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# taz.de -- Kolumne Lügenleser: Keine Macht für niemand
> Gib jemandem eine Armbinde und er wird zum Scheusal. Am besten zeigt sich
> das, wenn man S-Bahn-Securitys in Berlin beobachtet.
Bild: Ob in der S-, U- oder deutschen Bahn: Die dummen Sprüche bleiben gleich
Es ist heiß. Sehr heiß. In dem S-Bahn-Abteil steht die Luft. Sobald der Zug
hält, werden die Türen aufgerissen. Ich bin gerade erst in Berlin gelandet,
hab aber schon wieder schlechte Laune. Ausschlaggebend dafür sind die
beiden S-Bahn-Securitys, die sich trotz ihrer äußerlichen Ramponiertheit,
den enormen Schweißflecken und dem eindeutig durch Alkohol lädierten
Gesicht, aufführen wie mittelalterliche Gutsherren. Sie stolzieren auf und
ab, ermahnen diesen und jenen, stemmen die groben Hände in die Hüften und
rümpfen die Nasen.
Zwischendurch wird natürlich über die neusten Schlagzeilen diskutiert.
[1][Der Özil ist immer noch ein Thema.] Getreu dem alten Fußballmotto „11
Deutsche müsst ihr sein“. Aber auch der Junkie-Ullrich kriegt sein Fett weg
und die Flüchtlings-Merkel und überhaupt, sie wissen schon, die machen ja
eh, was sie wollen, und für die deutschen Obdachlosen bleibt dann gar
nichts mehr übrig. Eben die übliche braune Suppe, die entsteht, wenn man
eine Kartoffel und einen Lauch in einen stark erhitzten Topf wirft.
Zwei Stationen später erspähen die beiden Hilfssheriffs prompt einen dieser
Gestrandeten ohne Wohnung auf dem Bahnsteig. Der Mann raucht, sein Hab und
Gut trägt er in einer Tasche mit sich herum. „Verschwinde hier und such dir
nen Job, du Vogel“, plärrt die Sicherheitsmitarbeiterin. Ihr Kollege,
höchstwahrscheinlich selber gerade erst vom Jobcenter hierher verfrachtet
worden und definitiv nur noch einige Kippenschachteln und Schnapsflaschen
vom nächsten Herzinfarkt entfernt, pflichtet ihr murmelnd bei. Das
angebliche Mitleid mit den von der Gesellschaft vergessenen Obdachlosen ist
längst kein Thema mehr.
## Man möchte nur noch kotzen
Dafür aber die Kinder. Also alle. Konkret geht es der Wortführerin nun
[2][um den Fall der Kindesmisshandlung in Staufen], das Urteil ist den
beiden selbst ernannten Experten viel zu milde. Und es geht direkt wieder
los: Kuscheljustiz, Kinder sind doch das Wichtigste, was wir haben, direkt
vierteilen.
Und als wolle ein nicht existierender Gott die beiden auf die Probe
stellen, präsentiert sich uns auf dem nächsten Bahnhof folgendes Szenario:
Ein kleiner Junge, höchstens zwölf Jahre alt, dunkler Teint, schwarze
Haare, sitzt auf dem Boden. Um ihn herum fünf Kontrolleure und drei
Polizisten. Die Beamten legen ihm Handschellen an, „weil der keinen Ausweis
dabei hat“. Die Vermutung, dass ein blondes Kind, das ohne Fahrschein und
Ausweis aufgegriffen wird, eine gänzlich andere Reaktion hervorrufen würde,
ist naheliegend. Die beiden Mindestlohn-Bodyguards eilen sofort dazu, wer
weiß, ob acht Erwachsene genug sind, um den Knirps zu bändigen. Ein
theoretischer Obdachloser ist eben kein realer Obdachloser und ein Kind
nicht gleich ein Kind. Man möchte nur noch kotzen.
Weltweit und besonders in Deutschland gilt: Gib jemandem eine Armbinde und
er wird zum Scheusal. Und deshalb lautet die richtige Utopie nach wie vor:
Keine Macht für niemand.
14 Aug 2018
## LINKS
[1] /Kommentar-Ruecktritt-aus-der-Nationalelf/!5523190
[2] /Prozess-zu-Kindesmissbrauch-in-Staufen/!5508704
## AUTOREN
Juri Sternburg
## TAGS
Lügenleser
Security
Schwerpunkt Rassismus
S-Bahn Berlin
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