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# taz.de -- Brexit-Folgen in Wales: Bei den Abgehängten von Newport
> Einst war das walisische Newport eine stolze Labour-Hochburg. Jetzt liegt
> die Stadt am Boden und wählt einen neuen Parlamentsabgeordneten.
Bild: Newport ist sicher nicht die aufregendste Stadt in Großbritannien
Newport taz | „Die Stadt ist eine Zumutung. Mit Brettern zugenagelte Läden,
dreckig, gammelig“ schimpft die 75-jährige Frau mitten auf der
Haupteinkaufsstraße. Mrs Bateman, wie sie zitiert werden will, erinnert
sich an frühere Zeiten: Einst exportierten Händler aus dem Handelshafen
Newport Kohle und Stahl über den Fluss Usk in die ganze Welt. Die stählerne
Transportbrücke aus dem Jahr 1906 steht bis heute für den alten Glanz.
Heute ist der Hafen geschlossen. Viele Geschäfte in der Hauptstraße stehen
schon lange leer. Sogar das geschichtsträchtige Westgate Hotel, Schauplatz
des großen Volksaufstandes der Chartisten-Bürgerrechtsbewegung des 19.
Jahrhundert, ist zugebrettert.
Am 19. Januar schloss auch das stadteigene Kaufhaus Wildings aus dem Jahr
1874 zum letzten Mal seine Pforten. „Zu vermieten“ steht auf einem riesigen
Schild über dem Eingang, auf einer Tafel darunter der Grund: „Die Zeiten
haben sich geändert. Die stolze Stadt Newport ist nicht mehr die große
Handelsstadt, welche sie einst war.“ Zum Einkaufen fährt man in Newport
heute an den Stadtrand, wo man umsonst parken kann und keine Obdachlosen
rumliegen, erzählt eine Frau.
Newport steht momentan im Brennpunkt britischer Politik. Zwei Tage vor der
Schließung von Wildings verstarb im Alter von 84 Jahren der Abgeordnete für
Newport West im britischen Unterhaus, Paul Flynn. Der Labour-Politiker
hatte 32 Jahre dem Ort gedient. Noch 2016 saß der Antimonarchist und
Atomkraftgegner in Jeremy Corbyns Schattenkabinett.
## Familientradition Labour
Nun, [1][mitten im Brexit-Chaos], wo im Unterhaus jede Stimme zählt, ist
Newport West ohne Stimme. Am 4. April wird neu gewählt. Ruth Jones, eine 30
Jahre als Physiotherapeutin arbeitende Gewerkschafterin, will Flynns
Nachfolge antreten. Bei der Ernennung als Labour-Kandidatin betonte Jones,
dass sie in Newport geboren und aufgewachsen sei und dass die Stadt die
Tradition der Chartisten und der Labour-Werte vertrete.
Das ist bei vielen Wählern auch Familientradition. Kleinladenbesitzerin
Bama Thevathos, 53, gesteht, dass sie gar nicht weiß, warum ihre Familie
immer Labour wählt, aber „es war eben schon immer so“. Rentner Ken Bryant,
69, hat schon ein rotes „Wählt Ruth Jones“-Schild vor sein Haus gesetzt,
und der 82 Jahre alte, nur als Ronnie bekannte ehemalige Stahlarbeiter am
Stammtisch der Kneipe gibt sich als lebenslanger Sozialist aus. „Die Tories
sind dafür verantwortlich, dass Sozialwohnungen verkauft wurden. Nun liegen
Menschen obdachlos auf Newports Straßen.“
Doch Labour kann bei dieser Nachwahl nicht einfach auf Tradition setzen. An
einer Bushaltestelle in einem Außenbezirk sagen zwei Über-60jährige, die
sich als Labourwähler bezeichnen, sie könnten nicht Corbyn wählen. „Er ist
ein Judenhasser“, behauptet die eine, als „Terroristen“ bezeichnet ihn der
andere.
Dagegen spricht Lehrerin Aysa Bidi, 38, von ihrer Liebe zum Labour-Führer.
„Labour ist am besten für alle hier, denn die Konservativen bemühen sich
nur um die Besserverdienenenden“, sagt Bidi, die einen schwarzen Hidschab
trägt und erzählt, wie sie nach dem Brexit-Referendum 2016 zum ersten Mal
in ihrem Leben auf der Straße angepöbelt wurde. „Wildfremde Menschen
schrien mir ‚Verpiss dich in dein Land!‘ hinterher. Ich bin aber hier
geboren und aufgewachsen.“ Nach dieser Erfahrung traue sie Corbyn in Sachen
Brexit nicht. „Orten wie Newport geht es nicht gut. Brexit wird dieser
Stadt massiv schaden.“
Dieser Zwiespalt ist überall in der Stadt zu spüren. 56 Prozent der Wähler
in Newport stimmten für den Brexit. Der verstorbene Abgeordnete Paul Flynn
aber war ein „Remainer“. Der 82-jährige Ronnie am Stammtisch schimpft: „…
Menschen wählten Brexit, weil sie glaubten, es würden ihnen dann besser
gehen, aber sie folgten nur den Lügen von Politikern.“ Eine der
Konsequenzen des Brexits für Newport könnte der Abzug von Airbus mit seinen
500 Arbeitsplätzen sein.
Clynt Walker, 54, Besitzer eines Imbisses, hat sogar die Brexit-Partei Ukip
gewählt. „Aber nur aus Protest“, betont er mehrmals. Diesmal geht seine
Stimme an die walisische Nationalpartei Plaid Cymru, weil Labour und Tories
für ihn nicht in Frage kämen. Er habe nichts gegen Ausländer, in der
Stadtmitte seien aber so viele, dass er sich fremd fühle.
Solche Meinungen versuchen bei dieser Nachwahl drei ultrarechte Parteien
auszukosten. Ukip führt dabei ihren neuen Stil vor, kontroverse Figuren
aufzustellen. In Newport kandidiert für Ukip der ehemalige schillernde
Tory-Geschäftsmann Neil Hamilton, in den 1990er Jahren Synonym für
Korruption bei den Konservativen und heute Ukip-Fraktionschef im
Regionalparlament von Wales. Seine Kandidatur passt zur neuen radikaleren
Ukip seit dem Abgang von Nigel Farage, mit jungen Mitgliedern aus der
Identitäten Bewegung. Keiner der in Newport befragten Wähler würde eine
solche Ukip wählen.
Wer durch die Straßen Newports zieht, sieht nur die roten
Ruth-Jones-Wahlplakate an Fenstern und vor Häusern. Aber in Newport geht es
nicht nur darum, wer gewählt wird, sondern ob die Menschen überhaupt noch
wählen. Frauen, die in diesem Wahlbezirk geboren sind etwa, haben die
fünftniedrigste Lebenserwartung in ganz England und Wales. Wird den Bürgern
das zentrale Labour-Wahlversprechen einer Umgehungsstraße zur Entlastung
der chronisch verstopften Autobahn helfen?
## Nicht wählen?
„Die Menschen hier brauchen eine Partei, die sich um sie kümmert“, sagt die
62-jährige Gail Gibson bei einer Zigarette vor ihrem Haus. „Es geht um gute
Schulen, gute Gesundheitsversorgung und mehr Investitionen, um jungen
Menschen zu helfen Arbeit zu finden.“ Nichts davon ist Thema in der
vierseitigen Wahl-Wurfsendung der Labour-Kandidatin – darin geht es um die
Umgehungsstraße, neue Geschäfte, öffentliche Toiletten.
Shia Edwards, 37, die ein karibisches Restaurant zwischen den
verschlossenen Läden auf der High Street führt, wird niemandem ihre Stimme
geben. Newport bezeichnet sie als „Dritte Welt“, „weil hier die Leute in
Pyjamas rumlaufen, drogenabhängig sind, und Frauen für wenig Geld auf den
Strich gehen, um zu überleben.“ Ihr 18-jähriger Assistent Christian Timmins
scherzt, es sei eine Wahl zwischen verschiedenen Arten Gift. „Wir bleiben
so oder so uns selber überlassen.“
Der 28 Jahre alte David Taylor, Künstlernamen „Misfit Media“ und „Dam De…
Visualz“, löst Newports Probleme auf seine Art: Er rappt in der leeren
Fußgängerzone. „Wo warst du, als ich dich brauchte, als mein Leben hässlich
wurde?“, singt er. „Die Leute fliegen aus der Schule, haben nichts zu
essen, versinken im Alkohol und Drogen und enden im Knast“, erzählt er in
einem anderen Song. Er hat sich gefangen, sagt er: Neben der Musik boxt er.
Der Gewinn aus seinen Boxkämpfen soll dieses Jahr an zwei Kinder mit
Downsyndrom gehen, sagt er. „Ich kann dir nicht sagen, welche Partei gut
oder schlecht ist. Politik interessiert mich nicht. Aber ich weiß, ich bin
selber Teil der Lösung.“
19 Mar 2019
## LINKS
[1] /Britisches-Parlament-streitet-ueber-Brexit/!5577779
## AUTOREN
Daniel Zylbersztajn
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