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# taz.de -- Die Anfänge der Tschechoslowakei: Der Kleine mit den blauen Augen
> 1918 wurde die Tschechoslowakische Republik gegründet. Die Gegend
> zwischen Hodonín und den Weißen Karpaten gilt als ihre Keimzelle.
Bild: Tomáš Masaryk war siebzehn Jahre lang der erste Präsident der Tschecho…
Das Dörfchen Košariská, in dem Milan Rastislav Štefánik 1880 als eines von
dreizehn Geschwistern zur Welt kam, liegt zwischen goldgelben Haferäckern,
Walnussbäumen und Hecken, in denen rosa Mirabellen von den Sträuchern
purzeln. Für seine Landsleute ist der „kleine Slowake mit den blauen Augen“
der Größte überhaupt. Denn der gerade mal 1,55 Meter kurze Mitbegründer der
Tschechoslowakischen Republik führte ein Leben, das geradezu danach
verlangte, zum nationalen Mythos verklärt zu werden.
Vom Pfarrhaus, in dessen niederen Räumen ein Museum sein Leben
dokumentiert, zog er hinaus in die Welt. Er studierte Astronomie in Prag
und ging anschließend nach Paris. Den Sternen nah wollte er sein, und das
in aller Welt. Er reiste nach Turkestan, Ecuador und Tahiti und brachte das
Fell eines selbst geschossenen Schneeleoparden mit, ausgestopfte Kolibris
und geschnitzte Keulen. Auch sein weißer Safari-Anzug ist im Museum
ausgestellt, neben dem Reisekoffer mit feinem Geschirr und neobarocken
Stühlen aus seiner Wohnung in Paris.
Dort traf er seinen Landsmann Tomáš Garrigue Masaryk, der gegen die
österreichisch-ungarische Herrschaft und für den Aufbau eines eigenen
tschechoslowakischen Staates kämpfte. Mit ihm und Edvard Beneš zusammen
gründete er den Tschechischen Nationalrat, eine Art Exilregierung einer
künftigen Tschechoslowakei.
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, ließ er sich bei den Franzosen zum
Piloten ausbilden und kümmerte sich um den Aufbau tschechischer und
slowakischer Legionen, die auf der Seite Russlands, Italiens und
Frankreichs gegen die Mittelmächte kämpften. „Mutig, intelligent, brillant
– so war Milan!“, seufzt der junge Museumsdirektor Marián Imriška
hingebungsvoll.
Und dann das Ende erst! Als 1918 in Prag die Republik ausgerufen wurde,
organisierte Štefanik in Russland noch den Rückzug der Legionen. Er schlug
sich nach Italien durch und wollte von dort im Triumphflug in seine Heimat
zurückkehren. Kurz vor der Landung in Bratislava stürzte sein Flugzeug ab –
und fortan war er die Lichtfigur der jungen Nation. Im Museum sind Teile
des Flugzeugwracks ausgestellt, seine Totenmaske und die Uniform, in der er
starb.
## Ein Held
„Er ist mein Held“, sagt Dr. Marián Imriška, Anfang dreißig. „Er ist u…
Held“, korrigiert Dr. Juraj Žáry, Mitte sechzig, so nachsichtig wie
bestimmt. Der slowakische Kunsthistoriker ist neben der tschechischen
Übersetzerin Blanka Návratová der zweite Führer dieser Reise in die
Geschichte.
Natürlich braucht ein nationaler Heroe ein entsprechendes Grabmal. Ein
Fußweg über blühende Bergwiesen führt hinauf auf den 543 Meter hohen
Bradlo. Fast zehn Jahre dauerte es, bis der Architekt Dušan Jurkovič den
wuchtigen Bau für seinen toten Freund errichten konnte. Auf einer
dreistufigen Pyramide aus weißem Travertin thront ein steinerner Sarkophag,
flankiert von vier Obelisken. Ergriffene BesucherInnen schießen Selfies vor
den strahlend weißen Reliefs der Lorbeerkränze.
Das Land beiderseits der Grenze zwischen der Slowakei und Tschechien
schwelgt in diesen Tagen in Ocker, Gelb und Grün, die fruchtbaren Auen an
der March protzen mit Sonnenblumen, Mais und Buchweizen. Die Gegend
zwischen Hodonín und den Weißen Karpaten gilt als eine Art Keimzelle der
Ersten Republik. Denn nicht nur Milan Štefánik kam hier zur Welt, sondern
auch Tomáš Masaryk, der siebzehn Jahre lang der erste Präsident des Staates
war.
Um zu seinen Wurzeln zu gelangen, heißt es, die Länder zu wechseln und eine
der friedlichsten Grenzen der Welt zu überqueren. Doch diesmal
kontrollieren tschechische Polizisten im Bus die Ausweise. Blanka hat das
bisher noch nie erlebt. Die fast krankhafte Angst vor Flüchtlingen hat
vieles verändert
Zur Welt kam Masaryk im Jahre 1850 im mährischen Hodonín. Das Schloss zeigt
eine Masaryk-Ausstellung, die mit ihren vielen Fotos und Papieren aus den
1960er Jahren stammen könnte. Ein filmischer Zusammenschnitt historischer
Aufnahmen verrät den BesucherInnen, dass der Präsident einen „Widerwillen
gegen Offizialitäten hatte. Pompöse Feiern mochte er nicht,
Speichelleckerei und Querulantentum widerten ihn an.“
## Ein Staatenlenker
Die Person Masaryk fasziniert: Ein bärtiger junger Mann studiert Theologie
und Philosophie in Wien und Leipzig, wird mit 41 Jahren Abgeordneter im
Reichstag und mit 47 Professor. Er spricht mehrere Sprachen, heiratet eine
Amerikanerin, konvertiert zum Protestantismus, ist Freund von Maxim Gorki
und zu Gast beim amerikanischen Präsidenten. Zum Kronzeugen für die
Abschottungspolitik der beiden heutigen Regierungen taugte dieser
polyglotte, welterfahrene humanistische Staatenlenker wahrlich nicht.
Das historische Vorbild, auf das sich die Unabhängigkeitskämpfer beriefen,
war das Großmährische Reich. Es existierte etwa 70 Jahre lang bis zum Ende
des 9. Jahrhunderts und umfasste neben dem Gebiet der heutigen Slowakei und
Tschechiens Teile von Serbien, Polen, Ungarn und der Lausitz. Im
archäologischen Park Mikulčice an den Ufern der March wurde eine der
damaligen Siedlungen ausgegraben. Die Slawenapostel Kyrill und Method
sollen hier gepredigt haben.
Auf einer Sanddüne fand man Grundmauern zahlreicher Häuser und Gehöfte, die
sich um einen Fürstenpalast und mehrere Kirchen gruppierten. In einem
Pavillon führt ein Weg um die ausgegrabenen Fundamente eines Gotteshauses.
## Ein Staat mit eigener Kultur
Rund tausend Jahre später, am 28. 10. 1918, rief der Nationalrat in Prag
mit Billigung der Siegermächte den selbstständigen Staat aus. Optimismus
und Gestaltungswille zogen wie ein frischer Wind durch das so lange schon
erstarrte Land. Mit aller Macht wollte man nun nicht nur einen eigenen
Staat, sondern auch eine eigene Kultur entwickeln. Zum Vorreiter in der
Architektur wurde Dušan Jurkovič. Nach Erreichen der Unabhängigkeit
beauftragte man ihn, den Kurort Luhačovice, den bis dahin Deutsche,
Österreicher und Ungarn geprägt hatten, in eine slawische Vorzeigestadt zu
verwandeln.
Vierzehn Häuser baute er um oder neu, sieben davon sind noch erhalten. Da
ist das Hotel, in dem ein anderer Jungstar der Ersten Republik, der
Komponist Leoš Janáček, regelmäßig nächtigte. Er kam hierher, munkelte ma…
der „alljährlichen Zusammenkunft schöner Frauen“ wegen. Da ist das
Sonnenbad mit seinen zwei Reihen offener Umkleidekabinen und einer
strahlenden hölzernen Sonne. Und da erhebt sich schließlich direkt im
Zentrum das Jurkovič-Haus, das viele typische Stilelemente aufweist: Auf
den Dächern sitzen Erker, auf den Erkern weiße Spitzen, die Fenster tragen
Muschelbögen und geschnitztes Schwanengefieder. Dazwischen blühen hölzerne
Blumen, fallen hölzerne Sonnenstrahlen ein – das Haus ist ein
Gesamtkunstwerk in Braun und Beige, Rosa und Rot.
Von „Wohlfühlarchitektur“ spricht Reiseführer Juraj, glühender Verehrer …
Architekten. Wie die Menschen hier sollte auch die Nation gesunden und
erstarken. Es gab allerdings auch Landsleute, die sich in Jurkovič’ Bauten
nicht wiederfanden. Sie sprachen gehässig von einem„Lebkuchenhäuschenstil�…
20 Oct 2018
## AUTOREN
Franz Lerchenmüller
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Prag
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Schwerpunkt 1968
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