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# taz.de -- Kurdisches „Aufstandsgebiet“: Der gute Mann von Çukurca
> Im Südostzipfel der Türkei hat mal die PKK die Überhand, mal das Militär.
> Und dann ist da noch Landrat Temel Ayca, der für Normalität kämpft.
Bild: Landrat Temel Ayca an seinem Amtssitz in Çukurca
Çukurca taz | Bereits der erste Blick nach der Ankunft in Çukurca offenbart
Ungewöhnliches. Kaum aus dem Bus gestiegen, der mühsam die steile Rampe ins
Zentrum des Ortes erklommen hat, steht man vor einer ungewöhnlichen
Installation. Es ist eine drei Meter hohe Wand bunter Buchrücken, türkische
Autoren gemischt mit internationalen Klassikern, die direkt an der
Hauptstraße aufgestellt ist, 50 Meter lang wie am Eingang zu einer großen
Buchmesse.
Doch hinter der Buchinstallation findet keine Ausstellung statt,
stattdessen wird dort regiert. Die Buchrücken stehen am Eingang zum
offiziellen Sitz des Kaymakams (Landrates). Ein Gebäude, das in Çukurca
zwar relativ bescheidene Ausmaße hat, aber dennoch den Staat symbolisiert.
Die Buchrücken sind ein Statement: Für gewöhnlich sind in kurdischen
Städten im Südosten der Türkei die Quartiere der staatlichen Stellen mit
Stacheldraht und Sandsäcken abgesichert. Hier nimmt man dafür Kulturgüter.
Ein paar Meter weiter ist ein altes Steinhaus sorgfältig restauriert
worden. Es gibt ein großes, offenes Café im Souterrain und Sonnenschirme
entlang der Straße. Ein Café, wie man es in den hippen Stadtteilen von
Istanbul findet, aber niemals in einer kurdischen Stadt an der irakischen
Grenze erwarten würde. Und noch etwas fällt auf: Die Menschen schlendern
ganz entspannt durch ihr Städtchen, obwohl auch in Çukurca, wie in den
anderen kurdischen Städten in der Türkei, schwer bewaffnete Gendarmerie
durch die Straßen patrouilliert und auf allen Bergspitzen um den Ort herum
Militärposten wie antike Wehrtürme in den Himmel ragen.
Offenbar haben die 17.000 Einwohner von Çukurca keine Angst. Das ist
ungewöhnlich, denn in dieser Region des Landes, im Südostzipfel entlang der
irakischen und iranischen Grenze, wird seit Jahrzehnten gekämpft. Hier
hatte einmal die kurdische PKK die Oberhand, dann wieder die Armee.
## Wie ein typischer Bürokrat
Erst in den letzten zwei Wochen sind in der Provinz Hakkari, zu der Çukurca
gehört, vier türkische Soldaten im Gefecht mit der PKK getötet worden. Die
Leidtragenden des Krieges sind fast immer Angehörige der Zivilbevölkerung,
die von beiden Seiten unter Druck gesetzt wird. Doch offene Repression
findet in Çukurca nicht mehr statt. Das Militär verhält sich neutral, es
gibt keine Schikanen, das öffentliche Leben verläuft weitgehend ungestört.
Verantwortlich für diese vergleichsweise entspannte Atmosphäre im
kurdischen „Aufstandsgebiet“ ist der derzeit in Çukurca amtierende Landrat
Temel Ayca. Der Mann, der auf den ersten Blick wie ein typischer Bürokrat
wirkt, ist erst 37 Jahre alt und Absolvent der renommierten Bilkent
University in Ankara. Der Politologe hat in Frankreich und im belgischen
Brügge studiert, seine Masterarbeit hat er über die EU-Türkei-Beziehungen
geschrieben.
Zurückgekehrt ist er mit klaren Vorstellungen darüber, wie man eine
leidende Region befriedet. Mit Rückendeckung von oben versucht er in
Çukurca mit Hilfe diverser Projekte, etwa einer Volkshochschule für Frauen
oder einer Agrargenossenschaft, die Herzen und Köpfe der
türkisch-kurdischen Bevölkerung zu gewinnen.
Zunächst erinnerte die Begrüßung unserer kleinen ausländischen
Besuchergruppe vor dem Café allerdings noch an die in der Gegend gewohnten
Muster: Umgeben von acht schwer bewaffneten Bodyguards erscheint Temel Bey
(Herr Temel, wie er in Cukurca genannt wird) zu einem kurzen Plausch und
verschwindet dann wieder in seinem Office – allerdings nicht ohne eine
Einladung zum Abendessen zu hinterlassen. Zu diesem erscheint er dann ein
paar Stunden später, mit Frau und Kind, die Bodyguards außer Sichtweite.
In der Türkei gelten Posten für Staatsbeamte wie der in Çukurca, Şemdinli
und ein paar anderen Orten im gefürchteten Länderdreieck als
Himmelfahrtskommandos. Die Amtsträger sind für die PKK erstrangige
Anschlagsziele. Doch Temel Bey möchte diese militaristische Logik
durchbrechen, Çukurca für die Bevölkerung und für Besucher öffnen, um so
schrittweise eine neue Normalität zu etablieren.
## Der Weg zur Normalität ist noch weit
Ein Vorgehen, das nicht ohne Risiko ist: Anfang der 2000er-Jahre wurde der
damalige Polizeichef der kurdischen Metropole Diyarbakır, Gaffar Okkan, der
ein ähnliches Programm verfolgte, aus dem Hinterhalt erschossen – nur eines
von vielen unaufgeklärten Attentaten in der Region.
Obwohl sich in Çukurca selbst schon vieles verändert hat, ist der Weg zur
Normalität noch weit. Es beginnt bereits mit der Anreise: Von Van aus, der
letzten Großstadt vor der irakischen Grenze, sind es bis hierhin knapp 300
Kilometer, die über schneebedeckte Gebirgspässe und tiefe Schluchten
zurückzulegen sind. Die Straße führt immer nach Süden, die letzten 100
Kilometer entlang des Gebirgsflusses Zap, der bei Çukurca zunächst auf
irakisches Territorium trifft und weiter südlich in den Tigris mündet.
Schon 50 Kilometer vor der Provinzhauptstadt Hakkari taucht der erste große
Kontrollposten des Militärs auf, dem bis zu unserem Ziel noch mindestens
sechs weitere folgen. Doch je näher man Çukurca kommt, umso
entgegenkommender sind die Soldaten. Sie wissen, dass der Kaymakam Temel
Bey die Region für Besucher öffnen will.
Das Anliegen dieser neuen Politik ist der Versuch, den Bewohnern ihre
Lebensgrundlage zurückzugeben. Konkret bedeutet das, Land- und
Viehwirtschaft, die aufgrund militärischer Sperrgebiete weitgehend
unmöglich geworden war, wieder zuzulassen und den Bauern dabei eine gewisse
Starthilfe zu geben.
Mustafa* ist ein junger Agraringenieur, der zum Team des Kaymakam gehört
und die Bauern dabei unterstützt, den früher in der Region weit
verbreiteten Reisanbau zu rekultivieren. Die Region verfügt über viel
Wasser aus den Bergen und in den Tälern herrscht ein Mikroklima, das
Reisanbau ermöglicht. Zunächst müssen brachliegende Felder wieder
hergerichtet, die Mauern der terrassierten Anbauflächen erneuert und vor
allem die alten Wasserkanäle repariert werden.
## Das Vertrauen zurückgewinnen
„Wir haben eine Stiftung gegründet, die den Bauern ihre Erzeugnisse zu
einem garantierten Preis abnimmt“, erzählt Mustafa, „sonst würde sich der
Aufwand nicht lohnen“. Da die alte Subsistenzwirtschaft zerstört ist, wurde
mit Unterstützung des Landrats das Label „Zap Products“ unter dem Dach
einer Stiftung gegründet. Über das Internet (www.zapvadisi.com) und
Mundpropanda werden nun regionale Produkte von ökologisch angebautem Reis
über selbst produziertes Sesamöl (Tahin) bis hin zu garantiert
unbehandelten Walnüssen türkeiweit vertrieben.
Nach über 30 Jahren Repression ist es allerdings nicht so einfach, das
Vertrauen der Menschen zu gewinnen. „Wir haben noch zu wenige Produzenten,
die mit der Stiftung arbeiten“, gibt der Kaymakam zu, „wir brauchen mehr
Produkte, um einen professionellen, landesweiten Verkauf gewährleisten zu
können.“
Einer, der bislang keinen Vertrag mit der Stiftung abgeschlossen hat und
seine Felder lieber weiterhin in Eigenregie bewirtschaftet, ist Ali, ein
45-jähriger Bauer, der auf eine für die Region typische Biografie
zurückblickt. „Unser Dorf“, es liegt etwa 30 Kilometer von Çukurca entfer…
in den Bergen, „mussten wir vor 25 Jahren verlassen“, erzählt er. „Das
Militär kam und sagte, in 24 Stunden seid ihr weg.“ Ali steigen heute noch
Tränen in die Augen, wenn er von seinem alten Dorf erzählt. „Wir hatten
alles, was wir brauchten“, erinnert er sich. „Nur Tee, Zucker und ein paar
Kleidungsstücke mussten wir kaufen. Das haben wir im Irak besorgt, es war
dort viel billiger.“
Nachdem Ali und seine Familie das Dorf verlassen mussten, und mittellos in
Çukurca landeten, musste er sich notgedrungen als „Korucu“ (Dorfschützer)
beim Militär verdingen, eine kurdische Miliz, die das Militär gegen die PKK
unterstützen soll. „Zwölf Jahre habe ich das gemacht“, sagt Ali, „wovon
hätten wir sonst leben sollen?“
## Die Kämpfe dauern an
Mittlerweile haben Ali und seine Brüder sich in Çukurca ein neues Haus
gebaut, in dem die Großfamilie, angefangen von den alten Eltern über die
Brüder mit ihren Ehefrauen und den insgesamt 15 Kindern, unter einem Dach
lebt. Seitdem er nicht mehr als „Korucu“ arbeitet, hat Ali einen Hilfsjob
im staatlichen Krankenhaus. Außerdem pachtete er einige kleine Felder in
der unmittelbaren Umgebung und schaffte sich ein paar Tiere an.
Ali ist angetan von dem, was der Temel Bey in Çukurca geschafft hat, doch
er bleibt skeptisch: Was, wenn der Kaykamam geht und ein neuer kommt? Wird
er dann die Politik von Temel Bey fortsetzen? Noch dauern die
Kampfhandlungen an und von einem normalen Leben für die kurdische
Bevölkerung kann nicht die Rede sein.
Ali weiß, dass in seinem alten Dorf die Walnussbäume in diesem Jahr
besonders viele Früchte tragen. Doch er darf nicht dorthin, um sie zu
ernten. „Warum nicht“, fragt er aufgebracht, „immer noch ist alles
verboten.“ Auch auf die irakische Seite der Grenze dürfen die Dörfler
nicht, obgleich dort Verwandte von ihnen leben und der kleine Schmuggel vom
Nordirak in die Türkei früher zum Alltag der Leute gehörte.
Doch im Dezember 2011 hatte das Militär eine Gruppe Dörfler etwas westlich
von Çukurca für eine Einheit der PKK gehalten und 35 von ihnen mit einem
Luftangriff getötet. Sie waren mit ihren beladenen Eseln vom Irak aus auf
dem Rückweg zu ihrem Dorf in der Türkei. Kein Mensch traut sich seitdem
mehr auf die andere Seite. „Wir wollen endlich unsere Freiheit wieder
haben“, sagt Ali. „Genug ist genug.“
## Es wird geschossen, gebombt
Doch ein Ende des Krieges zwischen der PKK und der türkischen Armee ist
nicht in Sicht. Seitdem die Friedensgespräche im Sommer 2015
zusammenbrachen, weil beide Seiten letztlich der entscheidende Wille zur
Beendigung des Konfliktes fehlte, wird wieder geschossen und gebombt.
Nachdem die PKK im Winter 2015/2016 mittels bewaffneter Gruppen die
Innenstädte mehrerer kurdischer Städte „befreite“, um dort autonome Zonen
nach syrischem Vorbild zu schaffen, schlug die Armee (nach anfänglichem
Zögern) hart zurück.
Die Provokation der PKK führte dazu, dass heute Teile der Altstadt von
Diyarbakır und die Innenstädte von Cizre, Şırnak und Nusaybin in Trümmern
liegen und hunderte kurdischer Bürgermeister und Aktivisten der HDP im
Gefängnis sitzen. Seitdem konzentriert sich die PKK wieder auf Nordsyrien
und in den kurdischen Gebieten der Türkei herrscht eine Art Friedhofsruhe.
Entwicklungen, wie sie der Kaymakam in Çukurca angestoßen hat, sind erste
Anzeichen, die davon künden, dass die seit dem Desaster vom Winter 2015/16
andauernde bleierne Zeit langsam zu Ende gehen könnte. Dazu haben auch die
Kommunalwahlen am 31. März beigetragen. Gerade dort, wo die Regierung in
Folge der Kämpfe 2015/2016 die gewählten kurdischen Bürgermeister wegen
„Zusammenarbeit mit der Terrororganisation“ abgesetzt und durch
Staatskommissare ersetzt hatte, wurden nun durchweg VertreterInnen der HDP
als Bürgermeister gewählt.
Eine seltene Ausnahme bildete Çukurca: In Anerkennung der Arbeit des
Landrates und in der Hoffnung, dass diese fortgesetzt werden möge, wählten
die Bürger von Çukurca, die bei der Kommunalwahl 2014 noch zu 80 Prozent
HDP gewählt hatten, dieses Mal den Kandidaten der Regierungspartei AKP.
Anfang Mai erlebte Çukurca dann den Höhepunkt der Öffnungspolitik. Die
Stadt hatte zu einem Festival eingeladen und mehr als 300 überwiegend junge
Leute aus allen Teilen der Türkei kamen in den abgelegenen Ort. Am Ufer des
wilden Zap war eine große Fläche planiert worden für die Zelte der
Besucher. Statt tödlicher Auseinandersetzungen wurde Çukurca für ein paar
Tage zum Ort friedlicher Wettkämpfe. Mit Kanurennen auf dem Fluss und
Kletterpartien in den Bergen. „So“, meinte einer der Organisatoren, „kön…
die Zukunft Çukurcas aussehen.
*Die kursiv gesetzten Personen sind anonymisiert.
12 May 2019
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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