# taz.de -- Landminen in der Türkei: Vermintes Gebiet | |
> Fast eine Million Minen sind in der Türkei noch aktiv. Immer wieder kam | |
> es in der Vergangenheit zu Unfällen. Doch die Türkei hinkt bei der | |
> Räumung hinterher. | |
Bild: Besonders an der Grenze zu Syrien liegen heute noch viele Minen | |
Bis heute begreift Kasım Yüksel nicht, wie es sein kann, dass sich in | |
unmittelbarer Nähe einer Schule ein Minenfeld befindet. 1997 spielte der | |
damals 12-jährige Yüksel in einem Dorf bei Diyarbakır in der Umgebung | |
seiner Schule. Ein im Boden verborgener Zünder löste aus, die Mine | |
explodierte. Er verlor seine Beine, sein rechtes Auge und zwei Finger der | |
rechten Hand. „Seitdem störten mich stets die Blicke der Leute“, sagt er. | |
Die Schule konnte er nach dem Unfall nicht mehr besuchen. „Die Minen liegen | |
da immer noch“, sagt er heute. „Und es gibt weder einen Warnhinweis noch | |
eine Sicherheitszone.“ | |
Yüksel ist heute verheiratet und hat drei Kinder. Er muss mit 600 Lira | |
Opferrente auskommen, denn Arbeit findet er nicht. Die Familie halte sich | |
mit finanzieller Unterstützung seines Vaters über Wasser, berichtet er. | |
„Jetzt bin ich so alt und habe eine Familie gegründet, aber noch immer habe | |
ich nicht die finanzielle Sicherheit, um mich vom Elternhaus trennen zu | |
können.“ | |
Laut Angaben der Initiative Eine Türkei ohne Minen sind im Land noch | |
913.312 Landminen aktiv. Die NGO ist Mitglied der 1997 mit dem | |
Friedensnobelpreis ausgezeichneten Internationalen Kampagne zum Verbot von | |
Landminen. Ziel der Initiative ist es sicherzustellen, dass die Türkei sich | |
an die Vorgaben der Ottawa-Konvention hält, die das Land 2004 unterschrieb. | |
Der Vertrag trat 1999 in Kraft und sieht Verbot und Räumung von | |
Antipersonenminen in den Mitgliedsstaaten vor. | |
## Minenopfer leiden unter psychischen Traumata | |
Die Initiative kümmert sich auch um die Reintegration von Minenopfern in | |
die Gesellschaft. Laut Vorstandsmitglied Muteber Öğreten existieren | |
keinerlei Daten über zivile Minenopfer in der Türkei. „Das ist eines der | |
größten Probleme. Solange wir nichts von ihnen wissen, kann nichts für sie | |
getan werden.“ | |
Schätzungsweise leben mehr als 10.000 Minenopfer in der Türkei. Dem zuletzt | |
2009 erstellten Bericht des Innenministeriums zufolge beläuft sich die Zahl | |
der Minenopfer auf rund 6.000. Öğreten berichtet, fast 100 Betroffene | |
hätten sie ausfindig machen und Kontakt aufnehmen können. Manche leben in | |
Städten, andere auf dem Land. | |
Viele minderjährige Minenopfer gehen nicht weiter zur Schule. Die | |
Jugendlichen sind meist arbeitslos, Ältere sind außerstande zu arbeiten und | |
selbst für ihr Auskommen zu sorgen. „Es reicht nicht, lediglich über | |
physische Beeinträchtigungen zu reden. Sie alle leiden unter psychischen | |
Traumata“, sagt Öğreten. | |
Wenn die Staubwolke sich verzieht | |
Auch Adem Gülşen aus Batman ist ein Minenopfer. Der heute 35-Jährige | |
erzählt, früher habe er in den Sommerferien das Vieh der Familie gehütet, | |
er liebte es, sich auf eine der endlos weiten Wiesen zu legen und auf einem | |
Grashalm zu kauen. 1996, da war er 13, streckte er sich eines Tages wieder | |
einmal im Gras aus, nicht ahnend, dass unter seinem linken Ellbogen eine | |
Mine lag. Er erinnert sich an einen gewaltigen Knall und daran, dass er | |
danach eine Weile nichts mehr hören konnte. Eine riesige Staubwolke hüllte | |
den kleinen Jungen ein. | |
Gülşen berichtet, wie es war, als sich der Staub ein paar Minuten darauf | |
lichtete: „Ich schlug die Augen auf, konnte aber nichts sehen. Ein | |
Metallsplitter hatte mich ins Auge getroffen. Erst kurz darauf wurde mir | |
klar, dass ich verwundet war. Durch die Hitze der Explosion begriff ich | |
aber zunächst nicht, dass ich ein Glied verloren hatte. Ein Verwandter, der | |
in der Nähe war, kam angerannt und nahm mich auf den Arm. Dann öffnete ich | |
erst im Krankenhaus wieder die Augen.“ | |
Wie Kasım Yüksel konnte auch Adem Gülşen nach monatelanger Behandlung in | |
der Klinik und dem Verlust des Armes unterhalb des Ellbogens nicht weiter | |
zur Schule gehen. Viele Jahre litt er große finanzielle Not. Auch er ist | |
verheiratet und hat zwei Kinder. Vor kurzem fand er Arbeit in einer Behörde | |
auf einer Kontingentstelle für Menschen mit Behinderung . | |
Minenräumung kostet mehr als die Minenproduktion | |
In der Türkei wurden in zwei Perioden Minen verlegt. In den 1950er Jahren | |
wurden Gebiete vermint, um die türkischen Grenzen zu sichern. Bis in die | |
1970er Jahre kam es bei Grenzübertritten zu Unfällen. Von der | |
Öffentlichkeit als „Schmuggler“ bezeichnete Menschen verloren damals Arme | |
und Beine. In der zweiten Phase von 1990 bis 1998 wurden im | |
„Anti-Terror-Kampf“ gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK Minen | |
gelegt. | |
2004 unterzeichnete die Türkei das Ottawa-Abkommen und verpflichtete sich | |
damit, innerhalb von zehn Jahren mehr als eine Million Landminen auf ihrem | |
Territorium zu räumen. Doch Ankara, sagt Muteber Öğreten von der Initiative | |
Eine Türkei ohne Minen, sei nicht imstande, seinen Verpflichtungen | |
nachzukommen: „In einem Bericht an die Vereinten Nationen erklärte die | |
Türkei 2013, ihre Zusagen nicht einhalten zu können, und bat um | |
Fristverlängerung. Die wurde gewährt. Jetzt lautet die Zielvorgabe 2022.“ | |
Dem Bericht der Initiative zufolge räumte die Türkei in den letzten zwei | |
Jahren lediglich 26.000 Minen. | |
Öğreten geht nicht davon aus, dass die Türkei es schaffen wird, das Ziel | |
bis 2022 zu erfüllen. Es sei kaum möglich, in nur drei Jahren über eine | |
Million Landminen zu räumen. Eine Mine aus dem Boden zu holen und zu | |
vernichten koste 2.500 Lira. Das übersteige die Produktionskosten für eine | |
Mine um ein Vielfaches. | |
„Die Kosten für die Minenräumung sind enorm. Es ist nicht so, dass gar | |
nicht geräumt würde. Um Mauern zur Sicherung der Grenze zu Syrien in Ost- | |
und Südostanatolien bauen zu können, muss das Gebiet zuvor von Minen | |
gesäubert werden“, sagt er und ergänzt: „Im Grunde werden vor allem die | |
Transitkorridore des Militärs geräumt. Es kann aber keine Rede davon sein, | |
dass allgemein geräumt wird und die bereinigten Gegenden erneut für | |
Zivilisten zugänglich gemacht werden.“ | |
75 Jahre aktiv | |
So kostspielig die Minenräumung ist, so mühselig ist sie. Öğreten sagt: | |
„Das ist ungefähr so schwierig wie wenn Archäologen eine antike Stätte | |
ausgraben. Mit kleinen Bürsten wird die Erde beseitigt, um die Mine zu | |
bergen.“ | |
Die meisten Landminen liegen derzeit in Afghanistan. Auch in Kambodscha und | |
Vietnam finden sich als Kriegserbe noch unzählige Minen. Öğreten stützt | |
sich auf internationale Quellen, wenn er sagt, selbst in Deutschland und | |
Frankreich lägen noch Landminen aus dem Zweiten Weltkrieg verborgen, die | |
Räumung sei längst nicht abgeschlossen. | |
Gefährlicher als andere Waffen macht Minen, dass sie über 75 Jahre aktiv | |
bleiben können, wenn keine Naturkatastrophen wie Überflutungen oder | |
Erdrutsche dazwischenkommen. Deshalb werden Landminen vor allem in | |
Grenzgebieten verlegt – mit fatalen Folgen. Öğreten zitiert einen syrischen | |
Betroffenen, der 2016 beim Grenzübertritt ohne Papiere in die Türkei auf | |
eine Mine trat: „Gut, ich habe mich schuldig gemacht, weil ich ohne Pass | |
über die Grenze wollte. Aber für welche Straftat muss man denn ein Leben | |
lang büßen?“ | |
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
28 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Tunca Öğreten | |
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