# taz.de -- Die Wahrheit: Die fantastische Philharmonie | |
> Der Hexenkessel tobt. Die Kurve kocht. Die La-Ola-Welle schwappt durch | |
> den Saal. Gleich wird der Pinguin den Taktstock heben und das Spiel geht | |
> los. | |
Es ist Samstagabend, die Spannung steigt. Schon seit Tagen kann ich vor | |
Aufregung nicht mehr ruhig schlafen. Verbringe Stunden im Bad und schminke | |
mir die Augenlider in den Clubfarben Gelb-Schwarz. Richte den Ausschnitt | |
meines neuen Kleides so, dass das Logo, das ich mir auf die linke Brust hab | |
stechen lassen, die drei ineinandergebetteten Fünfecke, gut zur Geltung | |
kommt. Kriege keinen Bissen runter, aber egal, dafür gibt’s ja bestimmt | |
Bratwurst und Bier in der Halbzeitpause. Schnappe mir die Bengalos und den | |
neuen Fan-Schal – Kirill Petrenko reckt darauf mit siegesgewisser Miene | |
seinen Taktstock gen Himmel – und sprinte zur U-Bahn. | |
Den Weg zur Philharmonie finde ich sogar mit geschlossenen Augen, indem ich | |
den exzentrischen Parfümduftsalven folge. Anders ist es eigentlich auch gar | |
nicht möglich, da meine Glitzer-Mozartperücke mir andauernd über die Augen | |
rutscht. Leider habe ich nur noch eine Stehplatzkarte in der Kurve | |
ergattern können, aber so habe ich immerhin engeren Kontakt zu den übrigen | |
Fans. | |
Ich lasse mich von dem weißköpfigen Strom in den Hexenkessel schleusen. Es | |
ist zwar schon zehn Minuten vor Anschlag, aber merkwürdigerweise ist davon | |
stimmungsmäßig noch wenig zu spüren. Die meisten Konzertbesucher sitzen auf | |
ihren Plätzen und unterhalten sich in gedämpfter Tonlage mit ihren | |
Sitznachbarn. Ich unternehme mutig den Versuch, ein paar aufwärmende | |
Gesänge anzustimmen, aber niemand schließt sich mir an. Zum Glück laufen | |
jetzt die Musiker ein und es geht endlich los. Ganz zart ertönt die Oboe, | |
dann folgt eine wilde Improvisation des vollen Orchesters, auf nur einem | |
einzigen Ton! | |
Ich klatsche begeistert. Die anderen Zuschauer schließen sich meinem wilden | |
Applaus an, denn nun betritt auch der Dirigent die Bühne. Die Spieler | |
erstarren, und der Pinguin mit dem Taktstab hebt beide Arme. Ein | |
fulminantes Spektakel bricht los. Mit unglaublichen Höhepunkten. Dieser | |
Gustav Mahler muss schon ein ordentlicher Knipser gewesen sein. Den | |
Trompeten und Trommeln gelingt in den letzten Sekunden ein phänomenales | |
Schlussgewitter – der absolute Wahnsinn, ich johle los. Und habe plötzlich | |
das Gefühl, selbst auf der Bühne zu stehen, denn zweitausend hochgezogene | |
Augenbrauen richten sich wie Maschinengewehrläufe auf mich. | |
Ich verstumme, und schon geht die Musik mit dem nächsten Satz weiter, so | |
ergreifend, dass mir die Tränen in den Augen stehen und ich gar nicht weiß, | |
wohin mit mir, als die letzten Töne verklingen. Prompt erhebt sich um mich | |
herum ein apokalyptisches Geräuspere und Gehuste, dessen gemeinschaftlichen | |
Auslöser ich verpasst zu haben scheine. | |
Es kommt noch einmal zu Irritationen, als eine von mir initiierte | |
La-Ola-Welle sich im Raum verläuft, doch nach einem Gläschen Sekt im Foyer | |
für schlappe 14,20 Euro gehe ich trotzdem beschwingt von einem | |
wunderschönen Konzerterlebnis nach Hause. | |
18 Sep 2019 | |
## AUTOREN | |
Lea Wittkopf | |
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