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# taz.de -- Zeitgeschichtliches Forum Leipzig: Klüngel, Kirche, Karneval
> Mit Blasmusik und Kleingärtnern: In Leipzig setzt sich eine Ausstellung
> mit der Liebe zum Verein und der Sehnsucht nach Geselligkeit auseinander.
Bild: Bild des Karnevalsvereins „Die Roten Funken“ in der Ausstellung „Me…
„Der heutige Mensch ist ja unzweifelhaft neben vielem anderen ein
Vereinsmensch“, steht in großen Lettern an der Wand der Ausstellung „Mein
Verein“. Doch ist das Zitat von Max Weber nicht ganz vollständig. Der Satz
aus dem Jahr 1910 geht so weiter: „in einem fürchterlichen nie geahnten
Maße“. Und wie sieht dieses Maß des Vereinsmenschen in Deutschland heute
aus – immer noch so fürchterlich?
600.000 Vereine gibt es in Deutschland, fast jeder zweite Deutsche ist in
einem davon Mitglied. Wie unterschiedlich sich diese Vereine gestalten,
lässt sich aus der Geräuschkulisse in den knapp bemessenen
Ausstellungsräumen im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig erahnen. In der
einen Ecke diskutiert Loriot darüber, wie sich die Themen „Frau“ und
„Umwelt“ mit dem „Karnevalsgedanken“ gleichberechtigt im Vereinsnamen
verknüpfen lassen. Aus der anderen Ecke ertönt Blasmusik vom Schützenfest,
aus der dritten Stadiongesänge von Fußballfans.
„Geselligkeit und Gemeinschaft“, ein Überthema der Ausstellung, beschreibt
die größte Motivation für die Organisation im Verein. Dass diese
Gemeinschaft vor allem bei Schützen- und anderen Vereinen, die sich als
Traditionsbewahrer heimatlichen Brauchtums verstehen, auch ausschließend
wirken kann, schneidet die Ausstellung nur kurz an, in dem sie halb
versteckt zwei Beispiele erzählt: Der schwule Schützenkönig Dirk Winter
will 2011 als Königin seinen Partner mit auf den Thron nehmen, aber darf
nicht – das widerspräche den christlichen Grundregeln des Vereins, hieß es.
## Kein muslimischer Schützenkönig
Und als 2014 der türkischstämmige Muslim Mithat Gedik in Werl-Sönnern
Schützenkönig wird, will ihn der Dachverband zum Abdanken bewegen, da er
kein Christ ist. Erst zweieinhalb Jahre später wurde nach einem Sturm der
Entrüstung die Satzung geändert. Sowohl Kirchenvertreter als auch
politische Amtsträger wie Bürgermeister sind gerade in Schützenvereinen
stark eingebunden.
„Kölsch, Kirche, Karneval, Klüngel“ sind die vier Ks der Kölner
Karnevalsvereine. Obwohl Vereine wie „Die Roten Funken“ gegründet wurden,
um sich anarchisch über militärischen Drill und staatliche Ordnung lustig
zu machen, sind viele Karnevalsvereine längst geeignete Orte, um sich mit
Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft zu vernetzen.
Das größte Gemeinschaftsgefühl vermitteln Fußballvereine. „Schalke 04 ist
unsere Religion“, sagt ein Fan im Ausstellungsfilm. Es gibt Mitglieder, die
im blau-weißen Trikot getauft und unter einem Schalke-Grabstein beerdigt
werden. Der von Bergleuten gegründete Verein ist heute der größte Klub der
Bundesliga, der seine Vereinsstruktur erfolgreich verteidigt. Dass gerade
Leipzig einen Bundesligaverein hat, in dem die Fans keine Mitglieder werden
dürfen und der zum Symbol der Kommerzialisierung des Sports geworden ist,
wird in der Ausstellung nur in einem Halbsatz angedeutet.
## Die SED und die Kleingärten
Etwas ausführlicher wird der Unterschied zwischen DDR und BRD beleuchtet –
anhand von Kleingärten. In der DDR sollten von der SED gelenkte
Massenorganisationen das Gemeinschaftsgefühl stärken, selbst organisierte
Vereine sollte es nicht geben. Den Kleingärtnern begegnet die SED anfangs
mit Misstrauen, da sie Individualismus und Kleinbürgerlichkeit darstellten.
Doch dann vereinnahmte sie die Kleingärtner, indem sie eine zentrale Rolle
der Lebensmittelproduktion übernehmen sollten. Der staatliche Verband
fordert 1970, dass auf 100 Quadratmetern Gartenfläche mehr als 100
Kilogramm Obst und Gemüse zu ernten seien. Von dieser staatlich
angeordneten Versorgung sind die bei jungen Großstädtern inzwischen wieder
hippen Kleingärten heute weit entfernt.
Neben Geselligkeit haben Vereine auch die Funktion des sozialen
Engagements. Projektbezogene Fördervereine werden immer mehr. Welche
gesellschaftlichen Aufgaben ehrenamtliche Vereine übernehmen können und
sollen, lässt sich am Beispiel der Tafeln absehen. Etwa 60.000 Menschen
sind dort ehrenamtlich tätig, um Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen.
Doch wäre die Daseinsvorsorge nicht Aufgabe des Staates, der sich hier auf
dem Einsatz der Bürger ausruhe, anstatt Armut wirkungsvoller zu bekämpfen,
fragen die Kritiker.
Aktuelle Fragen wie der nach der Gemeinnützigkeit von politisch agierenden
Vereinen – wie Attac, dem diese nun entzogen wurde – werden in der
Ausstellung nicht gestellt. Stattdessen ist in einer Videomontage zu sehen,
wie sehr der Staat auf Engagement seiner Bürger setzt: Jeder
Bundespräsident der letzten Jahrzehnte dankte in seiner Neujahrsansprache
den Ehrenamtlichen. Das sah auch schon Max Weber: Dass die Herrschenden den
Vereinsmenschen lieben.
2 Apr 2019
## AUTOREN
Juliane Streich
## TAGS
Zeitgeschichtliches Forum Leipzig
Ausstellung
Vereine
Fußballvereine
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Schützenvereine
Kleingarten
Schaffermahl
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