# taz.de -- Debatte Politische Zukunft der Türkei: Der rechte Boom | |
> In der Türkei beginnt keine linksliberale Ära. Die vergangenen | |
> Kommunalwahlen zeigen, dass Ultranationalisten die größten Erfolge | |
> feiern. | |
Bild: Selbst wenn Ekrem İmamoğlu auch die Neuwahlen gewinnt, steckt er in ein… | |
Wie ein Magnet. [1][Ekrem İmamoğlu zieht die Aufmerksamkeit an]. Ende März | |
holte er bei den Bürgermeisterwahlen in Istanbul die meisten Stimmen. | |
Seither ist er der Star der Opposition. Und [2][der Albtraum des | |
Präsidenten]. Recep Tayyip Erdoğan ließ die Wahlen in der Metropole | |
annullieren. Und jetzt fragen sich alle: Gewinnt İmamoğlu auch die | |
Neuwahlen Ende Juni? Und wenn ja, löst er Erdoğan 2023 an der Spitze des | |
türkisches Staates ab? Das Interesse, das İmamoğlu auslöst, ist berechtigt. | |
Nie wurde ein Oppositionspolitiker dem Autokraten so gefährlich. Zugleich | |
sorgt der Hype um den Kandidaten der kemalistischen CHP für ein schiefes | |
Bild der Entwicklungen in der Türkei. Linke und Liberale sprechen bereits | |
von einer neuen, weltoffenen und toleranten Epoche. Doch davon [3][kann | |
noch lange keine Rede sein]. | |
Den bedeutendsten Machtgewinn verzeichnen in der Türkei | |
ultranationalistische Kräfte. Ihre Erfolge bei den Kommunalwahlen blieben | |
weitgehend unbeachtet. Und noch wichtiger als das: Ihr illiberales, | |
ausgrenzendes Weltbild floriert – auch in den Reihen der Opposition. | |
Zunächst einmal wächst der Einfluss der Rechten direkt. Ihr Sammelbecken | |
ist traditionell die MHP. 2017 steckte die Partei noch in einer | |
existenziellen Krise. Sie zerfiel. Prominente Mitglieder stießen ein neues | |
Projekt an, von dem noch die Rede sein wird. Trotz Spaltung gewann die MHP | |
im März Dutzende Bürgermeisterposten hinzu, mehr als İmamoğlus CHP. Dieser | |
Erfolg spiegelt ihr wachsendes Gewicht in der Regierungskoalition wider. | |
Die MHP hat sich 2018 mit Erdoğans AKP zur „Volksallianz“ zusammengerauft. | |
Das zu erwähnen, ist wichtig, denn der Eindruck, Erdoğan würde die Türkei | |
allein regieren, trügt. Die AKP bekommt schon lange keine eigenen | |
Mehrheiten mehr. Die Rechten hätten wiederum Schwierigkeiten, die hohe | |
10-Prozent-Hürde zu überwinden. AKP und MHP sind aufeinander angewiesen. | |
Mehr denn je gilt aber: Erdoğans religiös-konservatives Lager verliert in | |
diesem Bund Macht, die Ultranationalisten gewinnen. Und sie zementieren den | |
Kurs des Präsidenten: Multilateralismus? Fremde Mächte wollen doch nur den | |
Aufstieg der Türkei sabotieren. Bürgerrechte? Sicherheit first. Die | |
Kurdenfrage? Lässt sich nur militärisch lösen. Erdoğan nährt dieses | |
Narrativ seit Jahren – allerdings als Opportunist, nicht als Ideologe. Es | |
ist nicht lange her, dass er den Friedensprozess mit den Kurden vorantrieb | |
und in der EU die Zukunft sah. Doch der Weg zurück zu dieser Agenda ist | |
versperrt, zumindest solange Erdoğan auf die Stimmen der MHP angewiesen | |
ist. | |
Was das bedeutet, war kurz nach jenen Wahlen im März zu beobachten: Erdoğan | |
warb für eine „Türkei-Allianz“. Regierung und Opposition sollten sich den | |
Herausforderungen der Nation gemeinsam stellen. Ein Anflug von Demut nach | |
dem Verlust der Großstädte? Nicht bei Erdoğan. Wahrscheinlicher ist, dass | |
er Alternativen zur Zwangsehe mit den Rechten testete. Doch der | |
Vorsitzende der MHP reagierte. Natürlich könne man versuchen, die Wogen | |
zwischen Regierung und Opposition zu glätten, sagte Devlet Bahçeli. Dabei | |
dürfe man aber „die Niedertracht und den Verrat“ nicht vergessen. | |
Bahçeli spielte auf informelle Wahlabsprachen von İmamoğlus CHP und der | |
prokurdischen HDP an. Die brandmarkte die AKP im Wahlkampf selbst als einen | |
Pakt mit Terroristen. Erdoğan bekräftigte sofort seine Allianz mit den | |
Ultranationalisten. Spätestens seit [4][der Entscheidung für Neuwahlen in | |
Istanbul], auf die besonders die MHP pochte, ist die Debatte über eine | |
„Türkei-Allianz“ tot. Dass Erdoğan jetzt im erneuten Ringen um Istanbul um | |
linke Kurden buhlt, ist nur ein Akt der Verzweiflung. In der Metropole | |
bekommt er anders keine Mehrheit. Wie lange die MHP das mitmacht? Höchstens | |
bis zum 23. Juni, dem Wahltag. Bahçeli hat sich Erdoğans rechte Hand | |
gekrallt und lässt sie nicht mehr los. | |
In den Reihen der Opposition ist Ähnliches zu beobachten. Als die MHP | |
zerfiel, entstand die „İyi-Partei“. Ihre Vorsitzende, Meral Akşener, | |
stellte sich zwar gegen den autoritären Aufstieg Erdoğans, aber nicht gegen | |
die rechte Ideologie ihrer alten Partei. Am 4. April postete sie ein Foto | |
von Alparslan Türkeş. An seinem 22. Todestag zollte sie dem Urvater der MHP | |
und den Gründer der Grauen Wölfe Respekt. Die Grauen Wölfe sind so etwas | |
wie der bewaffnete Arm der MHP. Sie zeichneten in den 1970er Jahren für | |
Morde an linken Aktivisten und Intellektuellen verantwortlich. | |
So wie die MHP ein Bündnis mit der AKP geschlossen hatte, so verbrüderte | |
sich die İyi-Partei mit der CHP. Ein wundersames Bündnis, schließlich gilt | |
die CHP in Deutschland als „Mitte-links“. Diese Labels passten aber nie. | |
Die CHP ist die Partei Atatürks. Der Republikgründer ist für seinen | |
Laizismus bekannt. Doch er ist auch für die Unterdrückung von Minderheiten | |
verantwortlich, etablierte einen Einparteienkult und bekämpfte | |
Gewerkschaften. Dieses Erbe schleppt seine Partei noch mit sich herum. | |
## Die CHP trägt zum Boom der Rechten bei | |
Die türkische Opposition ist nicht der weltoffene, liberale Gegenpol, für | |
den sie im Ausland oft gehalten wird. Der Autor Halil Karaveli beschreibt | |
in seinem Buch „Why Turkey is Authoritarian“, wie Beobachter die Dynamik | |
türkischer Politik meist als Kampf der Kulturen deuten: Säkularismus gegen | |
Islamismus. Diese Sichtweise dominiert auch in Deutschland. Sie führt zu | |
einem unkritischen Blick auf die Gegner Erdoğans. In einem Kommentar für | |
die New York Times vertrat Karaveli eine steile These: Säkuralismus und | |
Islamismus sind in der Türkei die zwei Seiten derselben rechten Ideologie. | |
Damit tut er progressiven Köpfen der CHP unrecht. Doch es lässt sich kaum | |
bestreiten: Die CHP trägt zum Boom der Rechten bei. | |
Selbst wenn İmamoğlu auch die Neuwahlen gewinnt und zum großen | |
Erdoğan-Herausforderer erwächst, er würde 2023 in einer vertrackten Lage | |
stecken. Ohne die rechte İyi-Partei hätte er keine Chance, den Präsidenten | |
zu stürzen. | |
6 Jun 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Portraet-des-Istanbuler-Buergermeisters/!5594513 | |
[2] /Essay-zur-Wahlwiederholung-in-Istanbul/!5593564 | |
[3] /Interview-Buergermeisterwahl-Istanbul/!5596249 | |
[4] /Essay-zur-Wahlwiederholung-in-Istanbul/!5593546 | |
## AUTOREN | |
Issio Ehrich | |
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