# taz.de -- HIV-Epidemie in Sibirien: Ein bisschen Leben | |
> Mindestens 1,2 Millionen Russen haben sich mit HIV infiziert, ein | |
> Großteil durch Drogenkonsum. Die Regierung verharmlost. | |
Bild: „Neues Leben“ heißt das Rehabilitationszentrum für Drogensüchtige … | |
Irkutsk taz | Nastja sitzt auf einem Sessel in ihrer Wohnung. Auf ihrem | |
Schoß die magere weiße Katze, die sie vor einigen Wochen beim Drogensuchen | |
im Wald gefunden und die sie „Syna“ genannt hat, Sohn. An der Wand hängen | |
Magazinausschnitte von Models mit teuren Taschen, Neujahrskarten mit | |
Heiligenbildern, daneben ein Pferdekalender aus dem Jahr 2014. Im | |
Eingangsbereich tropft nasse Wäsche. | |
„Die Katze hat seit Tagen nicht mehr gegessen, Pascha. Gestern war Julia da | |
und hat ihr Bratkartoffeln gemacht, aber sie wollte sie nicht. Also habe | |
ich sie aufgegessen.“ | |
Sie zündet sich eine Zigarette an. „Pascha, hörst du?“ | |
Pascha, ihr Bekannter, ein schlanker Kerl mit hervorstehenden Wangenknochen | |
und schiefer Nase, reagiert nicht, er sitzt vor einer Steckdose neben dem | |
Fernseher und lädt sein Handy. Das braucht er, um Drogen zu bestellen. | |
Weil sie Stigmatisierung befürchten, haben beide erst nach langem Zögern | |
Reporter in ihr Leben gelassen und darum gebeten, unter anderen Namen zu | |
erscheinen. Sie tragen also Spitznamen, wie sie in Russland oft benutzt | |
werden. | |
„Sollen wir 0,5 nehmen?“, fragt er und dreht sich zu ihr. | |
„Für 1.300 Rubel? Nur 0,5? Nicht ein Gramm?“ | |
„Nein, 0,5 Gramm. Saphir. 100 Rubel Kommission. Wo sollen wir es abholen? | |
Prawoberegnij, Markowij oder Kuibyschewa?“ Pascha scrollt durch die | |
Nachricht mit den Instruktionen. | |
„Irgendwo in der Nähe.“ | |
„Dann wird das bestimmt wieder irgendwo im Wald sein.“ | |
Umgerechnet 17 Euro für ein halbes Gramm Amphetamine. Drogen kaufen per | |
Telegram, einer Messenger-App. In Irkutsk, der 600.000-Einwohner-Stadt im | |
Südosten Russlands, ist das der sicherste Weg, an Drogen zu kommen. Über | |
die App wählt man Sorte und Menge aus, dann deponiert man das Geld an einem | |
angegebenen Ort und erhält wenig später die Koordinaten für ein | |
„Lesezeichen“, ein Codewort für das Drogenversteck. Nicht immer ist es | |
leicht zu finden, manchmal kommen sie nach Stunden Suche mit leeren Händen | |
zurück – ohne Stoff und ohne Geld. | |
Früher, sagt Nastja, da hat man es an jeder Ecke bekommen, wann man wollte | |
und ohne dieses bescheuerte Versteckspiel. Seit sie 16 Jahre alt ist, ist | |
Nastja drogenabhängig. Speed, Amphetamine – sie nimmt, was sie kriegen | |
kann, am liebsten aber Heroin, da ist sie wie aufgedreht, freundlich und | |
gesprächig und nicht so introvertiert wie bei dem anderen Zeug. Mit Heroin | |
hat es angefangen, sagt sie, und mit Heroin wird es wohl auch enden. | |
## Leben mit HIV, ohne es zu wissen | |
Nastja hat sich vor etwa 15 Jahren, vielleicht auch weniger, über eine | |
verunreinigte Nadel beim Heroinspritzen mit HIV infiziert – so wie der | |
Großteil der etwa 1,2 Millionen Menschen in Russland, die mit einer | |
bestätigten HIV-Diagnose leben. Experten schätzen, dass es in Russland etwa | |
genauso viele Menschen mit HIV gibt, die gar nichts davon wissen. Nastja | |
ist 35 Jahre alt. Im Schnitt sterben Menschen mit HIV in Russland mit 38. | |
Überhaupt ist die HIV-Statistik Russlands ein Zeugnis des Schreckens: Jede | |
Stunde infizieren sich hier durchschnittlich 10 Menschen mit dem Virus. | |
Zuletzt stieg die Zahl der Neuinfektionen um zehn bis fünfzehn Prozent. | |
Damit ist Russland das Land mit den drittmeisten Neuinfektionen weltweit – | |
davor liegen nur noch Südafrika und Nigeria. | |
Der Oblast Irkutsk, ein Bezirk im Süden Sibiriens, der größer ist als | |
Großbritannien, in dem aber nur knapp 2,4 Millionen Menschen leben, ist | |
eine der Regionen, die am schlimmsten betroffen sind. Hier ist fast jeder | |
Fünfzigste HIV-positiv. Damit liegt die Zahl deutlich über dem Grenzwert | |
von einem Prozent der Bevölkerung, ab dem UNAIDS von einer Epidemie | |
spricht. | |
## Die Welle erreicht Russland in den Neunzigern | |
Sie ist die Folge einer Drogenwelle, die das Land in den frühen Neunzigern | |
erreichte und die noch immer nicht verebbt ist. Die Sowjetunion war bereits | |
Geschichte, doch von den Reformversprechen Gorbatschows war in der Stadt im | |
Herzen Sibiriens nichts angekommen. Glasnost und Perestroika blieben leere | |
Begriffshülsen. Stattdessen herrschten Armut und Arbeitslosigkeit. Banditen | |
kontrollierten die Straßen – und die Grenzen. Aus Afghanistan, über | |
Tadschikistan schwemmte zunächst Opium, später Heroin nach Irkutsk, von wo | |
aus es weiter Richtung Westen verladen wurde. | |
Aber viel davon blieb hier hängen. In Irkutsk wurden ganze Straßenzüge zu | |
Drogenvierteln. Die Regierung versuchte zunächst das Problem in den Griff | |
zu bekommen, indem sie den Verkauf von Nadeln unter Strafe stellte. | |
Daraufhin explodierte die Zahl der HIV-Infektionen. Sie sprang von 23 im | |
Jahr 1998 auf über 3000 im Folgejahr. Ein Jahr später waren es sogar über | |
4500 Neuansteckungen. Die lokalen Behörden riefen den Notstand aus. | |
Als Nastja sich angesteckt hat, irgendwann Anfang der Nullerjahre, ganz | |
genau sagen kann sie es nicht, sanken die Zahlen dank dem Einsatz | |
ausländischer Hilfsorganisationen gerade wieder etwas. Durch Zufall wurde | |
das Virus bei ihr während eines Krankenhausaufenthalts diagnostiziert. Sie | |
hatte bereits Hepatitis B und C und war eigentlich wegen einer | |
Lungenentzündung in Behandlung. Dass sie auch noch mit HIV infiziert war, | |
war für sie dann keine Überraschung. „Damals haben wir alle gemeinsam | |
gestochen“, sagt sie. „Niemanden hat es interessiert, ob die Nadel benutzt | |
war oder nicht.“ | |
Sie blickt durch das Fenster ihrer Wohnung, die in einem heruntergekommenen | |
Backsteingebäude nicht weit vom Stadtzentrum liegt, hinaus in den grauen | |
Himmel und lässt die Rubel-Scheine durch die Hände gleiten, als wolle sie | |
sich von ihnen verabschieden. Regentropfen prasseln auf ein Wellblechdach. | |
Dreckswetter, sagt Nastja, und zündet sich wieder eine Zigarette an. | |
## Der erwartete Tod verstärkt den Konsum | |
Paschas Blick weicht noch immer nicht von seinem Handydisplay. „Was? Er hat | |
mich geblockt?“ Plötzlich verzieht sich seine Miene, seine Stimme wird | |
lauter. „Nastja, hörst du mich? Er hat einfach meine Nummer blockiert!“ | |
„Was? Warum?“ Nastja wendet sich Pascha zu, ihre wässrigen Augen wirken | |
abwesend, als wäre sie weit weg mit ihren Gedanken. | |
Pascha zögert einen Moment und sagt dann: „Die Bullen haben ihn gestern | |
geholt. Wir müssen Juri anrufen.“ | |
„Immer gibt es irgendein Scheißproblem!“ Nastja bricht in einen | |
Hustenanfall aus und greift nach ihrem Handy. „Dann holen wir halt Heroin. | |
Ich rufe ihn an.“ | |
Wie viele bestärkte die Diagnose Nastja nur darin, so weiterzumachen wie | |
bisher. Sterben würde sie sowieso, ob in zwei oder fünf Jahren. Mit der | |
Droge im Blut wich die Angst vor dem Tod. Bis zu dreimal am Tag spritze sie | |
sich Heroin. Ihr bisschen Leben spielte sich zwischen einem und dem | |
nächsten Schuss ab, sagt sie. Bis sie irgendwann nur noch 38 Kilogramm wog, | |
Knochen und Haut war, und über eine halbe Stunde brauchte, um in ihre | |
Wohnung im ersten Stock zu kommen, „Ich dachte, das sei mein Ende“, sagt | |
sie. | |
Eine Drogentote mehr, eine HIV-Kranke weniger. Es hätte wohl kaum jemanden | |
überrascht. Jeden Tag sterben in Russland durchschnittlich 87 Menschen an | |
den Folgen der Krankheit. Weniger als die Hälfte aller Menschen mit einer | |
Diagnose wird behandelt. Es fehlt an Geld, an einer Strategie, aber vor | |
allem an politischem Willen. Die Regierung versucht das Ausmaß des Problems | |
zu vertuschen und HIV als Krankheit von Drogenabhängigen und Homosexuellen | |
darzustellen, obwohl das Virus inzwischen vor allem durch Kontakt zwischen | |
heterosexuellen Partnern verbreitet wird. So fördert sie die | |
Stigmatisierung von Menschen mit HIV. | |
## Die erste Begegnung mit Gott | |
Längst ist HIV Teil eines Informationskriegs um die Deutungshoheit im Land; | |
eines Kriegs, der sich vor allem gegen den Westen und seine | |
Präventionsstrategie richtet. Methoden wie Metadonersatztherapien oder | |
Spritzenaustauschprogramme haben sich im Kampf gegen HIV weltweit bewährt. | |
Doch die russische Regierung lehnt die Förderung solcher Programme ab. | |
Gesetze wie jenes über das Verbot von „Propaganda nicht-traditioneller | |
sexueller Beziehungen unter Minderjährigen“ machen eine funktionierende | |
Aufklärung nahezu unmöglich. | |
An öffentlichen Orten in Irkutsk gibt es so gut wie keine Informationen zu | |
HIV-Prävention oder Werbung für Kondome. Das liegt auch an der immer | |
stärker werdenden Rolle der orthodoxen Kirche, die den Staat in seiner | |
Propagierung „traditioneller familiärer Werte“ unterstützt. | |
Der Mangel an Informationen führt dazu, dass Verschwörungstheorien zu HIV | |
in Russland weit verbreitet sind. Im April letzten Jahres machte eine | |
Nachricht aus Irkutsk international Schlagzeilen. Ein Baby mit HIV starb, | |
weil seine Mutter das Virus für einen Mythos hielt und eine Behandlung | |
verweigerte. Aber auch unter Wissenschaftlern findet man solche Stimmen. | |
Einer der bekanntesten HIV-Leugner, der Pathologe Vladimir Agejew, | |
bezeichnete das Virus als „ungeheuerliche medizinische Mystifizierung“. Er | |
lehrt an der Medizinfakultät in Irkutsk. | |
Am Nachmittag, als sich die Septembersonne mit letzter Kraft über die | |
Pinienwälder Sibiriens legt und das Ende des Sommers einläutet, sitzt | |
Andrei Chairow in Daunenjacke am Steuer seines Toyotas und fährt dorthin, | |
wo er Gott zum ersten Mal begegnet ist. Vor ihm zieht sich die Straße | |
schnurgerade durch die sattgrüne Landschaft. An seiner rechten Hand funkelt | |
ein Ring in demselben Blau wie seine Augen. Der 43-Jährige blinzelt | |
zufrieden. | |
Etwa 60 Kilometer nordwestlich von Irkutsk biegt Andrei rechts auf einen | |
Schotterweg ab. „Tschebogory“ steht auf einem kleinen Schild. Nach ein paar | |
Minuten erreicht er eine Lichtung umgeben von Wald, man sieht die ersten | |
Holzhäuser mit bunt verzierten Giebeln. In den Gärten liegen Kürbisse und | |
Kartoffeln. Vor einem neuen, zweistöckigen Haus, macht er Halt. Ein älterer | |
Mann mit zahnlosen Lächeln kommt auf Andrei zugelaufen. „Andruscha, da bist | |
du ja.“ Die beiden umarmen sich. | |
## Der Staat gibt kein Geld, aber die Kirche | |
Dieser idyllische Ort, der an eine Kommune erinnert, ist ein | |
Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige und Alkoholiker der | |
protestantischen Stiftung „Neues Leben“. Andrei ist einer der | |
Verantwortlichen. | |
Hühner und Gänse laufen über den Rasen. Vor dem Haus stapeln sich | |
Baumstämme, Material für die zweite Etage. Andrei hofft, dass sie noch vor | |
dem nahenden Winter fertig wird. Im Erdgeschoss wird gerade der Tisch für | |
das Mittagessen gedeckt. Es riecht nach frischem Kiefernholz. Am Eingang | |
hängt ein Bild, darunter die Aufschrift: Gott segnet. | |
Im Moment leben hier etwa 30 Menschen mit Drogenvergangenheit, die meisten | |
von ihnen HIV-positiv. Sie kümmern sich um die Tiere, erledigen Aufgaben im | |
Dorf, kochen und beten gemeinsam. Der Glaube ist ein wichtiger Bestandteil, | |
doch es ist jedem selbst überlassen wie er ihn praktiziert. „Vielen tut es | |
gut, raus aus der Stadt zu sein. Weit weg von allen Versuchungen“, sagt | |
Andrei. Der Aufenthalt ist kostenlos und wird von der protestantischen | |
Gemeinde finanziert. Wer kann, der spendet. Vom Staat gibt es kein Geld. | |
„Die denken, wir wären eine Sekte“, sagt Andrei. | |
Er steht inmitten des Esszimmers, einem hell erleuchteten Raum, umringt von | |
Frauen und Männern, die gerade ihren Entzug begonnen haben. Aus den | |
Lautsprechern dröhnt russische Popmusik. Andrei reicht einem Mann auf einer | |
Leiter einen Schraubenzieher und gibt ihm einige Anweisungen. Man spürt, | |
wie die Bewohner Andreis Nähe suchen. Für sie ist er eine Art Vaterfigur | |
und ein Vorbild. „Ich versuche den Menschen Hoffnung zu geben“, sagt er. | |
“Ich will ihnen zeigen, dass, es einen Ausweg gibt, dass es ein Leben | |
abseits von Drogen und Kriminalität gibt und, dass sie mit Gott alt werden | |
können.“ | |
## Im Kampf gegen die Sucht hilft der Glaube | |
Als Andrei 2005 zum ersten Mal zum Zentrum „Neues Leben“ kam, da hatte Gott | |
ihn gerade vor dem Tod bewahrt – aber das ahnte er damals noch nicht, denn | |
er kannte keinen Gott. Woher auch? Sein Leben war ein nicht enden wollender | |
Kreis aus Drogen, Kriminalität und Gefängnisaufenthalten. In die Kirche | |
ging er nur, um seine Verbrechen zu beichten oder sie sich vorher vom | |
Priester zu legitimieren zu lassen. Das einzige, an was er glaubte, war | |
sein Tod. Und um diesen zu beschleunigen, hatte er sich eine Überdosis | |
Heroin gespritzt. „Ich habe keinen anderen Ausweg mehr gesehen“, sagt er | |
heute. | |
In den frühen Neunzigern hatte er mit dem Saufen angefangen, schnell kam | |
Heroin dazu. Um seine Sucht zu finanzieren, wurde er kriminell. Als er das | |
erste Mal eingebuchtet wird, Mitte der Neunziger, sagt er sich: Ich | |
versuche es nochmal mit einem „normalen Leben“, sollte heißen: Ein Leben | |
ohne Drogen und Kriminalität. Nach vier Jahren kommt er frei, er findet | |
eine Frau, geht eine Beziehung ein, denkt sogar über Kinder nach. Aber | |
schon nach einem Jahr kehrt zu seinem früheren Leben zurück. „Der einzige | |
Sinn in meinem Leben waren Drogen“, sagt Andrei. | |
Sein Versuch, diesem Leben ein Ende zu setzen, scheitert jedoch. Andrei | |
überlebt die Überdosis. Ein paar Wochen später hört sein Vater im Bus, wie | |
zwei Passagiere über ein protestantisches Rehabilitationszentrum für | |
Drogenabhängige sprechen. Er organisiert einen Platz für seinen Sohn. Es | |
ist seine letzte Hoffnung, dass Andrei von den Drogen loskommt. | |
Sechs Monate bleibt Andrei clean. Er beginnt an Gott zu glauben, liest die | |
Bibel und betet. Er ist unter seinesgleichen und fühlt sich nicht mehr | |
allein mit seinen Problemen. Doch kaum ist er raus, zurück in der Stadt, | |
setzt er sich den ersten Schuss. | |
## Stigmatisierung statt Hilfe | |
Nach zwei weiteren Jahren Drogenrausch und Kriminalität verschlechterte | |
sich sein Gesundheitszustand zunehmend. Andrei versucht es ein zweites Mal | |
mit einem Entzug. Diesmal findet er Gott, wie er sagt, hat plötzlich ein | |
Ziel vor Augen. Der Glaube gibt ihm Halt. Andrei will etwas zurückgeben. | |
Nach seinem Entzug beginnt er sich für die Gemeinde zu engagieren. Als | |
Kaplan besucht er Häftlinge, er arbeitet als Freiwilliger am Aids-Zentrum | |
und kümmert sich um den Ausbau des Rehabilitationszentrums in Tschegobory. | |
Inzwischen ist er verheiratet und hat zwei Kinder. | |
Er sagt: „Gott hat es so gewollt.“ | |
Doch Glaube allein reicht nicht, das weiß auch Andrei. Deswegen versucht er | |
die Bewohner, die HIV haben, zu einer Therapie am Aids-Zentrum zu | |
überreden. Aber nur die wenigsten entscheiden sich schon während des | |
Aufenthalts für eine Therapie. Den meisten Drogenabhängigen fehle der Mut | |
und die Disziplin, sich am Aids-Zentrum zu registrieren, sagt Andrei. | |
Andere glauben nicht an Besserung durch eine Behandlung. „Es gibt kaum | |
Vertrauen in die medizinische Versorgung im Land.“ | |
Erst seit 2006 gibt es in Russland ein staatliches Programm für | |
antiretrovirale Therapie, die die Viruslast von Menschen mit HIV auf null | |
reduzieren kann. Letztes Jahr erhöhte das Gesundheitsministerium zwar das | |
Budget für HIV-Medikamente. Doch von dem UNAIDS-Konzept 90-90-90, das | |
vorsieht, dass 90 Prozent der Bevölkerung getestet, 90 Prozent der | |
Patienten behandelt werden und 90 Prozent der behandelten Patienten eine | |
auf null reduzierte Viruslast nachweisen, ist Russland noch weit entfernt. | |
## Der Rausch hilft, das Leben zu spüren | |
Igor Saizews HIV-Diagnose ist noch nicht bestätigt. Er ist 45 Jahre alt und | |
hat kurz geschorene Haare; vor einem Monat hat er mit einem Entzug im | |
Rehabilitationszentrum „Neues Leben“ begonnen. Um seine Privatsphäre zu | |
schützen, wurde auch sein Name geändert. An seiner Lippe krustet eine | |
Herpes-Zyste, sein Blick ist wach, aber voller Schmerz. Igor war in der | |
Armee, hat im Tschetschenienkrieg gekämpft bis er mit 21 Jahren zum Krüppel | |
geschossen wurde. Danach nahm er 20 Jahre lang Heroin und andere Drogen. | |
„Es war der einzige Weg, Mitleid für mich selbst zu empfinden“, sagt er. | |
„Ein Schuss und die Illusion des Lebens kam zurück.“ | |
1998 wurden bei ihm Hepatitis B und C diagnostiziert. Sein Todesurteil, | |
sagte man ihm. Vor wenigen Wochen wurde er im Zentrum erneut getestet. Das | |
Ergebnis: negativ. „Mir ist klar, dass das ein Wunder ist.“ Seine | |
HIV-Diagnose ist bereits einige Jahre her. Sollte sie sich jetzt | |
bestätigen, will er nach dem Entzug mit einer Behandlung beginnen. „Gott | |
hat sich mir gezeigt und ich habe verstanden, dass ich keinen leichten Weg | |
nehmen sollte“, sagt er. | |
Vielleicht wird der Glaube auch Igor zu einem Neustart verhelfen. | |
Vielleicht wird er Andreis Weg folgen. Doch was passiert, wenn er zurück in | |
die Stadt kommt? Wer erklärt einem Menschen, der 20 Jahre drogenabhängig | |
war, wie eine HIV-Behandlung funktioniert? Wie man einen Job findet? Oder | |
wie man eine Beziehung führt? | |
In Irkutsk wird Nastja sich ihre violette Jacke überstreifen, sich eine | |
Zigarette anstecken, sie wird Pascha anweisen, das Essen vorzubereiten, | |
aber mit nicht zu viel Ketchup. Und dann wird sie durch den Regen irren, | |
vorbei an dem Gefängnis, zur Bushaltestelle. Sie wird ihren Kumpel Juri | |
treffen und schließlich, sagt sie, werden sie irgendwo am Stadtrand im Wald | |
nach einem kleinen Päckchen Heroin graben. Und in ein paar Tagen wieder. | |
Dass Nastja trotz ihrer Krankheit und ihrer Sucht am Leben ist, dass sie | |
drei bis viermal die Woche arbeiten gehen kann, Fenster und Böden schrubben | |
für ein paar Tausend Rubel, und dass es Menschen gibt, mit denen sie reden | |
kann, das verdankt sie keinem Gott, sondern einer Hilfsorganisation namens | |
Navigator. | |
## Spaß am Leben, Angst vor dem Tod | |
Damals, als sie dachte, ihre letzten Tage seien gezählt, erzählte ihr ein | |
Freund von der gemeinnützigen Organisation, die HIV-Prävention speziell für | |
Randgruppen wie Drogenabhängige, Obdachlose oder Prostituierte anbietet. | |
Hier stößt sie auf Unterstützung. Die Mitarbeiter kümmern sich um Papiere | |
und Krankenversicherung und helfen ihr, einen Therapieplatz im Aids-Zentrum | |
zu bekommen. „Dank ihrer Hilfe bin ich noch am Leben.“ | |
In der Regel sind es private Initiativen wie diese, die einen Bruchteil der | |
Menschen mit HIV, Menschen wie Andrei oder Nastja, auffangen – und nicht | |
der Staat. Stattdessen macht die Regierung die Arbeit von Einrichtungen wie | |
Navigator oder Neues Leben zum Überlebenskampf. Seit 2012 das Gesetz über | |
ausländische Agenten in Kraft getreten ist, haben viele ausländische | |
Hilfsorganisationen das Land verlassen. Russische Akteure, die ausländische | |
Mittel empfangen, können als „ausländische Agenten“ verzeichnet werden und | |
stehen unter besonderer Beobachtung. Auch Andreis Stiftung ist davon | |
bedroht. | |
Die staatlichen Behörden betonen lieber die Fortschritte. Dass die Zahl der | |
Neuinfektionen in Irkutsk im letzten Jahr um knapp 500 auf 3.414 gesunken | |
ist. Dass der Aids-Zentrum in Irkutsk gerade zum besten des Landes gewählt | |
wurde. Und dass dort inzwischen etwa 26.000 Menschen registriert sin, etwas | |
mehr als die Hälfte aller Menschen mit einer Diagnose im Bezirk. | |
Was verschwiegen wird: dass dies vor allem privaten Initiativen und | |
persönlichem Engagement zu verdanken ist. Mehrmals pro Woche kommt Nastja | |
ins Büro von Navigator, um sich saubere Nadeln oder Essenskonserven zu | |
holen, aber auch um Menschen zu treffen, die in einer ähnlichen Situation | |
sind. | |
Seit sie die Behandlung begonnen hat, hat sie wieder Spaß am Leben, sagt | |
sie, und Angst vor dem Tod. | |
Die Recherche erfolgte im Rahmen eines Projekts der Boris-Nemzow-Stiftung | |
und des Vereins „Für ein freies Russland“ (Warschau), gefördert durch die | |
Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit. | |
25 Feb 2019 | |
## AUTOREN | |
Paul Toetzke | |
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