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# taz.de -- Neue Bürgermeisterin vor der Wahl: Wie Danzig zusammenrückt
> Nach dem Mord an Bürgermeister Pawel Adamowicz ist die Solidarität in die
> polnischen Küstenmetropole zurückgekehrt.
Bild: Schon als Kind auf Opposition getrimmt: Aleksandra Dulkiewicz soll neue R…
Danzig taz | „Ich möchte, dass Danzig eine offene und solidarische Stadt
bleibt“, sagt Aleksandra Dulkiewicz und reicht einer Wählerin einen Becher
dampfenden Kaffees. Bis zum kommenden Sonntag sind es nur noch wenige Tage:
Dann ist Wahltag in Danzig, es geht um den Posten des Oberbürgermeisters.
Doch nach dem brutalen Mord an [1][Pawel Adamowicz], dem bisherigen Chef
der Ostseemetropole, verbietet sich jede laute Kampagne. Mitte Januar hatte
ein 27-jähriger Krimineller den gerade erst wiedergewählten Adamowicz
erstochen. Noch untersuchen Staatsanwälte und Psychiater die Hintergründe
und Motive des Attentats.
Ernsthafte Gegenkandidaten hat die 39-jährige bisherige Stellvertreterin
von Adamowicz nicht. Weder die nationalpopulistische Regierungspartei Recht
und Gerechtigkeit (PiS) noch die größte Oppositionspartei, die
liberalkonservative Bürgerplattform (PO), haben Kandidaten aufgestellt.
Sie hätten aktuell bei den Danzigern auch keine Chance. Der schmutzige
Wahlkampf gegen Adamowicz vor einigen Monaten ist den Menschen in denkbar
schlechter Erinnerung. Ihre einzigen Gegenkandidaten sind zwei
Rechtsradikale, die in der Stadt am Meer keinerlei Chance haben.
## Aleksandra war schon als Kind mitten in der Politik
Aleksandra Dulkiewicz ist als Sozialdezernentin hoch angesehen. Die
Juristin und alleinerziehende Mutter einer elfjährigen Tochter hat soziale
Themen – Krippen und Kindergärten, Sozialstationen, Altersheime und Hospize
– an die Spitze ihres Wahlprogramms gestellt. Vor allem aber setzt
Dulkiewicz auf Kontinuität der Amtsführung ihres ermordeten Vorgängers.
Schon als Kind haben ihre Eltern die kleine Ola – der Kosename von
Aleksandra – auf Streiks der Solidarność gegen das kommunistische Regime
mitgenommen. Das Mädchen saß bei politischen Diskussion nach der
sonntäglichen Messe in der Dominikaner-Kirche St. Nikolaus. Sie lernte Lech
Wałęsa kennen, den legendären Arbeiterführer und späteren
Friedensnobelpreisträger und Staatspräsidenten Polens.
Dem späteren Oberbürgermeister Adamowicz begegnet sie zum ersten Mal 1990
auf einem Rummelplatz. Da hatte der schon sein Jurastudium abgeschlossen
und war in den ersten frei gewählten Stadtrat von Danzig gewählt worden.
Sie ging noch in die sechste Grundschulklasse und spielte mit Adamowiczs
Patenkindern Julia und Pawel.
2006, nach Abschluss ihres Studiums, wird sie zunächst Assistentin in
Adamowicz’ Büro, der bereits Oberbürgermeister ist, wechselt später ins
Europäische Solidarność-Zentrum, wird schließlich Stadträtin. Seit 2017 ist
sie Stellvertreterin von Adamowicz, übernimmt das Sozialdezernat und
organisiert 2018 den Wahlkampf für den populären Bürgermeister.
## Auch bei Juden hoch verehrt: der ermordete Adamowicz
In der Neuen Synagoge im Stadtteil Wrzeszcz, dem früheren Langfuhr, dort wo
der spätere Literaturnobelpreisträger Günther Grass aufwuchs, zeigt der
Gemeindevorsitzende Michal Samet, den großen Gebetssaal im ersten Stock und
den kleinen, den die Gemeinde normalerweise nutzt. „Als Adamowicz starb und
wir hier einen Trauergottesdienst für ihn abhielten, kamen so viele
Gemeindemitglieder und Freunde, dass wir fast in den großen Saal umgezogen
wären. Am Ende entschieden wir uns, hier unten ein bisschen enger
zusammenzurücken.“
Er hängt den schwarzen Hut, den er zum dunklen Anzug trägt, an einen
Garderobenständer, deutet auf ein Fenster und sagt: „Wir vermissen
Adamowicz sehr. Als jemand einen Stein durch dieses Fenster warf und fast
eine Betende am Kopf getroffen hätte, verdammte er den Anschlag sofort in
aller Öffentlichkeit. Das werden wir ihm nie vergessen.“
Michal Samet ist davon überzeugt, dass die Hetzkampagne im
öffentlich-rechtlichen Rundfunk letztlich zum Mord an dem Bürgermeister
geführt haben. „Aber seither ist in Danzig etwas Seltsames geschehen“, fü…
er nachdenklich hinzu. „Wir Danziger sind plötzlich viel freundlicher
zueinander. Fast alle. Das musste niemand anordnen. So wie unsere Gemeinde
damals, sind wir Danziger alle näher zusammengerückt.“
Auf einem Tisch in der Nähe des Fensters liegen verschiedene Broschüren zum
Mitnehmen, darunter auch eine über das Europäische Solidarność-Zentrum in
der ehemaligen Danziger Leninwerft. „Dass die PiS es wagte, das Europäische
Solidarność-Zentrum anzugreifen und ihm plötzlich mehrere Millionen Złoty
aus dem Budget strich, war so, als würde jemand einem Toten nachtreten.
Ungeheuerlich, war das!“ Er bückt sich, sucht in den Schubladen nach
weiteren Broschüren und legt sie auf die Tischplatte.
## „Wir Danziger wollen frei sein!“
„Das Europäische Solidarność-Zentrum war doch sein Kind. Und es ist kein
Zufall, dass er dort aufgebahrt wurde und nicht in der Marienkirche. So
konnten alle von ihm Abschied nehmen, wir Juden, die Muslime, die
Protestanten, die Atheisten, und natürlich auch die Katholiken. Wir standen
alle in einer langen Schlange vor dem Sarg.“ Samet ist überzeugt, dass
viele Danziger heute erneut das Gefühl haben, für Freiheit und Demokratie
kämpfen zu müssen. „Es ist einfach so: Wir Danziger wollen frei sein!“
Mit der Straßenbahn geht es von Manhattan, wie die Gegend rund um die
Synagoge auch genannt wird, in rund einer halben Stunde bis zur ehemaligen
Danziger Lenin-Werft. Das berühmte zweite Tor, das während der großen
Streiks 1980 und 1981 immer wieder im Fernsehen gezeigt wurde, steht noch.
Davor befindet sich das Denkmal mit den drei hoch in den Himmel reichenden
Kreuzen, erinnernd an die erschossenen Werftarbeiter im Jahr 1970. Dahinter
das riesige rostrote Gebäude des Europäischen Solidarność-Zentrums.
Von der einen Seite wirkt es wie ein noch unfertiger Tanker, von der
anderen wie eine der Werfthallen, in denen einst Tausende Arbeiter Schiffe
bauten. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus blieben die Aufträge aus der
ehemaligen Sowjetunion aus. Die Werft ging pleite und musste die Arbeiter
entlassen, die zuvor jahrelang bei Solidarność für die politische Wende
gekämpft hatten.
„Polnisches Biedermeier“ nennt Basil Kerski, der Direktor des Europäischen
Solidarność-Zentrums, das Streben der Polen nach Politikferne, die neue
Lust am Reisen, gutem Essen und Konsum. Seit 2011 leitet der heute
49-jährige Politikwissenschaftler das Zentrum mit seiner großen Ausstellung
zur Solidarność und den anderen Bürgerrechtsbewegungen in Mittel- und
Osteuropa. Sein Haus fördert aber auch die heutige Zivilgesellschaft in
Polen und die europäische Integration.
## Der Rückzug ins Private ist in Danzig Geschichte
„Nach den Kämpfen der letzten Jahrzehnte gibt es seit einiger Zeit einen
Rückzug der Menschen ins Private. Hier in Danzig ist das stark zu spüren.
Die Leute sind die politischen Streitereien und Skandale, die mit ihrem
Alltag absolut nichts zu tun haben, einfach leid.“ Doch eine Gesellschaft,
die aufhöre, sich für politische Zusammenhänge zu interessieren, sei leicht
zu manipulieren.
„Das haben wir auf der Höhe der Flüchtlingskrise 2015 gesehen. Die PiS
schürte im Wahlkampf die Angst vor den Flüchtlingen. Und mit einem Mal
kippte die Stimmung in Polen: Aus der bisherigen Hilfsbereitschaft wurde
eine kalte Solidaritätsverweigerung.“
Kerski, der aus einer polnisch-irakischen Familie stammt und als
Zehnjähriger mit seiner Familie von Danzig nach Berlin zog, dort zur Schule
ging und auch studierte, fühlt sich stark mit seiner Geburtsstadt
verbunden. Wenn er aus den Panoramafenstern in seinem Büro im vierten Stock
blickt, sieht er die Danziger Werft und die für die Hafenstadt so
charakteristischen Kräne. „Wir hatten also auf der einen Seite eine
geschichtsmüde Nation“, fährt er fort, „auf der anderen Seite aber eine
seit 2007 intensiv verfolgte Kulturpolitik, die großartige – auch im
europäischen Maßstab – neue Institutionen schuf. Heute können die Polen
voll Stolz auf die Philharmonie von Stettin verweisen und auf etliche
hochmoderne Museen hier in Danzig, in Warschau, aber auch in Schlesien.“
Der Mord an Oberbürgermeister Pawel Adamowicz, die vorangegangene
Hetzkampagne und schließlich die massive Attacke der PiS-Regierung auf das
Europäische Solidarność-Zentrum habe die Danziger aus ihrem „privaten
Biedermeier“ zurück ins politische Leben geholt. „Plötzlich begriffen
viele, dass die so lang und bitter erkämpfte Freiheit wieder gefährdet ist
und das Einzige, was sie retten kann, das eigene Engagement ist“, erklärt
Basil Kerski. „Plötzlich kamen Tausende Menschen in unsere Ausstellung und
wollten sich der bürgerrechtlichen Werte vergewissern, die 1989 zu einer
friedlichen Revolution geführt hatten, aber auch heute noch gültig sind.“
Eine Folge des neuen politischen Engagements der Danziger ist eine
Spendenaktion, zu der eine junge Schneiderin auf Facebook aufgerufen hat.
Innerhalb von 24 Stunden gehen über drei Millionen Złoty auf dem
Spendenkonto ein, genau jene Summe, die Polens Kulturminister Piotr Glinski
(PiS) dem Europäischen Solidarność-Zentrum von einem Tag auf den anderen
gestrichen hat. Es ist das Geld für das zivilgesellschaftliche und
europaorientierte Programm. Basil Kerski sagt dazu: „Die Solidarität ist
zurück!“
Am Danziger Hauptbahnhof, dort wo Aleksandra Dulkiewicz um Stimmen für die
Wahl am Sonntag wirbt, herrscht Hochbetrieb. Viele der Pendler erkennen die
Oberbürgermeisterkandidatin, klopfen ihr auf die Schulter, rufen einfach
nur: „Sie haben meine Stimme“, und greifen nach Wahlplakat und
Morgenkaffee.
2 Mar 2019
## LINKS
[1] /Nachruf-Pawel-Adamowicz/!5566004
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Polen
Danzig
Solidarität
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