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# taz.de -- Die Wahrheit: Ein Land schreit auf
> Die Norwegen-Woche der Wahrheit: Edvard Munchs legendäres Bild und die
> königliche Schreiforschung. Zum Schreien komisch, das alles.
Bild: Was passiert, wenn das Bild einem auf die Füße fällt? Munch weiß es
Es ist eines der berühmtesten Gemälde der Welt und natürlich auch
Norwegens: Edvard Munchs „Der Schrei“. Zu sehen ist darauf eine Brücke, ein
See und eine kahlköpfige Figur mit geöffnetem Mund. Zu hören ist nichts.
„Der Schrei“ bleibt stumm, bisher jedenfalls, denn seit seiner Entstehung
im Jahr 1893 hat noch niemand auch nur den leisesten Mucks vonseiten des
Bildes vernommen.
So weit die nüchternen Fakten, die unbestreitbaren Tatsachen, an denen,
sollte man meinen, nichts Ungewöhnliches ist. Dennoch versammeln sich vor
dem kleinformatigen Gemälde im Munch Museum, im Osloer Stadtteil Tøyen,
tagtäglich Hunderte Besucher. Ergriffen sieht man sie dort stehen, mit
entrückten Gesichtszügen, unwillkürlich Kopf- und Handhaltung des Motivs
nachahmend, und bei nicht wenigen von ihnen formt sich der Mund zu einem
Oval. Niemand schreit, jedenfalls nicht hier. Gleich nebenan sieht es
anders aus. Dort befindet sich ein eigens zum Schreien eingerichtetes
Kabinett, ein gut gedämmtes Studio, in dem Karl Espekamp und sein Team die
Besucher betreuen.
Espekamp ist Leiter der norwegischen Königlichen Schreiakademie, die seit
Gründung vor über 100 Jahren die Erforschung des Werks von Edvard Munch zum
Ziel hat. Was die Forscher seit Anbeginn umtreibt, ist eine zentrale Frage:
Was für ein Schrei genau ist es, von dem das Gemälde kündet? Oder zu künden
behauptet. Nach Jahrzehnten ergebnisloser Studien ist das alles andere als
sicher.
Der Laie weiß: Es gibt den kurzen spitzen Schrei, den lang anhaltenden, den
durchdringenden, den aus der Tiefe des Körpers hervorbrechenden,
markerschütternden, den eintönigen und mehrtönigen Schrei sowie nach
Ansicht mancher Experten auch verschiedenartige stumme Schreie. Aber das
sind ganz unzureichende Beschreibungen im Vergleich zu den Systematiken,
die von der Königlichen Schreiakademie im Lauf der Jahre gesammelt wurden.
Weit über 4.000 Grundformen des Schreis hat sie erfasst und
wissenschaftlich nach Kategorien wie Tonhöhe, Frequenzgang, Modulation und
Dauer sortiert.
## Ihre Schreiprobe, bitte
Jeder Bürger, jede Bürgerin Norwegens gibt im Laufe seines Lebens
mindestens eine Schreiprobe ab, entweder in Espekamps Kabinett neben dem
Museum oder direkt in der „Skrike Bank“ auf Spitzbergen. Dort im
Dauerfrostboden, in einer ehemaligen unterirdischen Raketenfabrik, befindet
sich das nationale Schreiarchiv. Es verwahrt 21 Millionen Proben, auf
schwarzen Walzen, Schallplatten, Kassetten, manche von ihnen bis heute
ungehört. Trotz dieser Datenbank, weltweit einzigartig und mit Abstand
größte ihrer Art, ist das Rätsel des Gemäldes von Edvard Munch noch immer
ungelöst.
Berüchtigt, um nicht zu sagen: verschrien ist die „Skrike prøve Nr. 1.877�…
jedes Kind in Norwegen kennt sie. Sie war es nach Ansicht der Mitglieder
der Königlichen Schreiakademie, die dem berühmten Original am nächsten
kommen sollte. Ausgerechnet von dieser Probe aber, die von 1953 datiert,
galt der Absender als unbekannt. Espekamp führt sie Besuchern gern vor, es
klingt überraschend unspektakulär, geradezu enttäuschend, irgendwie
schreckhaft, irgendwie theatralisch, vor allem sehr, sehr kurz. Unter einem
epochalen, weltumgreifenden Schrei Munch’scher Bauart hatten viele etwas
ganz anderes erwartet.
Die Stimmung kippte, als sich vor ein paar Jahren herausstellte, dass
Nummer 1.877 eine Kopie des aus vielen Filmen bekannten Wilhelm Screams
war, den irgendwelche Spaßvögel der Königlichen Schreiakademie
untergeschoben hatten. Seitdem gleicht die norwegische Schreiforschung
einem Tollhaus. Es gab Streit, Prozesse, regelrechte Lagerkämpfe, wobei es
2016 während einer geheimen Tagung der Akademie zu tumultartigen,
lautstarken Szenen kam, die landesweit für Aufsehen sorgten. Damals soll
der Sekretär der Akademie genau auf dem Höhepunkt der Debatte den
Zeigefinger erhoben haben, woraufhin alle kurz innehielten, um einem in der
Hitze des Wortgefechts ausgestoßenen Schrei nachzulauschen, ob es sich
womöglich bei ihm um den lange gesuchten handeln könnte. Um anschließend,
versteht sich, noch vehementer aufeinander einzuteufeln.
## Sie schreien ihre Zweifel raus
Mittlerweile existieren innerhalb der Schreiforschung nicht weniger als
vier Fraktionen, die sich erbittert befehden. Espekamp vertritt die
orthodoxe Naturwissenschaft, die Empirie über alles stellt und weiter Probe
auf Probe untersucht. Eine andere Richtung verfolgt die „Ikke
skrike!“-Bewegung, zu Deutsch: Nicht schreien! Sie beruft sich auf den
Kriminalisten Olof Palmström, der bereits in den 20er Jahren des letzten
Jahrhunderts, in einem kaum beachteten Zeitungsaufsatz, Zweifel geäußert
hatte. Das Gemälde, führte er aus, könne ebenso gut einen Moment vor dem
Schrei festhalten wie den Moment danach. Das würde die Lautlosigkeit der
Darstellung auf natürliche und befriedigende Weise erklären.
In der dritten Fraktion versammeln sich die sogenannten Schrei-Leugner, die
behaupten, die von Munch geschaffene Figur habe niemals geschrien, weder
vorher noch nachher, auch nicht zwischendurch. Sie habe vielmehr einen
Schrei gehört. Deshalb halte sie sich die Ohren zu. Was immer da lautstark
erklungen sei – ein exaltierter Hahn nebenan auf dem Bauernhof, ein Kind,
das weint, oder eine nervende Säge –, man werde es nie erfahren.
Bleibt Nummer vier: Das sind die radikalsten Vertreter der neueren
Munch-Forschung. Sie verorten den Schrei jenseits des Gemäldes, in der
Gesellschaft, in den Betrachtern, in uns allen. Munchs Figur sieht uns. Sie
hält sich unseretwegen vor Entsetzen die Ohren zu. Wir haben hier den Fall
des Horrors eines Bildes angesichts der Welt, in der es an die Wand
genagelt ist. Eine These, die in Norwegen verständlicherweise niemand gern
hört.
Von Edvard Munch selbst sind keine Tonaufnahmen erhalten. Der Maler hätte
am ehesten Auskunft darüber geben können, welche Sorte Schrei es war, die
er für die Ewigkeit malte. Vier Variationen des Bildes aus seiner Hand sind
bekannt. Eine Tatsache, die lange vernachlässigt blieb, doch inzwischen
immer mehr seiner Landsleute überzeugt, sich dafür auszusprechen, dass in
Zukunft nicht länger ein einziger Schrei im Fokus stehen dürfe, sondern
vier verschiedene Schreie betrachtet werden sollten, wenn nicht müssten.
Vorausgesetzt, es gelingt ihr, sich untereinander auf die Aufteilung der
Bilder zu einigen, steht die norwegische Schreiforschung vor einem
Neubeginn.
14 Oct 2019
## AUTOREN
Rayk Wieland
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