# taz.de -- Wahlwiederholung in Istanbul: Warum Erdoğan Istanbul braucht | |
> Präsident Erdoğan klammert sich nach der verlorenen Bürgermeisterwahl mit | |
> aller Macht an Istanbul. Dabei setzt er viel aufs Spiel. | |
Bild: Erdoğan gab den Wähler*innen die Botschaft: Ihr wählt nicht die Kandid… | |
Bei den Wahlen am 31. März geschah etwas, was Erdoğan nicht für möglich | |
gehalten hatte, auch wenn es sich bereits angedeutet hatte: Die beiden | |
Metropolregionen Ankara und Istanbul gingen an die Kandidaten des von der | |
CHP geführten Oppositionsbündnisses. Dass die AKP Ankara verlieren würde, | |
hatten viele vorausgesehen, doch dass auch Istanbul verlorenging, wo er mit | |
Binali Yıldırım als Kandidaten seinen größten Trumpf ausgespielt hatte, war | |
ein Schock für ihn. | |
Mit Ekrem İmamoğlu hatte ein noch wenige Monate zuvor praktisch unbekannter | |
Bezirksbürgermeister Istanbul gewonnen, die Stadt, der Erdoğan in tiefer | |
Leidenschaft verbunden ist. Da er sich derart in den Vordergrund gespielt | |
hatte, fiel niemandem auf, dass der Besiegte gar nicht er war, sondern | |
Binali Yıldırım. Vor Recep Tayyip Erdoğan war noch kein Präsident in der | |
Türkei mit einer derartigen Fülle an politischer Macht ausgestattet. Warum | |
konnte Erdoğan die Ergebnisse der Kommunalwahl in Istanbul dennoch nicht | |
hinnehmen? | |
Er hätte doch mit seiner Macht außer Konkurrenz dem neuen Bürgermeister | |
gratulieren und seine ständig im Munde geführte Liebe zu Istanbul unter | |
Beweis stellen können, indem er auch mit einem Bürgermeister von der | |
Opposition harmonisch zusammenarbeitet. Damit hätte er allen, die ihn | |
autoritärer Herrschaft bezichtigen, eine starke Antwort verpasst. „Heyyy | |
Welt“, hätte er sagen können, „Ich soll autoritär sein? Habt ihr nicht | |
gesehen, wie ich meine Lieblingsstadt der rivalisierenden Partei überlassen | |
habe? Was wollt ihr noch mehr?“ | |
Stattdessen beugte sich der Hohe Wahlrat fünf Wochen nach dem Wahlsieg der | |
Opposition dem Druck der AKP und annullierte die Bürgermeisterwahl in | |
Istanbul. Warum war Erdoğan trotz seiner Macht nicht imstande, die | |
Wahlergebnisse zu akzeptieren? | |
## Alle Machtzentren innerhalb der Partei beseitigt | |
Beantworten wir zunächst die Frage, warum Erdoğan sich persönlich für die | |
Kommunen engagiert hatte, die doch im Grunde kaum noch über Kompetenzen | |
verfügen. Die Antwort ist einfach: Er traut seiner eigenen Partei nicht. Es | |
ist bekannt, dass in der AKP-Organisation, die aufgrund Erdoğans harscher | |
Autorität nichts durchsickern lässt, auf allen Ebenen diverse | |
Interessenkonflikte herrschen. Erdoğan überwand jede parteiinterne Krise, | |
indem er alle potenziellen Machtzentren neben sich, und seien sie auch noch | |
so winzig, entfernte. | |
Inzwischen ist ihm allerdings klar geworden, dass die Qualität der ihm | |
verbliebenen Getreuen hinten und vorn nicht reicht. Deshalb ließ er auf den | |
Wahlkampfkundgebungen und in den Fernsehsendungen vor den Wahlen am 31. | |
März nicht die jeweiligen Kandidaten zu Wort kommen, sondern gab den | |
Wähler*innen die Botschaft: Ihr wählt nicht sie, sondern mich. | |
Darüber war sich die AKP-Wählerschaft ohnehin im Klaren und nutzte die | |
Kundgebungen, um ihm ihre Anliegen direkt vorzutragen. Sie erhielt | |
ungewöhnliche Antworten. Beschäftigten bei Subunternehmen, die ihm aus der | |
Menge heraus ihre Forderungen zuriefen, Lehrer*innen, die keine Stelle | |
bekommen hatten, Menschen, die sich über die Teuerung der | |
Lebenshaltungskosten beschwerten, entgegnete Erdoğan: „Für diese Dinge bin | |
ich nicht euer Ansprechpartner!“ Damit enttäuschte er ungewollt die | |
Hoffnung, die seine Wählerschaft in ihn und seine Macht gesetzt hatte. | |
Als auf einer Kundgebung die Kartoffel- und Zwiebelpreise angesprochen | |
wurden, hielt er den Leuten gar entgegen: „Wisst ihr eigentlich, was eine | |
Patrone kostet?“ Deutlicher konnte die Kluft zwischen den Prioritäten der | |
Bürger*innen und seinen eigenen nicht zutage treten. Er war nicht länger | |
der Hoffnungsträger der Verzweifelten, der Mann, der sich um jene kümmerte, | |
die niemanden hatten. | |
## Erdoğan will seine Überlegenheit zurückholen | |
Erdoğans Geschichte hatte 1994 mit der Wahl zum Oberbürgermeister in | |
Istanbul begonnen, deshalb hatte er sich bis zum 31. März so stark für die | |
Stadt eingesetzt. Der Verlust von Istanbul bedeutet natürlich auch den | |
Verlust der enormen finanziellen Ressourcen, die diese bevölkerungsreichste | |
Metropole des Landes birgt. Die Ausgaben und Spenden der Istanbuler Kommune | |
belegen, wie die Stadt und ihre Betriebe für die Finanzierung der AKP als | |
politische Partei benutzt worden waren. Doch Geld findet sich immer, es ist | |
unwahrscheinlich, dass dies der Hauptgrund ist. | |
Dass İmamoğlu trotz aller Widrigkeiten die Wahl gewinnen konnte, schlug | |
vielmehr unvermutet eine mächtige Bresche in die pessimistische Annahme, | |
Wahlen hätten ihre Funktion eingebüßt und Erdoğan sei unbesiegbar. Jetzt | |
will sich Erdoğan diese Überlegenheit zurückholen, indem er Istanbul nicht | |
hergibt. Nicht die Wahlschlappe aber, sondern die Fehler, die Erdoğan sich | |
vor aller Augen leistete, waren der Anfang vom Ende. Denn als er die Stadt, | |
an die er sich mit aller Macht geklammert hatte, verlor, geriet Erdoğan in | |
Panik und machte eine Reihe dramatischer Fehler, womit er zeigte, dass er | |
nicht bloß die Kommunalwahlen verloren hatte, sondern zugleich die | |
überlegene Wirkungsmacht, über die er in der landesweiten Politik verfügt | |
hatte. | |
Vor und nach den Kommunalwahlen verbreiteten Erdoğan und seine Mitarbeiter | |
mehrfach, die Kommunen seien längst pleite, selbst wo die Opposition | |
gewänne, würde sie nicht in der Lage sein, irgend etwas umzusetzen. Damit | |
gaben sie zu, die Kommunen jahrelang schlecht geführt und mit dem Geld der | |
Bürger*innen schlecht gewirtschaftet zu haben, und drohten: „Wenn ihr uns | |
jetzt abwählt, machen wir euch das Leben zum Gefängnis.“ | |
Auch diese Drohung in Richtung Opposition ging nach hinten los. Denn | |
schwerer wog das Eingeständnis, dass die AKP-Verwaltung in den Kommunen | |
schlecht gewirtschaftet hatte. Erdoğan gab nicht nur seinen | |
Widersacher*innen, sondern auch den eigenen Wähler*innen zu verstehen: Das | |
Scheitern der Kommunen, in denen die Oppositionsparteien gewannen, ist mir | |
zuzuschreiben. | |
## Verhindern, dass sein Regime stürzt | |
Bezeichnend war auch, dass Erdoğan zur Rede am Wahlabend nur mit seiner | |
Ehefrau auf den Balkon trat. Damit brachte er deutlich zum Ausdruck, wie | |
herausgehoben aus seiner Partei er sich empfindet und wie wenig er der | |
Befähigung ihrer Mitglieder vertraut. Er bekannte sich nicht einmal zu der | |
Niederlage, die er auf ihren Rücken eingefahren hatte. Gleich danach | |
tauchte er ab. | |
Erst später trat er in der Istanbuler Çamlıca-Moschee wieder auf, deren Bau | |
er gegen alles und alle eigensinnig durchgedrückt hatte. Als er nach dem | |
Gebet zur Menge sprach, nannte er den neu gewählten CHP-Bürgermeister | |
İmamoğlu eine „lahme Ente“. Er wies darauf hin, dass seine Partei die | |
Mehrheit im Stadtrat stelle, und kündigte an, er würde İmamoğlu nicht zum | |
Zuge kommen lassen. Er wollte also die 16 Millionen Einwohner*innen von | |
Istanbul abstrafen und ihnen das Leben schwer machen. | |
Das AKP-Wahlkampfteam kopierte derweil panisch İmamoğlus Parolen und | |
Wahlkampfthemen. Sie kauften bei Google-Ads die Rechte am Namen Ekrem | |
İmamoğlu, damit bei jeder Suche nach dem Namen „İmamoğlu“ eine Verbindu… | |
zu ihrer eigenen Werbung hergestellt wird. So trat die Ausweglosigkeit der | |
AKP zutage. | |
Kurz, Erdoğan klammert sich an Istanbul, um zu verhindern, dass sein Regime | |
des Pessimismus, der Ausweglosigkeit und der Krise stürzt, das er im Laufe | |
der letzten Jahre errichtet hat. Er versucht, seine Wirkungsmacht | |
zurückzugewinnen, auch wenn die eigene Wählerschaft dann womöglich seine | |
Legitimität hinterfragt. Paradoxerweise untergräbt alles, was er | |
unternimmt, um die Stadt zu gewinnen, die Zuversicht seiner Wähler*innen | |
wie auch seine eigene Legitimität nur immer weiter. | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
27 May 2019 | |
## AUTOREN | |
Ayşe Çavdar | |
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