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# taz.de -- Pionier des türkischen Punks: Mit der Lederjacke das Taxi bezahlen
> Tünay Akdeniz' Songs aus den Jahren 1975–1978 zeigen einen Outlaw mit
> rebellischer Haltung. Das Label Ironhand veröffentlichte sein Werk.
Bild: Tünay Akdeniz sah 1978 aus wie sein britisches Pendant Wreckless Eric. D…
Was ist Punk? Das fragt man sich, wenn man das Album „The Godfather of
Turkish Punk“ hört, eine Zusammenstellung alter Songs von Tünay Akdeniz.
Sie stammen aus den Jahren 1975 bis 1978. Das deutschtürkische Label
Ironhand Records hat sie dankenswerterweise ausgegraben und wieder
veröffentlicht.
Im strengen musikalischen Sinne macht Akdeniz keinen Punk. Es ist eher
seine Haltung, die deutlich an das Unbeugsame und Provozierende des
Punk-Genres gemahnt: Akdeniz’ minimalistische Texte klingen auch heute
rebellisch. Der dazugehörige Sound entspricht freilich eher dem Idiom von
Hardrock, er ist rhythmisch komplexer und melodischer als Punk. Und
trotzdem: Akdeniz gilt in der Türkei als Punk-Pionier. Zu Recht.
Man kann anders fragen: Was bedeutete Punk in der Türkei der siebziger
Jahre? Ein Land, dessen Regierung zu jener Zeit bereits zweimal von den
Generälen gestürzt wurde, ein Land, in dem damals die erste islamistische
Partei in das Parlament eingezogen war, Straßenkämpfe zwischen Linken und
Rechten immer heftiger wurden, bevor die Generäle einmal mehr putschten.
Niemand anderes als Tünay Akdeniz posierte damals mit tierischen
Innereien, sang unverblümt über Sex und klagte öffentlich – wenn auch
erfolglos – gegen den staatlichen Rundfunk TRT, weil der seine Lieder nicht
im Radio spielte.
## Am Anfang war die Volksmusik
Akdeniz’ musikalischer Werdegang begann in der Grundschule, er lernte
Mandoline und spielte traditionelle Volksmusik. In der Mittelschule lernte
er die Darbuka und die Bağlama kennen. Weil sein Vater einen Job als
Bergwerksingenieur fand, zog Akdeniz von seiner Geburtsstadt Divriği in der
zentralanatolischen Provinz Sivas nach Karabük in der Schwarzmeerregion.
Dort entdeckte er das Schlagzeug als Lieblingsinstrument und gründete am
Gymnasium seine erste Rock-’n’-Roll-Band, sie hieß Gölgeler (Schatten).
1969 spielte er mit ihnen eine halbe Stunde als Vorband von
Psychedelic-Legende Erkin Koray.
Später, in Istanbul, wo er Maschinenbau studierte, fing Akdeniz an, Gitarre
zu spielen und zu singen. Sein Sound wurde rockiger und härter. Nach
Gölgeler gründete er Çığrışım Folk, eine Band, die stark von Folkpop
geprägt war. „Çığrışım“ heißt so viel wie „gemeinsam Krach machen…
„Çığrışım“ werden im Schwarzmeerdialekt aber auch die Klagelaute von
Angehörigen am Grab eines Verstorbenen genannt.
Unter dem Label „Tünay Akdeniz ve Çığrışım“ machte sich Akdeniz dann…
Attitüde von Punk zu eigen. Und er vollzog musikalisch gleichzeitig etwas,
was in der Türkei vor ihm noch niemand gewagt hatte. Mitte der 1970er
entfernten sich zahlreiche Künstler in den kosmopolitischen Großstädten von
den traditionellen musikalischen Einflüssen, um das Urbane ihrer Musik
herauszustellen. In einem Interview sagte Akdeniz selbstbewusst, er sei
zwar nicht eitel, aber seine Songs seien überhaupt die allerersten
Rocksongs mit türkisch gesungenen Texten gewesen. Es sind pfiffige
Rocksongs, vorgetragen mit rauchiger Stimme, deutlich nach vorne gemischten
Drums und energischen Gitarrensoli.
Das Ganze ist hochsexualisiert: Die Songtexte von Tünay Akdeniz drehen sich
um die Begegnung zwischen Mann und Frau. In „Salak“ („Idiot“) macht der
Singende sich über einen Mann lustig, dessen Frau ihn betrügt. In „Babam
Yazdı Ben Besteledim İşte Aşkın Tarifi“ („Mein Vater verfasste den Tex…
ich komponierte, hier ist das Rezept der Liebe“) beschreibt Akdeniz
detailliert eine Affäre, vom Kennenlernen über das Flirten bis zum ersten
Sex. „Dişi Denen Canlı“ („Die Kreatur namens Weib“) geht in seinem Po…
einer Frau noch einen Schritt weiter, obwohl der Text auch sexistische
Züge trägt. Aber Akdeniz schafft durch seine Reibeisenstimme immer zugleich
verrucht und ambivalent zu klingen.
## Unverblümt über Sex singen
Ist es das, was an Akdeniz Punk ist? Unverblümt über Sex singen, in einem
Land in einer Zeit, in der der Staat brutal auf das Privatleben der Bürger
zugreift, in einer Gesellschaft, die hin und her gerissen ist zwischen
Tradition, Sittlichkeit und autoritärer Modernisierung? Auf dem linken
Internetportal soL Haber erzählt Murat Beşer Akdeniz’ Geschichte. Die
klingt dramatisch, leidenschaftlich, erfrischend unbekümmert – trotz aller
Widrigkeiten. Die Geschichte eines Hard-Pop-Fans, der bei der Übergabe von
Demotapes an Plattenfirmen wegen des Worts „Rock“ immer wieder
fortgeschickt wurde. Am Vortag des muslimischen Opferfests versucht er
1975, seine Aufnahmen beim Istanbuler Plattenladen „Kent Plak“ abzugeben.
Weil die beiden Betreiber den vom Regen pitschnassen Künstler sympathisch
finden, kommt er diesmal durch: ein mittelloser Musiker, der das Taxi, mit
dem er sein Schlagzeug in ein Aufnahmestudio transportiert, mit seiner
Lederjacke bezahlt. Einer, der selbst dann nicht aufgibt, wenn er seinen
Job in einer Stahlfabrik verliert, als er nach dem Militärputsch vom 12.
September 1980 vom obligatorischen Militärdienst zurückkehrt.
Es ist der Beginn einer Zeit, die von harter neoliberaler Politik geprägt
ist und auch Akdeniz in Mitleidenschaft zieht. Nach sechs Jahren
Arbeitslosigkeit eröffnet Akdeniz einen Plattenladen im Istanbuler
Stadtteil Üsküdar. Er nennt ihn „Melodi“ und verkauft dort vor allem
Hardrock und Heavymetal, die Alben verschickt er per Mailorder auch in
andere Teile des Landes. Akdeniz’ kleiner Laden wird zum Szenetreff. Man
kauft dort Vinyl und Kassetten, der Informationsaustausch unter
Gleichgesinnten ist aber genauso wichtig.
1987 muss Akdeniz den Laden schließen – wegen neuer Lizenzgesetze. Wieder
einmal stellt sich ihm der Staat in den Weg. Bis zu jener Zeit gab es noch
keine Punkband in der Türkei. Dann, ebenso 1987, gründete sich die erste
„richtige“ Punkband: Headbangers. Während Punk im Westen zu jener Zeit
längst tot gesagt wurde und als Geschichte galt, begann er in der Türkei
mit mehr als zehn Jahren Verspätung.
Für viele gilt Tüney Akdeniz als Brücke zum Punk, und seine Texte helfen,
das gesellschaftliche und politische Klima von damals besser zu verstehen.
Es ist der ewige Blick in den Westen, der die Türkei seit der
Republikgründung 1923 auszeichnet, die damit verbundene laizistische und
modernistische Doktrin. Mit Tünay Akdeniz konnten junge Menschen
selbstbestimmter gen Westen blicken, jenseits der autoritären Agenda eigene
Zugänge finden. Auch wenn es eigentlich die Idee des „Çığrışım“-Prod…
Nazmi Şenel war, Akdeniz das Label „Punk“ zu verpassen: Vielleicht war es
genau das, was Akdeniz zum Pionier des türkischen Punk gemacht hat.
18 Sep 2018
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
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Punk
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