# taz.de -- Vor Kroatiens verschlossener Grenze: Auf die Müllhalde verfrachtet | |
> Viele Flüchtlinge, die nach Europa wollen, landen im bosnischen Bihać. | |
> Die Stadt fühlt sich mit dem Problem völlig alleingelassen. | |
Bild: Rund um die Müllhalde gibt es nichts als Wald, Schlangen und Minenfelder… | |
BIHAĆ taz | Selam Midžić ist ein überlegter und besonnener Mann. Der | |
52-jährige Chef des Roten Kreuzes in der bosnischen Stadt Bihać könnte | |
angesichts der dramatischen Lage anders auch gar nicht arbeiten. Sachlich | |
und präzise spricht er über den Ansturm der Migranten im Nordwesten | |
Bosniens und Herzegowinas. Im Augenblick seien es 5.000 oder mehr | |
Migranten, die es über die Türkei, Griechenland oder Serbien geschafft | |
hätten, herzukommen. | |
„Täglich kommen mehr, bei uns sammeln sich die Menschen.“ Er deutet vom | |
Fenster seines Büros auf den Plješevica-Gebirgszug, der sich mit seinem | |
Fichten- und Laubwald westlich der Stadt erhebt. „Die Leute aus Pakistan, | |
Afghanistan, Syrien und Marokko wollen dort oben hin, an die Grenze mit | |
Kroatien, weiter nach Westen, in die EU. Nur weg von hier, aber das können | |
sie nicht. Auf unserer kleinen Stadt lastet das Migrationsproblem Europas.“ | |
Überall in Bihać sind die Migranten präsent. | |
In Gruppen streifen sie durch die Kleinstadt. Bihać mit seinen knapp 40.000 | |
Einwohnern hatte sich gerade in den letzten Jahren von dem zwischen 1992 | |
und 1995 wütendend Krieg leicht erholt. An den Ufern des grünlich | |
schimmernden Una-Flusses, der zu den wenigen naturbelassenen und reinen | |
Flüssen Europas gehört, warten Restaurants mit ihren Fischspezialitäten auf | |
Kundschaft. Die Una-Forelle steht ganz oben auf ihrer Speisekarte. | |
Bihać ist ein beschaulicher Ort. Noch vor kurzer Zeit war er sehr attraktiv | |
für Touristen aus der Region, aus Europa und sogar aus Saudi-Arabien. Seit | |
die Migranten hier sind, ist der Tourismus zurückgegangen. Die Stadt will | |
sie von hier weghaben, raus dem Zentrum, deshalb entschied sie bereits im | |
vorigen Jahr, Lager in der Peripherie zu errichten. Die Migranten wurden | |
zum Teil in den Werkhallen der ehemaligen Elektrofirma Bira untergebracht. | |
## Das neue Lager liegt auf einer ehemaligen Mülldeponie | |
Internationale Organisationen, wie die IOM (International Organisation for | |
Migration), helfen bei der Versorgung der Menschen. „Diese Lager platzen | |
aus allen Nähten“, sagt Rotkreuz-Chef Midžić. Mitte Juni stimmte der | |
Stadtrat für die Errichtung eines weiteren Flüchtlingslagers: Vučjak, das | |
neue Lager, liegt auf einer ehemaligen Mülldeponie. Die Fahrt dorthin führt | |
durch die Vororte mit von Gärten umgebenen Einfamilienhäusern den Berghang | |
hinauf und gibt den Blick preis auf die alte Festung. | |
Bihać war jahrhundertelang Vorposten des Osmanischen Reichs, Grenzregion, | |
Schutzwall gegenüber Österreich-Ungarn mit mehrheitlich muslimischer | |
Bevölkerung. Ab und an taucht entlang des Weges inmitten von Wiesen und | |
Wäldern eine Moschee auf, dann wieder eine katholische Kirche. Das zur | |
Müllkippe nächst gelegene Dorf Zavalje mit gepflegten Häusern und Obst- und | |
Gemüsegärten ist katholisch. Hinter dem Dorf verengt sich der Weg. | |
Zwei offensichtlich gelangweilte Polizisten winken das Rotkreuzfahrzeug | |
durch. Dahinter liegen schon die einfachen, weißen vom türkischen Roten | |
Halbmond gesponserten Zelte. Die Müllkippe wurde Anfang Juni einfach mit | |
Schotter und Kies zugeschüttet. Dass giftige und stinkende Gase austreten | |
können und sich der Müll wieder an die Oberfläche arbeitet, wurde offenbar | |
nicht bedacht. | |
Vier Wassertanks sind an einer Seite der „Hauptstrasse“ angebracht. In | |
einem Zelt sitzen Männer auf Pappen, die wohl als Schlafunterlage dienen. | |
Andere hocken auf Getränkekisten umgeben von Taschen und anderen | |
persönlichen Utensilien. Jemand kocht Tee. Vor dem Zelt nebenan sind auf | |
dem Boden Kartoffeln und heimisches Gemüse ausgebreitet, Tomaten, Paprika | |
und Gurken. Der Pakistaner Muhammed Junes kauft die Waren im nahen Dorf und | |
handelt hier damit. | |
## Der Müll ist nur mit Schotter und Kies überdeckt | |
Manche Migranten kochen auf kleinen Öfen für sich selbst. „Ein bisschen | |
Business“, schmunzelt Junes. Er sei mehr als 3.000 Kilometer gereist, meist | |
zu Fuß, über den Iran, die Türkei, dann Griechenland, über Nordmazedonien | |
und Serbien, bis er schließlich hier gelandet ist. Sein Ziel ist Italien. | |
„Ich werde das schaffen“, sagt der muskulöse junge Mann, der seine | |
Sportkleidung sorgsam gesäubert hat. Wie alle hier. Trotz Staub und Dreck | |
versucht sich jeder so gut wie möglich sauber zu halten. | |
In Gruppen stehen die Männer – Frauen sind im Lager nicht zugelassen. | |
Überraschend mischt sich ein Mann auf Deutsch ins Gespräch. Aspaver, der | |
seinen vollen Namen nicht preisgeben will, ist 30 Jahre alt. Er hat früher | |
schon in Berlin gelebt, kam mit der großen Migrationwelle vor gut fünf | |
Jahren nach Deutschland, schlug sich als Pizzabäcker durch und lernte die | |
Sprache, bis die Ablehnung seines Asylantrags kam. Im März dieses Jahres | |
wurde er nach Pakistan abgeschoben. | |
„Vier Wochen habe ich es dort ausgehalten, dann bin ich wieder los.“ Der | |
gleiche Weg: Afghanistan, Iran, Türkei, und die Balkanstaaten. Er will | |
wieder zurück nach Berlin, wo er schon Freunde gefunden hat. Wieder als | |
Illegaler leben? „Ich habe keine Alternative.“ Erst einmal müssen die | |
Migranten aber durch Kroatien kommen. Aspaver und Junes blicken auf den | |
Plješevica-Gebirgszug, dessen Anstieg hier am Rande des Lagers beginnt. | |
Jeden Tag machen sich Flüchtlinge auf den Weg durch Wälder und die | |
Minenfelder der ehemaligen Frontlinie. Manche in Gruppen bis zu 30 Leuten. | |
Doch die wenigsten kommen durch. „Sieh mal“, sagt Aspaver und führt mich zu | |
einem Zelt des Roten Kreuzes. In einer ordentlichen Schlange warten ein | |
Dutzend Männer auf die Behandlung. Die meisten von ihnen sind an den Beinen | |
verletzt. Ein Mann zieht die Hose bis zum Knie hoch. Die Haut besteht nur | |
noch aus blauen Flecken und offenen Wunden. „Glück gehabt, nichts | |
gebrochen“, sagt Aspaver. | |
## Der Weg zur Grenze führt über Minenfelder | |
Der Nächste in der Reihe, ein schlaksiger, höchstens 18 Jahre alter | |
Afghane, schaut säuerlich. „Mein Fuß ist gebrochen, die kroatischen | |
Polizisten haben mich mit ihren Stiefeln getreten, mir alles Geld | |
abgenommen und dann noch mein Handy kaputtgemacht.“ Die Männer, die in der | |
Reihe anstehen, berichten allesamt ähnliche Erfahrungen. | |
Nur jene, die 1.000 bis 3.000 Euro aufbringen können, um einen Schleuser | |
mit guten Kontakten zu kroatischen Polizisten“ zu bezahlen, hätten eine | |
bessere Aussicht, doch noch nach „Europa“ zu gelangen. Die Zelttür öffnet | |
sich und gibt den Blick frei auf das Behandlungszimmer. Ein blonder Mann in | |
weißem Hemd sieht sich gerade die Wunden eines „Patienten“ an. Der Mann in | |
Weiß heißt Dirk Planert, er ist Anfang 50 und Journalist aus Dortmund. | |
Mitte Juni kam er her, um eine von der Stadt organisierte Ausstellung | |
seiner Fotos zu eröffnen, die er während des Kriegs 1993 und 1994 gemacht | |
hatte. Er war einer der wenigen Journalisten, die es damals in die von | |
serbischen Truppen umschlossene Enklave Bihać geschafft hatten. „Das war | |
die Hölle, die Serben haben manchmal 2.000 Granaten am Tag geschossen.“ | |
Planert versuchte damals alles, um die Not der Menschen zu lindern. | |
Es gelang ihm, humanitäre Hilfe und Medikamente in die belagerte Stadt zu | |
bringen. Als er Mitte Juni 2019 von der Eröffnung des Lagers Vučjak hörte | |
und feststellen musste, dass die Stadt über 700 Leute auf die Müllhalde | |
verfrachtet hat und die internationalen Organisationen untätig blieben, | |
ging er sofort ans Werk, kaufte aus eigener Tasche Medikamente und | |
organisierte eine erste Ambulanz. | |
Für das UN-Flüchtlingshilfswerk ist das Lager nicht legal | |
Unterstützt wird er von österreichischen Touristinnen, einer Ärztin und | |
Krankenschwestern, die angesichts der Notlage ihren Urlaub verlängerten. | |
Planert sammelte von Freunden Geld in Deutschland, kam wieder zurück, und | |
arbeitet seither 12 Stunden am Tag. Besondere Sorgen macht ihm die Krätze, | |
die sich im Lager rasch ausbreitet, weil die nötigen Medikamente zur | |
Behandlung fehlen. „Ganze Körperteile vereitern. Ich kann ja nur Erste | |
Hilfe leisten, wir brauchen Ärzte, die sich hier einklinken.“ | |
Man könne doch die Menschen hier nicht so vor sich hin vegetieren lassen. | |
Um 15 Uhr ist Essenszeit. Über 400 Menschen haben eine Schlange gebildet | |
und warten darauf, dass die Helfer des bosnischen Roten Kreuzes mit der | |
Verteilung beginnen. Es gibt eine Nudel-Gemüsesuppe und eine Scheibe Brot. | |
Rotkreuzchef Midžić hebt ratlos die Schultern. „Das reicht ja eigentlich | |
nicht. Mit Spenden aus der Bevölkerung versuchen wir, wenigsten eine Art | |
Grundversorgung zu sichern.“ | |
Auch Planert ist ungehalten. „Die Vertreter der Internationalen | |
Hilfsorganisationen kutschieren mit modernen Geländewagen durch die Gegend | |
anstatt hier selbst mit anzupacken.“ Für die IOM und das | |
UN-Flüchtlingshilfswerk ist das Lager Vučjak illegal. Die Stadt müsse für | |
ein befestigstes Camp sorgen. Für solche Investitionen fehle das Geld, | |
heißt es auf Nachfrage im Rathaus lapidar. Midžić sitzt zwischen allen | |
Stühlen. | |
Vor einer Woche gab es eine Schlägerei, die nur mit Mühe geschlichtet | |
werden konnte. Es sind einfach zu viele Migranten. Bihać ist wirtschaftlich | |
so schwach, dass es statistisch zum Armenhaus Europas zählt. „Ausgerechnet | |
hier müssten die Menschen die Last der geschlossenen Grenzen tragen“, | |
schimpft Planert. „Dass zudem ein EU-Land wie Kroatien ungestraft | |
UN-Konventionen brechen und Migranten mit Gewalt nach Bosnien abschieben | |
kann, ist ein nicht zu toppender Skandal.“ | |
5 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Erich Rathfelder | |
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