifellos noch enger zusammenschweißen wird.
Und damit nicht genug: Ab kommendem Donnerstag steht einmal wöchentlich ein
echter Clou auf dem Programm, denn dann wird Sahra Wagenknecht auf einem
improvisierten Laufsteg zwischen dem Notausgang und einem aus
Streichhölzern verfertigten Nachbau der DDR-Volkskammer diverse
Hosenrockmodelle aus der Konkursmasse der Güstrower Kleiderwerke vorführen.
Spürbaren Eventcharakter erhält der Einkauf zudem, wenn Lafontaine den
einen oder anderen Ladendieb mit Kinnhaken, Karatetritten und einem
Elektroschocker zur Schnecke macht.
Um das realsozialistische „Feeling“ zu vervollkommnen, hat die
Geschäftsführerin die Ladenöffnungszeiten auf zwei Nachmittage in der Woche
beschränkt und einige Veteranen der Stasi damit beauftragt, die
ideologische Zuverlässigkeit der Kunden zu prüfen. Wer verdächtig
erscheint, wird in einem schalldichten Kellerraum stundenlangen Verhören
unterzogen und im Falle dauerhafter Widersetzlichkeit dem russischen
Geheimdienst überstellt.
Örtliche Kirchenkreise kritisieren diese Praxis und fordern einen „runden
Tisch“, an dem sie Wagenknecht und Lafontaine zur Rede stellen können, aber
daran haben die Einwohner von Hoyerswerda kein Interesse: Für sie ist
„Sahra’s Lädchen“ schon nach kurzer Zeit zum Dreh- und Angelpunkt des
öffentlichen Lebens geworden. „Mit diesem Geschäft“, so sagen viele, „h…
Frau Wagenknecht uns unsorre Idendidät widdorrgegähm! Danggescheen!“
9 Nov 2019
## AUTOREN
Gerhard Henschel
## TAGS
Sahra Wagenknecht
Oskar Lafontaine
Hoyerswerda
Sigmar Gabriel
Harvey Weinstein
Arno Schmidt
Thomas Gsella
Gedicht
Mondlandung
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