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# taz.de -- Toxische Männlichkeit: Zum Mann gemacht
> Die Beschneidung ist der erste Initiationsritus im Leben eines Jungen.
> Sie wird pompös gefeiert und von den Eltern sexuell aufgeladen.
Bild: Im Prinzenkostüm werden die beschnittenen Jungen hofiert
Auf dem Heck des Autos, mit dem der Junge zu seiner Beschneidungszeremonie
kutschiert wird, steht: „So, wie ich bei meiner Beschneidung schreie, werde
ich später die Mädels zum Schreien bringen.“ Die Schreie sind der Preis,
den der Knirps auf dem Weg zum Mannsein bezahlen muss. Dieser schmerzvolle
Moment wird mit der Anspielung auf zukünftige weibliche Begegnungen sexuell
aufgeladen.
Verbreitet sind Autosprüche wie „Keine Sorge, Mädels, der wird wieder
größer“ oder „Nicht traurig sein, Mädchen, ist ja nicht alles ab“. Der…
phallische Slogans sind in letzter Zeit häufiger auf den mit bunten Bändern
und Ballons verzierten Beschneidungskutschen zu lesen. So ist der kleine
Junge, an den gleich das Messer angelegt wird, einer Mischung aus
Verheißung, Erwartung und Angst ausgesetzt. Unter dem Bannerspruch steht
auch der Name des Jungen: Y. Efe. Ob das Y für Yiğit steht, das türkische
Wort für tapferer Held? Beschneidung ist ja eine Art Heldenprüfung, da
passt der Name Yiğit doch bestens für unseren imaginären Helden.
Von der Geburt bis zum Alter von anderthalb Jahren werden die Jungen
beschnitten oder zwischen 6 und 10 Jahren. Das heißt, weder die Jungen noch
die Mädchen, denen unterstellt wird, sich um die Zukunft der Penisse ihrer
vermeintlichen Zukünftigen zu sorgen, sind alt genug, um überhaupt zu
verstehen, worum es geht. Sprüche dieser Art entspringen der Fantasie der
Eltern, die fragwürdige Genderrollen angenommen haben.
## Vögeln – bitte möglichst geräuschfrei
In ihrem Buch „Zum Mann gehätschelt zum Mann gedrillt“ schreibt die
Sozialwissenschaftlerin Pınar Selek, es gebe zwar regionale Unterschiede in
der Ausgestaltung, das Szenario der Beschneidungsfeiern sei aber überall
gleich. In Ostanatolien etwa werde der Junge, der beschnitten werden soll,
auf ein Kamel oder ein Pferd gesetzt, hinter ihn ein kleines Mädchen im
Hochzeitskleid. Man ruft den beiden hinterher: „Sie schneiden nur ein Stück
Spitze ab, sollen die Mädels doch platzen!“ Das türkische Wort für
„platzen“ kann auch für „zerreißen“ oder „verrückt werden“ stehe…
Der Diskurs um Beschneidungen ist nicht neu, doch die Sprache darüber wird
immer gewalttätiger, vor allem geht es um männliche Gewalt gegen Frauen. Da
die türkische Gesellschaft „guten Mädchen“ keine Lustschreie zugesteht �…
wird erwartet, Sexualität möglichst geräuschfrei zu praktizieren – werden
Kinder mit solchen Sprüchen darauf konditioniert, dass Sex ein
gewalttätiger Akt ist, bei dem Lust mit Schmerz verschmilzt, den der Mann
zufügt. Wieso aber die Rhetorik von Gebrüll und maskuliner Protzerei?
Selek schreibt, in der Türkei werde die Beschneidung als einer von vier
Initiationsriten betrachtet. Die drei weiteren Stationen sind der
Militärdienst, der erste Job und die Heirat. Wenn der Mann die beiden
großen, auf unterschiedlichen Ebenen traumatischen „Heldenprüfungen“
Beschneidung und Wehrdienst übersteht, und dann noch eine Arbeit findet,
ist er zur Ehe bereit. Da Beschneidung und Heirat Übergangsriten in die
Männlichkeit sind, werden sie so pompös wie möglich gefeiert, auch wenn man
sich bis auf die Unterhose verschuldet.
## Materieller Exhibitionismus in allen Schichten
Eine Durchschnittsfamilie in der Türkei hat, bis die eigenen Kinder soweit
sind, bereits bei unzähligen anderen Feiern Geschenke, meist in Form von
Goldtalern, gemacht. Bei ihrer eigenen Feier kommen all die Goldmünzen
zurück. Selbst einkommensschwächere Familien bekommen so ihre Kosten für
die Feierlichkeiten wieder herein.
In neureichen konservativen Kreisen mutieren diese Feiern zu immer
groteskeren Formen materiellen Exhibitionismus. Aber auch die säkuläre
Mittelschicht richtet ihre Zeremonien mit einer vom Zeitgeist befeuerten
extremen Lust an der Zurschaustellung aus, die das ganze Leben in ein
Instagram-Event verwandelt. Die Tendenz zu gewalttätiger Sprache ist in
beiden Bevölkerungsteilen ähnlich. Zurückzuführen ist das auf Homophobie
und Konservatismus, die in allen Schichten unabhängig ihres Lebensstils
offen oder subtil vorhanden sind.
Zugleich werden Gewalt gegen Frauen, Kinder und LGBTIs, Vergewaltigung und
Belästigung kaum bestraft. Die Gesellschaft erkennt nicht, dass die
Zurschaustellung des männlichen Geschlechts im Kindesalter unmittelbar mit
männlicher Gewalt zusammenhängt.
Aus dem kleinen Yiğit könnte auch ein Mensch werden, der Frauen und Mädchen
weder auf die eine noch auf die andere Weise zum Schreien bringt. Er könnte
auch schwul, bi oder trans sein. Der lautstarke Umgang mit Männlichkeit
zielt, wenn auch unbewusst, zugleich darauf ab, solchen Optionen keine
Chance zu lassen. Die Familie tut alles, um ihren Sohn zum Mann zu
erziehen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
8 Aug 2018
## AUTOREN
Zehra Çelenk
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Das Leben einer Frau
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