# taz.de -- Buch über Tierforschung: Zerteiler und Zerstörer | |
> Bedient die Ratte nur im Labor die Hebel oder auch in der Kanalisation? | |
> Vinciane Despret stellt die Vorgehensweise der Tierforscher radikal | |
> infrage. | |
Bild: Es ist anzunehmen, dass die Haltung das Verhalten von Tieren ziemlich nac… | |
Was würden Tiere sagen, würden wir die richtigen Fragen stellen? Gewiss | |
sehr Erstaunliches, aber was wären die richtigen Fragen? „Magst du Gassi | |
gehen?“ Na klar, sagt uns der Hund. Oder an den Löwen gerichtet: „Magst du | |
das Warzenschwein jagen, oder sollen dies deine Löwinnen für dich tun?“ Als | |
Antwort käme ein Löwenblick, so wir als Frager überhaupt eines Blickes | |
würdig erachtet würden. Von dieser Art Fragen gibt es zwar eine Menge, aber | |
für die Forschung sind sie zu banal. | |
Die andere Möglichkeit, geduldig zu beobachten und sich selbst zu fragen, | |
warum hat dieses Tier gerade etwas getan oder auch nicht, wird als | |
unwissenschaftlich zurückgewiesen, weil Zusehen keine experimentelle | |
Überprüfung darstellt. Allenfalls kann es als Vorstufe zur eigentlichen | |
Forschung angesehen werden. Was eben die Frage nach der „richtigen Frage“ | |
aufwirft. | |
Wie die Forschungspraxis vorgeht, damit hadert die Philosophin Vinciane | |
Despret. Ziemlich heftig sogar. Das liegt sehr an den Beispielen, die sie | |
für ihr kritisches Alphabet durchleuchtet, von A wie Anmut bis Z wie | |
Zoophilie. Dabei geht es ihr nicht um das Zoologische, sondern um die Art | |
der Forschung und die Forscher selbst. Was bedeutet artgerechte Haltung, | |
etwa von Rindern oder Schweinen, wenn es um Probleme des Tierwohls oder um | |
Fortschritte in der Nutztierhaltung geht? | |
Nicht einmal vom Hund, dem emotional am engsten mit den Menschen | |
verbundenen Tier, wissen wir hinreichend sicher, was sein natürliches | |
Verhalten wäre, bliebe er Hund und würde er, auf sich und andere Hunde | |
allein gestellt und unabhängig von Menschen lebend, nicht (wieder) Wolf. | |
Viele Hundehalter sind überzeugt, dass es ihr Hund bei ihnen am besten hat. | |
Wie auch die Katzen, sonst kämen sie nicht wieder zurück von ihren | |
Streifzügen. Aber das tun Vögel ebenso, die aus dem Käfig entlassen werden. | |
Was nahe legt, anzunehmen, dass die Haltung das Verhalten von Tieren | |
ziemlich nachhaltig verändert. Und damit die Frage nach den richtigen | |
Fragen zur rhetorischen Frage degradiert. | |
## Menschenaffen probieren gern etwas aus | |
Vinciane Despret bleibt uns Antworten auf ihre Buchtitelfrage zwangsläufig | |
schuldig. Sie kritisiert, und dies massiv: „Wegnehmen, separieren, | |
verstümmeln, entfernen, entziehen. Alles … wird unendlich oft wiederholt. | |
Das Experiment des Separierens hört nicht damit auf, dass man Lebewesen | |
voneinander trennt, es besteht auch darin, zu zerstören, zu zerstückeln und | |
vor allem darin, Dinge wegzunehmen. Als wäre das das Einzige, was wir tun | |
könnten.“ | |
Harte Worte fürwahr, zutreffend in manchen Fällen sicherlich, aber gewiss | |
nicht allgemeingültig. Wie auch nicht alle Menschen schlecht sind, weil es | |
so viel Schlechtigkeit in der Welt gibt. Die Verhaltensforscher Karl von | |
Frisch, Konrad Lorenz und Niko Tinbergen erhielten den Nobelpreis nicht für | |
solche Tierforschungen, die Vinciane Despret kritisiert. Und viele andere, | |
zu Recht sehr berühmte, wie Frans de Waal oder [1][Jane Goodall], fallen | |
gleichfalls nicht in die Kategorie der Zerteiler und Zerstörer. | |
Menschenaffen probieren gern etwas aus. Wenn sie bei Tests Kisten | |
aufeinanderstapeln, um zu einer an der Decke aufgehängten Banane zu kommen, | |
ist das keine unangemessen experimentelle Herausforderung, denn Bananen | |
wachsen ihnen in der tropisch-afrikanischen Heimat auch nicht in den Mund. | |
## Wer ist hier dominant? | |
Das Leben in der Natur stellt sie immer wieder vor neue Herausforderungen. | |
Ist Desprets Buch also eine überzogene Kritik? Es so zu bewerten, würde die | |
Schlagseite lediglich umkehren, der Problematik aber nicht gerecht werden. | |
Denn sie geht tiefer. Das Buch sollte nicht (nur) aus der Sicht des am | |
Tierverhalten forschenden Zoologen betrachtet werden. Da ließ sich gewiss | |
an manchem Detail herummäkeln. | |
Auch die rein philosophische Betrachtung würde den Kern nicht erreichen, | |
weil umfassende Vorkenntnisse des Tierverhaltens vorausgesetzt werden | |
müssten, über die bei der breiten Palette der gewählten Arten und Themen | |
nicht einmal die Zoologen selbst in gleicher Tiefe verfügen. Vielmehr | |
stellt Vinciane Despret die Vorgehensweise der Forscher und die | |
Interpretation der Befunde auf den Prüfstand. | |
„Ein Tier dominant zu bezeichnen, fördert eine bestimmte Art von Narrativ, | |
es bewirkt, dass wir manchen Verhaltensweisen eine andere Form von | |
Aufmerksamkeit schenken als anderen, und es macht den Bezug auf andere | |
mögliche Varianten nicht mehr greifbar … Anhand dieses Begriffs wird immer | |
die gleiche Geschichte erzählt. Er grenzt das Szenario ein.“ Die | |
Beschreibung von Verhaltensweisen mit uns vertrauten Begriffen aus der | |
Menschenwelt verändert also das Geschaute und drängt es in eine vorgegebene | |
Erklärungsrichtung, so ihre Kritik. | |
Damit fügen sich die Befunde automatisch ein in unsere Sichtweise. Das | |
lässt keine andere mehr zu. Der eine Schimpanse ist dominant, weil der | |
andere vor ihm kuscht, der jedoch einen Dritten dominiert, woraus sich ganz | |
von selbst eine Hierarchie in der Schimpansengruppe ergibt. | |
Was daran kritikwürdig sein soll, erschließt sich erst im größeren | |
Zusammenhang, insbesondere in der historischen Betrachtung. Da zeigt sich | |
in der Tat, dass je nach Zeitströmung die Forschungen und Interpretationen | |
schlagseitig sind. | |
## Die richtigen Fragen gestellt | |
So nimmt gegenwärtig die Suche nach Kooperationen und Konfliktvermeidungen | |
bei Tieren stark zu, während zu Beginn der Vergleichenden | |
Verhaltensforschung hierarchische und konkurrierend-aggressive | |
Verhaltensweisen im Vordergrund standen. Der „Kampf ums Dasein“ wird jetzt | |
immer stärker durch den Erfolg des Miteinanders ersetzt. In dieser Hinsicht | |
trifft Vinciane Despret den Nerv. Aber auch in Bezug auf den | |
Paradigmenwechsel vom analytischen zum holistischen Denken. | |
Dass sie das Wegnehmen, Verstümmeln, Entziehen in der Erforschung des | |
Tierverhaltens so heftig kritisiert, hat seine Berechtigung, wenn es um die | |
Sicht des Ganzen geht. Da kann die Laborratte, die Hebel bedienen soll, nie | |
und nimmer Aufschluss über das natürliche Rattenleben geben, wohl aber über | |
Vorgänge im Gehirn unter stark vereinfachten Bedingungen. Solche aus dem | |
Verhalten von Ratten an Müllhalden oder in der finsteren Welt der | |
Kanalisation erschließen zu wollen, ist schlicht unmöglich. Beide haben | |
ihre Berechtigung, die Forschungen am Detail und am Ganzen. | |
Aber eine Berechtigung in der Fragestellung ist nicht gleichbedeutend mit | |
Rechtfertigung der Vorgehensweise. Uns dies nahe zu bringen, darum geht es | |
Vinciane Despret. Ihre Kritik richtet sich nicht grundsätzlich gegen die | |
Erforschung des Tierverhaltens, sondern gegen ganz bestimmte Formen und | |
Denkweisen, die damit verbunden sind. Ihre Beispiele erschrecken. Das | |
sollen sie. | |
Ihre Kritik ist konstruktiv gemeint, und daher willkommen. Sie liefert den | |
Gegnern von Tierversuchen viel Munition. Sie wird aber heftigste Kritik aus | |
jenen Kreisen der Tierforschung erhalten, die es angeht. Und sie hat sich | |
vielleicht auch philosophisch zu weit auf (fach)fremdes Terrain begeben. | |
Zuzustimmen ist ihr aber auf jeden Fall: Es geht darum, „die richtigen | |
Fragen zu stellen“. | |
4 Sep 2019 | |
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[1] /Schimpansen-Forscherin-in-Berlin/!5203469 | |
## AUTOREN | |
Josef H. Reichholf | |
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