# taz.de -- Schwulenberatung Berlin: „Sex kann man überall haben“ | |
> Marco Pulver von der Berliner Schwulenberatung erklärt, warum ein | |
> Coming-out mit zunehmendem Alter immer schwieriger wird. | |
Bild: Er liebt ihn, sie liebt sie – ganz einfach? Für ältere Menschen ist e… | |
taz am Wochenende: Herr Pulver, gibt es eigentlich ein ‚normales Alter‘ für | |
ein Coming-out als schwuler Mann? | |
Marco Pulver: Nein, das gibt es nicht. Wir haben bei uns mehrere | |
Coming-out-Gruppen mit ganz verschiedenen Altersstufen. | |
Braucht man heute überhaupt noch ein Coming-out, also ein bewusstes | |
Öffentlichmachen der eigenen sexuellen Präferenz? | |
Ja, denn das Coming-out ist für die meisten LSBTI* immer noch ein zentrales | |
Ereignis. | |
Ist ein Coming-out im vorangeschrittenen Alter schwieriger? | |
Ja, auf jeden Fall. Es ist viel leichter, wenn man jünger ist – und erst | |
recht, wenn man ein Elternhaus hat, in dem Homosexualität etwas | |
Selbstverständliches ist. Wenn man aber so aufwächst, dass man aufgrund | |
seiner sexuellen Orientierung stets Angst hat, sich zu offenbaren, dann | |
kommen im Laufe des Lebens immer mehr Menschen hinzu, vor denen man etwas | |
verheimlicht. | |
Das Coming-out zieht sich immer länger hin, weil der Druck wächst? | |
Genau. Bei anderen ist es so, dass sie gar nicht so richtig mitbekommen | |
haben, dass sie ein sexuelles Interesse am eigenen Geschlecht haben. | |
Kann das denn sein? | |
Ja, ich glaube ihnen das. Es war für sie eben nicht wirklich relevant oder | |
ihnen einfach nicht bewusst. Das Heterosexuelle ist ja erst mal das, was | |
alle machen. Manche entdecken ihr Begehren dann erst in einer bestimmten | |
Situation oder mit einem bestimmten Mann. Für manche ergibt sich das erst | |
im Laufe ihres Lebens, dann ist es gar nicht mehr so einfach, sein | |
Schwulsein zu leben. | |
Warum? | |
Häufig lernt man sich ja über Sexualität kennen. In Bars und Discos, da | |
geht es um sexuelle Attraktivität. Es gibt wenige Möglichkeiten für ältere | |
schwule Männer, einander kennenzulernen, wenn sie nicht besonders sexuell | |
aktiv sind. Und Männer, die aus der heterosexuellen Welt kommen, sind | |
meistens auch traditioneller, was den Umgang mit Sexualität angeht – für | |
sie ist zum Beispiel die Idee, mit Fremden Sex zu haben, eher ungewöhnlich. | |
Die Frage ist also einmal: Wie dockt man in der schwulen Welt an? Und | |
andererseits: Wie gehe ich mit meinen bisherigen Bindungen um? | |
Ja, das ist ein anderer Punkt. Ich habe hier Beratungen mit Familien, bei | |
denen sich der Mann geoutet hat und sein Leben in der bisherigen Form nicht | |
weiterführen will. Meistens ist ausschlaggebend, dass man jemanden | |
kennengelernt hat, weil man sich dann sicherer fühlt. Wenn das nicht der | |
Fall ist, ist es noch einmal schwieriger, sich aus dem Bisherigen zu lösen. | |
Aus Angst, alleine zu sein? | |
Ja, denn man hat sich ja etwas aufgebaut. Viele haben Angst, dass man | |
wieder von vorne anfängt oder gar nichts mehr hat, einsam ist. Und wenn man | |
Kinder hat … Oft denken die Männer dann: Ich warte, bis die Kinder aus der | |
Schule sind und ihr eigenes Leben beginnen können. | |
Die Pflicht ist getan. | |
Ja, und jetzt kann ich mein Leben leben. Aber die Frau ist dann zu diesem | |
Zeitpunkt großen Ängsten ausgesetzt – weshalb sich die Kinder meistens auf | |
ihre Seite stellen und fragen: „Wie kannst du unsere Mutter allein lassen?“ | |
Dazu kommt, dass die Kinder sagen: „Du hast uns unser ganzes Leben lang | |
etwas vorgespielt. Wir kennen dich gar nicht mehr.“ Es kann passieren, dass | |
sie sich total von dem Vater distanzieren. | |
Was raten Sie dann? | |
In einem Beratungsgespräch kann es nur darum gehen, ein Verständnis für die | |
Situation des jeweils anderen aufzubauen. Der Vater hat ja in der Regel | |
nicht deshalb etwas „vorgespielt“, weil ihm die Familie egal gewesen wäre. | |
Sondern im Gegenteil. | |
Ja, aber die Situation bleibt meistens trotzdem dramatisch. Das | |
Vertrauensverhältnis zwischen allen Beteiligten ist extrem gestört. Weshalb | |
es auch eher selten ist, dass man alle gemeinsam an einen Tisch bekommt. | |
Sind das die Gründe, warum es immer noch so viele Familienväter gibt, die | |
sich nicht outen? | |
Ja, das sind Hürden, die vielen zu hoch erscheinen. Außerdem: Die Beziehung | |
zu der eigenen Frau ist ja auch von Vertrautheit und einer Art von Liebe | |
geprägt. Man hat Angst, dass man so etwas nicht mehr findet. | |
Ist diese Angst berechtigt? | |
Eine schwule Bindung aufzubauen ist schon schwieriger. Denn es treffen | |
Männer aufeinander, von denen manche eher möglichst viele Männer | |
kennenlernen wollen. Es gibt daher auch andere Beziehungsmodelle und häufig | |
einen anderen Umgang mit sexueller Treue – das ist für Männer, die aus der | |
Hetero-Welt kommen, eher schwierig. | |
Es läuft nichts auf Schienen. | |
Das stimmt. Ich kenne aber auch Paare, die monogam leben – überhaupt | |
beobachte ich viele sehr enge Beziehungen, gerade bei Älteren. Es gibt aber | |
auch noch mehr Ängste: Kann ich mir eine völlig neue Identität aufbauen? | |
Mit entsprechendem Freundeskreis? Denn den verliert man meist auch. | |
Wird man denn umgekehrt in der schwulen Szene mit offenen Armen | |
aufgenommen? | |
Das kommt auch auf das Alter an – und auf wen man steht. Wenn man nur junge | |
Männer mag, kann das schwierig werden. | |
Aber stimmt diese Gräuelerzählung überhaupt noch, dass man als älterer | |
schwuler Mann quasi tot ist? | |
Kommt darauf an, was man sucht. Sex kann man überall haben, auch als | |
älterer Mann. Aber wenn es um ein wirkliches Kennenlernen geht, ist es eher | |
schwieriger. | |
28 Jun 2019 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
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