# taz.de -- Sozialleistungssystem in Großbritannien: Ein Angriff auf die Armen | |
> Alle Sozialleistungen sollen im „Universal Credit“ vereint werden. So | |
> saniert Großbritannien den Sozialstaat. Aber das neue System steigert die | |
> Not. | |
Bild: Armut betrifft nicht nur die Obdachlosen in London | |
London/Stroud taz | Tamara Lane versucht zu lächeln, doch immer wieder | |
gelingen ihr stattdessen nur tiefe hilfesuchende Blicke. In ihrer | |
Nordlondoner Wohnung erzählt die 55-Jährige, was ihr in den letzten Monaten | |
widerfahren ist, als man ihr riet, einen neuen Antrag auf Sozialhilfe zu | |
stellen. Sie erzählt, wie sie sechs Wochen lang – das ist die normale | |
Wartezeit, bis die Gelder unter dem neuen System fließen – ganz ohne | |
Unterhalt dastand und ihre Miete und Gemeindesteuer nicht mehr bezahlen | |
konnte. | |
Als die Mahnbriefe kamen, musste sie Freunde und Familie um Hilfe bitten. | |
Als dann endlich gezahlt wurde, stand sie schlechter da als zuvor – und | |
muss von dem Geld auch noch das staatliche Notdarlehen abstottern, das die | |
Übergangszeit erleichtern sollte. | |
„Ich schäme mich“, sagt Tamara. „Und trotzdem muss ich mich glücklich | |
schätzen, dass ich Menschen habe, die mir helfen konnten.“ | |
Tamara ist nicht ihr wirklicher Name, die Londonerin bittet um Anonymität. | |
Bis zum Sommer arbeitete sie als Kunstlehrerin für Kinder, auf Teilzeit, | |
aufgestockt vom Staat. Grund dafür ist ihr Gesundheitszustand: Sie leidet | |
unter schweren Asthmaattacken, mit unerwarteten und teilweise längeren | |
Krankenhausaufenthalten, seit einem guten Jahr auch akuter Immunschwäche. | |
Arbeit mit Kindern wurde da zu riskant, sie sprach mit ihrer Sozialbehörde | |
über einen Arbeitsplatzwechsel. Dort empfahl man ihr, sich kurz | |
arbeitsunfähig schreiben zu lassen, „was mir dann mehrere Monate Zeit gäbe, | |
eine neue Anstellung zu finden.“ | |
## Als Wundermittel des Wohlfahrtssystems geplant | |
Erst als es zu spät war, erfuhr Tamara, dass die Behörde sie falsch beraten | |
hatte. In ihrer Gegend war nämlich das neue Sozialprogramm „Universal | |
Credit“ (UC) angelaufen. Wer in einem solchen Testgebiet Sozialleistungen | |
bezieht, fällt bei jeder Statusänderung aus dem alten System heraus und ins | |
neue UC-System hinein. | |
Tamara musste einen völlig neuen Antrag stellen. Bisher ist unklar, ob ihre | |
Gesundheit berücksichtigt wird. Erst mal erhält Tamara monatlich jetzt an | |
Sozialleistungen einschließlich Wohngeld 1.284 Pfund (rund 1.460 Euro), von | |
denen auch die Raten für ihren Übergangskredit abgezogen werden; ausgezahlt | |
werden 1.160 Pfund. Ihre Monatsmiete: 1.470 Pfund (1.675 Euro). Wenn ihre | |
Tochter, die bei ihr lebt, ihr nicht helfen würde, säße sie auf der Straße. | |
„Universal Credit“ war eigentlich als Wundermittel zur Sanierung des | |
britischen Wohlfahrtssystems gedacht. Es war die Regierung des | |
konservativen Premierministers David Cameron, deren Arbeitsminister Iain | |
Duncan Smith das alte System mit seinen sechs verschiedenen | |
Sozialleistungen von unterschiedlichen Behörden durch eine einzige Zahlung | |
aus dem Arbeitsministerium ersetzen wollte. Neben 8 Milliarden Pfund (€9 | |
Mrd) Einsparungen sollte UC die Empfänger*Innen eigenverantwortlicher | |
machen und 300.000 Arbeitslose in Arbeit bringen. UC sollte langsam | |
anlaufen, erst mal in einigen Testgebieten im Norden Englands, und ab 2017 | |
landesweit. | |
Doch dazu kam es nie. Bereits von Anfang an, im Jahr 2013, tauchten | |
technologische und administrative Schwierigkeiten auf. Es blieb bei den | |
Testphasen für wenige zehntausend Menschen, und im März 2016 trat der für | |
die Reform verantwortliche Minister Ian Duncan Smith spektakulär zurück. | |
Der Grund: Finanzminister George Osborne hatte ihm 2 Milliarden Pfund aus | |
dem UC-Budget für Aufstockungen der Einkünfte von Geringverdienern | |
gestrichen und auch die Zuwendungen für Behinderte gekürzt. Gesamtkürzung: | |
5 Milliarden. Das akzeptierte Smith nicht. | |
## Lücken von sechs Wochen | |
UC wurde ohne seinen Erfinder weiterverbreitet, und es folgten zahlreiche | |
äußerst kritische Berichte über das nicht funktionierende System. Bisher | |
hat seine Einführung 1,3 Milliarden Pfund verschlungen – von 2 Milliarden, | |
die insgesamt eigentlich bis 2025 reichen sollten. | |
Das größte Problem: Zwischen dem Auslaufen der alten Zahlungen und der | |
Auszahlung von UC-Hilfen klafft eine Lücke von sechs Wochen, in der die | |
Bedürftigen gar nichts erhalten. Das bedeutet, dass Empfänger*Innen in | |
schwere Not geraten. Im März 2018 erhielten 21 Prozent aller neuen | |
Antragsteller*Innen nicht einmal alle ihnen zustehenden Zahlungen, bei 13 | |
Prozent kamen die ersten Zahlungen noch später als sechs Wochen. | |
Nach heftiger Kritik bewilligte das Arbeitsministerium zinsfreie | |
Notdarlehen zur Überbrückung. Sie müssen jedoch, sobald die UC-Zahlungen | |
einsetzen, in streng vorgegebenen Zeiträumen zurückgezahlt werden. Das wird | |
direkt von der Auszahlung abgezogen – wie bei Tamara. Sie glaubt außerdem, | |
dass sie weniger Geld bekommt, als ihr zusteht, weil sie beim Ausfüllen | |
ihres Antrages, der online gestellt werden muss, Fehler gemacht habe. Einem | |
Viertel aller Antragsteller*Innen geht es ebenso, berichtet das | |
Arbeitsministerium selber. | |
Manchen fehlt in der Übergangszeit sogar das Geld zum Essen. Bei einer | |
Tafel in der 30.000-Einwohner-Stadt Stroud im Westen Englands stehen Regale | |
voller Lebensmittel in einer alten Werkhalle. Managerin Sue Beattie, 49, | |
spricht von der Zunahme der Zahl lokaler Bedürftiger, die hier umsonst | |
Lebensmittel ausgehändigt bekommen. Die Trussel-Stiftung, welche diese und | |
viele andere Tafeln in Großbritannien unterstützt, behauptet, dass sie in | |
Gegenden, wo UC eingeführt worden ist, einen Anstieg des Bedarfs an Essen | |
um 52 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten verzeichnet. Wo noch das | |
alte System läuft, wuchs der Bedarf nur um 13 Prozent. | |
## Zur Mehrarbeit gedrängt | |
In Stroud, wie in vielen englischen Städten, steigt auch die Zahl der | |
Obdachlosen. „Vielleicht hat das auch mit UC zu tun, beispielsweise wenn | |
Leute wegen nicht bezahlter Miete ihre Wohnung verlieren“, glaubt ein | |
Taxifahrer, der von dem Phänomen erzählt. | |
Michael Athienites versteht nicht, warum die Regierung es nicht schafft, | |
Universal Credit adäquat einzurichten. Der 58-Jährige berät in Stroud die | |
Marah-Stiftung, die sich um besonders gefährdete Menschen mit psychischen | |
Problem, Obdachlose und Drogenabhängige kümmert. „Viele, die klar | |
hilfsbedürftig sind, erhalten häufig eine zu niedrige Einstufung ihrer | |
Bedürfnisse, oder sie werden, selbst wenn sie bereits arbeiten, zu | |
Mehrarbeit gedrängt,“ berichtet er. | |
Immer wieder erlebt Athienites, dass Menschen nicht mit den UC-Summen | |
zurechtkommen. Wenn es dann Probleme gibt, fangen Organisationen wie seine | |
diese Menschen auf. „Das kostet Unmengen von Ressourcen, ganz davon | |
abgesehen, dass es bereits gefährdeten Menschen weiter schadet.“ | |
Auch zwei andere Beraterinnen in unterschiedlichen Teilen Englands – beide | |
wollten ungenannt bleiben – erzählen von zunehmender Arbeit. „Früher hatte | |
ich 35 Fälle pro Jahr, heute sind es 200“, erzählte die eine, während die | |
andere von einer Frau mit Hirntumor berichtet, deren Gesundheitszustand und | |
die dafür notwendige Extrahilfe vollkommen ignoriert wurde. „Nachdem ich | |
Einspruch erhob, bekam sie einen höheren Satz zugesprochen.“ 60 bis 70 | |
Prozent solcher Klagen seien erfolgreich. Für die Betroffenen sei es aber | |
immer unnötiger Stress, sagen die beiden und befürchten, dass dieses | |
Anwachsen von Fällen erst „die Ruhe vor dem Sturm“ sei. | |
## Die Regierung muss für UC mehr Geld ausgeben | |
Denn bisher sind nur etwa 12 Prozent aller britischen Empfänger von | |
Sozialleistungen UC-Bezieher. Das Arbeitsministerium wollte diesen Dezember | |
beginnen, die restlichen der 8,6 Millionen Betroffenen auf das neue System | |
umzustellen. Aber der Termin wurde wegen starker Proteste auch aus den | |
Rängen der konservativen Partei erneut verschoben, auf Juli 2019 – das | |
achte Mal. Frühestens im Jahr 2023 soll es dann landesweit gelten. | |
Universal Credit entwickelt sich ähnlich wie der Brexit zu einer | |
Dauerbaustelle. | |
Der parlamentarische Rechnungsprüfungsausschuss wirft dem Ministerium eine | |
„Festungsmentalität“ vor, eine „systematische Kultur des Bestreitens von | |
Befunden anderer“. Nachfragen der taz beim Arbeitsministerium blieben | |
unbeantwortet, trotz mehrmaligen Kontakts und Versprechungen. | |
Der politische Knackpunkt ist derzeit, ob die Kürzungen aus dem Jahr 2015 | |
rückgängig gemacht werden. Der damalige Finanzminister Osborne, ein | |
führender Brexit-Gegner, ist inzwischen Chefredakteur des Londoner | |
Abendblatts Evening Standard, während sein damaliger Widersacher Iain | |
Duncan Smith, Brexit-Befürworter, weiter im Parlament sitzt. Kurz bevor der | |
neue Finanzminister Philip Hammonds am Montag vergangener Woche den | |
Haushaltsentwurf 2019 im Parlament vorstellte, herrschte breite Einigkeit: | |
Die Regierung muss für UC mehr Geld ausgeben, denn mit Osbornes Zahlen hat | |
das System zu viele Verlierer. 3,2 Millionen erwerbstätige Familien könnten | |
bis zu 2.500 Pfund pro Jahr einbüßen – UC verrechnet Sozialleistungen mit | |
Lohnaufstockungen und Steuergutschriften für Geringverdiener. | |
Die Kritiker hatten Glück. Hammond verkündete in seiner Haushaltsrede eine | |
Finanzspritze von 1,7 Milliarden Pfund für das UC-Budget. Das Geld soll | |
Geringverdienern helfen, im Rahmen eines 4,5-Milliarden-Hilfspakets für | |
Menschen im Transfer zwischen den Sozialsystemen. | |
## „Es sollte abgeschafft werden“ | |
Kritiker des Systems halten das für nicht ausreichend. „Die Hälfte der | |
bereits beschlossenen Kürzungen von Sozialleistungen für Familien ist | |
gerade erst im Begriff, eingeführt zu werden“, mahnte die Stiftung Resolute | |
Foundation. | |
Emma Revie, Geschäftsführerin der Trussel-Stiftung, welche die Tafeln | |
unterstützt, sprach hingegen von einer signifikanten Verbesserung. Sie | |
warnte aber, dass Menschen überall in Großbritannien es immer schwerer | |
hätten, über die Runden zu kommen. | |
David Drew, Labour-Abgeordneter für Stroud, erklärte der taz: „UC bleibt, | |
was es immer war: ein Angriff auf die Armen. Es sollte abgeschafft werden.“ | |
4 Nov 2018 | |
## AUTOREN | |
Daniel Zylbersztajn | |
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