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# taz.de -- Die Wahrheit: Mitten in den Schritt
> Katastrophen in Katar: Gerade ging die Leichtathletik-WM 2019 zu Ende.
> Jetzt droht die Fußball-Weltmeisterschaft 2022.
Bild: Vor Spannung geradezu explodierende Jubelscheichs bei der Leichtathletik-…
„Schlimm“, „Bullshit“, „künstlich, korrupt und krank“, „absurd�…
einzige Geistershow“. Von einem „Massaker“ war die Rede, von „kollektiv…
Selbstmord“. Fast gingen den Berichterstattern die Vokabeln aus, wenn sie
aus dem allerneuesten Krisengebiet berichteten, von der
Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Doha, der Hauptstadt von Katar. Was war
passiert?
Nun ja, es war heiß, sehr heiß, wie man leicht hätte vorher wissen können.
Die Temperaturen liegen in diesen Tagen auf der arabischen Halbinsel gern
irgendwo über 40 Grad, die Luftfeuchtigkeit beträgt 85 Prozent. Ein
tendenziell letaler Mix aus Sonnenstich und Schwitzhütte, bei dem niemand
auf die Idee käme, Sport zu machen, schon gar keinen Leistungssport. Sagen
wir, so gut wie niemand, denn Hochleistungssportler sind eine besondere
Sorte Mensch, die sich für Qual und Leiden als Lebensform entschieden
haben. Sie würden alles tun, um beim Kugelstoßen einen Zentimeter vor der
Konkurrenz zu liegen und zu gewinnen, wobei der Gewinn nicht Lebenszeit ist
oder Genuss, sondern ein bisschen Ruhm und Geld.
Was das Geld angeht, das brauchen wir alle. Ruhm aber ist nur ein anderes
Wort für nichts. Erinnert sich jemand an die Siegerin im 800-Meter-Lauf vor
zwei Jahren? An den Dritten im Dreisprung? Von den Viert-, Fünft- und
XY-Platzierten zu schweigen. Wo war die letzte WM überhaupt? Richtig, in
London, und davor in Peking, Google hat noch die entlegensten historischen
Daten parat. Doch es bleibt ein Trauerspiel, ob es nun in der Wüste
stattfand wie jetzt, im Smog Chinas oder auf dem Mars, wo es im Vergleich
zu Doha deutlich angenehmer und kühler wäre. Da gäb’s, mag sein, noch
weniger Zuschauer als im leeren Khalifa International Stadium. Wenn die
NASA den Leichtathletik Weltverband IAAF mit ein paar 100 Millionen Dollar
schmiert, wird das sicher kein Problem sein.
Bei internationalen Sportveranstaltungen findet der wahre Showdown längst
nicht mehr in den sportlichen Wettkämpfen statt. Er hat sich in die
medialen und übertragungstechnischen Disziplinen verlagert. Das Ergebnis
ist eine Art Hybrid aus Computerspiel und echten Darstellern, die aus allen
Perspektiven gefilmt werden müssen, damit die dramaturgische Stupidität
nicht zu auffällig wird. Die größten Emotionen bei der WM weckten keine
Speerwurfweiten oder Hürdendramen, es waren die neuen Startblock-Kameras,
die Athletinnen und Athleten mitten in den Schritt filmten. Die kuriose
Pornografisierung ist vielleicht zynisch, aber konsequent, und sie ist im
Vergleich zu Millionen von Insta-Stories, die das täglich freiwillig
besorgen, auch super banal.
## Strafarbeit für Zuschauer
Erfreulich immerhin war, dass sich die Zumutungen nicht auf die sportlichen
Akteure beschränkten. Für die Zuschauer muss der Besuch der WM eine obskure
Strafarbeit gewesen sein. Tausende Arbeiter wurden in das Stadion
eingeschleust, um die leeren Ränge halbwegs aufzufüllen, angeblich per
Freikarte, womöglich mit Waffengewalt, man weiß es nicht.
Alkohol, um die Sado-Maso-WM halbwegs zu ertragen, gab’s nicht. Oder nur
für Ausländer, die an versteckten Ausschankstellen im Stadtgebiet
umgerechnet 13 Euro für ein Glas Bier hinzulegen hatten. Sollte das bei der
in drei Jahren anstehenden Fußball-WM in Katar ebenso gehandhabt werden,
kann sich die Welt auf Fan-Horden gefasst machen, die, auf Entzug durch die
Malls marodierend, die Rasierwasservorräte der arabischen Halbinsel
plündern.
Wer mag, kann Sport in Katar als Notwehr betrachten, also als das, was
geht, wenn nichts geht. Das Land bietet als Ausgleich zum brutalen Klima,
zu Arschgeigen-Salafismus, zu weltweiten Terrorförderprogrammen,
mittelalterlichem Schariatum, sklavophiler Behandlung von Arbeitsmigranten
und zur bescheuerten Prohibition: nur Wüste. „Ich will stets sein, wo ich
nie war / doch never, never in Katar“ lautet der in diesen Tagen oft
gehörte „Wahlspruch eines anonymen Globetrotters“.
## Wüstenstaat zum Nichtverweilen
Das ZDF meldete resigniert, man würde dem Wüstenstaat nicht unrecht tun,
„wenn man ihm einen gewissen landschaftlichen Reiz abspricht – touristische
Möglichkeiten sind begrenzt“. Mit anderen Worten: Der Parcours aus Geröll-
und Kieswüsten lädt überdeutlich zum Nichtverweilen ein. Sogar Sanddünen
halten sich bedeckt. Die höchste Erhebung des Landes ist eine Bodendelle
namens Qurain Abu l-Baul, 103 Meter hoch. Ideale Bedingungen für die
Olympischen Winterspiele, falls demnächst hier welche anberaumt werden.
Mitleid mit den Sportlern, vielfach geäußert, braucht niemand zu haben.
Natürlich schmerzt es schon beim Zusehen, wenn beim Frauenmarathon
Läuferinnen in Serie aufgaben, sich zurückziehen mussten, in Rollstühlen,
auf Tragen und sogar in Krankenwagen weggebracht wurden. Aber auch Athleten
und Athletinnen sind erwachsene Menschen. Mündige Bürger. Im Vollbesitz
nicht nur ihres Körpers, sondern auch eines Kopfes. An den zu tippen wäre,
um Funktionären und Veranstaltern einen Vogel zu zeigen oder meinetwegen
auch ein Kamel, das bei den Temperaturen allerdings niemals um Mitternacht
im Kreis durch die Straßen Dohas hoppeln würde.
Korrekt ist, dass die Auswüchse des Leistungssports immer schon Suizidales
und Fragwürdiges touchierten. Der erste Marathonläufer starb bekanntlich
gleich im Ziel. In Doha, mit einem Turban voller Eiswürfel auf dem Kopf,
überlebten immerhin viele knapp. Das war nicht das einzige Positive. Die
Zuschauer der Weltmeisterschaften konnten die Berichterstattung als eine
Maßnahme der Erwachsenenbildung verbuchen. Was sie sahen, war auch ein
Crash-Kurs in Sachen Klimakatastrophe.
So wie heute in Katar dürfte eine Leichtathletik-WM in 100 Jahren, sagen
wir, in Grönland aussehen. Das heißt, wenn sie dann nicht tatsächlich auf
dem Mars stattfindet, wo gegenwärtig erfrischende minus 27 Grad Celsius
herrschen, Temperaturen, nach denen die Sportler in Katar sich vergeblich
sehnten.
7 Oct 2019
## AUTOREN
Rayk Wieland
## TAGS
Katar
Leichtathletik-WM
Fußball-WM 2022
Norwegen-Woche
Joachim Gauck
Europawahl 2014
Die Wahrheit
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