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# taz.de -- Tagebuch von Frank Witzel: Namen wie Jod
> Frank Witzel führt ein Tagebuch der Selbstbeobachtung. „Uneigentliche
> Verzweiflung“ ist ein wertvolles Dokument – aber anders als gedacht.
Bild: Sorgt in seinem Tagebuch stets für Empathie: Frank Witzel
Am 8. Oktober 2018 fasst Frank Witzel in seinem Tagebuch zusammen, was er
damit bezweckt: Das Denken zu beobachten, „wahrscheinlich bis zu dem Punkt,
wo es sich für den Moment totgelaufen hat, ich mich bestenfalls
‚ausgedacht‘ habe“. Am 23. November 2018 wird er das Projekt beenden.
Nun liegt das Ergebnis, „Uneigentliche Verzweiflung. Metaphysisches
Tagebuch I“, vor, und während das Zitat noch dahin verweist, es könnte sich
um eine Art der Autofiktionalisierung handeln, wie sie etwa der
französische Philosoph Roland Barthes in „Roland Barthes über Roland
Barthes“ versucht hat, beharrt Witzel auf die Unmittelbarkeit, die er hier
verfolgt, und auf dem Vorbild Gabriel Marcel, der in den 20er Jahren ein
ähnliches Tagebuch führte, als führender Vertreter des französischen
Existenzialismus christlicher Prägung. Es wird also, das ist von Seite eins
an klar, sehr ernsthaft.
Bei Frank Witzel überrascht dieser Ansatz doch. So schrieb er seit Anfang
der nuller Jahre mehr oder weniger beachtet Romane, die popkulturelle
Zitat-Collagen von Derrida bis Teletubbie mit postnarrativem Erzählen
verbanden, Romane also als theoretische Versuchsanordnungen, wie man das
etwa von Thomas Pynchon kennt.
## Deutscher Buchpreis 2015
Seine musikalische Sozialisation und die BRD hat Witzel in seinem Großwerk
„Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven
Teenagers im Sommer 1969“ zusammengedacht: ein 800-Seiter, der 2015 mit dem
Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Darin erzählt ein alterslos
kindlicher Erzähler Weltgeschichte aus dem Hinterland der düsteren
Bundesrepublik – ein Buch, das einer „Great German Novel“ noch am nächst…
kommt.
Der seinerzeit zumeist gesetzte Vergleich mit David Foster Wallace ist
insofern treffend, als auch jener seinem Großwerk „Unendlicher Spaß“ kein…
vergleichbaren Nachfolger hinterherschicken konnte. Wie antwortet man auf
ein Lebenswerk? Witzels ebenfalls angelegtes Nachkriegs-Panorama „Direkt
danach und kurz davor“ von 2017 krankt jedenfalls weniger am Wagemut, die
Sprachlosigkeit nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reiches zum Sprechen
zu bringen, als an der Saturiertheit, mit der Erzählebenen und
reflektierende Ebenen ineinandergeschraubt werden, bis jeder Witz, der die
„Erfindung der Roten Armee Fraktion“ auszeichnete, verschwunden ist. Witzel
in seiner neuen Identität als Großschriftsteller, das scheiterte im ersten
Versuch.
Aus dieser Perspektive scheint es begrüßenswert, dass er nun eine Zäsur in
die eigene Schreibbiografie setzt. Auch wenn sie etwas erzwungen ist. Denn
der nicht lange zurückliegende Tod der Eltern und eine Trennung werfen ihre
Schatten in das Buch, allein als was, das ist die Frage.
## Zum Schutz der Privatsphäre
Der Kritiker Johannes Franzen interpretierte das Fehlen konkreter
Geschichte und zwischenmenschlicher Emotionen in den Tagebüchern als
Leistung des Verzichts auf den unausgesprochen wichtigsten Aspekt von
publizierten Tagebüchern und ein empathisches Schützen betreffender
Personen. Natürlich könnte man das auch anders denken, nämlich als ein
schlichtes „Mann findet in intimer Selbstbeobachtung keinen Zugang zu
seinen Gefühlen“, was freilich dem „Metaphysischen Tagebuch“ seine
Radikalität zu großen Teilen absprechen würde.
Dann wäre es das Dokument eines Scheiterns. Witzel träufelt Namen aus dem
Kanon wie desinfizierendes Jod auf die Wunden. „Mich lässt der Anfang der
‚Pensées sans ordre concernant l’amour de dieu‘ einfach nicht los“,
schreibt Witzel am 5. Oktober, schließt über mehrere Zeilen ein Zitat der
Philosophin Simone Weil im Original an, um dann unmittelbar den japanischen
Zen-Lehrer Dōgen zu zitieren – immerhin auf Englisch. Das entbehrt
bisweilen nicht der unfreiwilligen Komik, jederzeit wartet man auf die
Auftritte von Fibel-Klassikern wie Pippin und seiner Hausmeier oder die
Rezitation der Merseburger Zaubersprüche. Über weite Strecken ist das
Tagebuch ein Ausstellen der eigenen Bildungsbräsigkeit. Dazwischen geht der
Autor schwimmen.
„Dies ist im doppelten Sinne ein metaphysisches Tagebuch, da es mir immer
weniger gelingt, die sonst in einem Tagebuch vermerkten Dinge des Alltags
hier aufzuschreiben. Ich habe das Gefühl, nicht die richtigen Worte dafür
finden zu können und, sollte ich es dennoch versuchen, in der Banalität der
Kolportage und der falschen Emotionalität stecken zu bleiben“, resümiert
Witzel zwei Wochen später. Den Versuch zu wagen hätte dem Buch gut getan.
Dabei hätte es nicht um Skandalöses gehen müssen, sondern um Fragmente
einer Sprache der Liebe, die vielleicht anders klingen könnte als Kitsch
oder Philosophie-Grundkurs.
## Spuren einer Zärtlichkeit
Es gibt Spuren einer Zärtlichkeit sich selbst gegenüber, die er im Text
nicht zulassen zu können scheint, als schrecke er vor dieser Radikalität
zurück: Denken als Autoaggression, als hermetisches System gegen Trauer.
„Aber was kann man schon wissen über die Beweggründe eines anderen“, wie
Witzel selbst fragt.
„Ein Tagebuch, in das ich dann wirklich das schreibe, was mich beschäftigt.
Wie gesagt, es war nur ein diffuses Gefühl, denn ich frage mich, was dieses
,Wirkliche' denn sein sollte? Es ist nichts weiter als der Ausdruck einer
Hoffnung, die sich eben nie wirklich erfüllt, gleichzeitig der Grund,
weshalb ich immer weiterschreibe: um eben doch noch auf etwas zu stoßen“,
heißt es kurz vor Ende des Experiments.
Man wünscht dem Autor, den Ausbruch aus der Tristesse des Denkens möglichst
bald erleben zu dürfen. Dass er selbst durchblicken lässt, wie unwohl er
sich in seinem Gedankenkorsett fühlt, lässt einen stets empathisch mit dem
Autor Frank Witzel bleiben.
Wertvoll ist dieses Buch darum eher als zeithistorisches Dokument des
Denkhorizonts der in der frühen BRD Geborenen. Dass diese Identitätsarbeit
eines weißen Mannes aber „Metaphysik“ heißen darf, wohingegen
Identitätsschreibe aus weiblicher Perspektive of color hierzulande noch
jederzeit als „Migrationsliteratur“ oder „Trendthema Feminismus“ verkau…
werden würde, ist die entscheidende Frage, die dieses Buch aufwirft.
5 Sep 2019
## AUTOREN
Steffen Greiner
## TAGS
Frank Witzel
Tagebuch
Existenzialismus
Buch
Depression
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