# taz.de -- Public-Viewing im Berliner Knast: Zum Aus Deep Purple | |
> In der U-Haftanstalt Moabit verfolgen 60 Gefangene den Untergang des | |
> deutschen Teams beim Public-Viewing ohne Tonübertragung aber mit live | |
> Filmmusik. | |
Bild: Die U-Haftanstalt Moabit war während des Spiels wie ausgestorben | |
Es ist die 80. Minute – und immer noch kein Tor! Der Pianist steigert sich | |
in immer schnelleren Rhythmen. Während er auf sein Keyboard eindrischt, | |
sind seine Augen auf die Leinwand an der gegenüberliegenden Wand geheftet. | |
Dort kämpft die deutsche Nationalelf gegen Südkorea um den Einzug ins | |
Achtelfinale. Pass, Kopfball, Fehlpass, Einwurf – so schnell, wie der Ball | |
über das Spielfeld jagt, fliegen die Hände des Pianisten über die Tasten. | |
„Hey, hey“, rufen die Zuschauer, einige klatschen im Takt mit, trommeln mit | |
den Füßen auf dem Boden. Viele sind tätowiert, manche haben Glatzen, andere | |
die Haare zu Pferdeschwänzen gebunden. Es gibt Junge und Alte. Eines haben | |
die 60 Männer aber gemein: Alle sitzen sie im Knast. Public-Viewing mit | |
Stummfilmusik nennt sich die Veranstaltung, die am Mittwochnachmittag in | |
der Gefängniskirche der U-Haftanstalt Moabit stattfindet. Im roten Jackett | |
sitzt Stephan Bothmer an den Tasten. Die Musik, die Bothmer in den | |
eineinhalb Stunden des Matches spielt, ist elektronisch verstärkt, mit | |
Zitaten aus Klassik, Rock und Pop passt sich Bothmer der Dramaturgie des | |
Spiels an. | |
Die Anlage hat er mit in den Knast gebracht. Jedes Teil musste er anmelden. | |
Unter den Stummfilmpianisten sei der 47-jährige Musiker eine Koryphäe, | |
erzählt der evangelische Gefängnispfarrer Thomas Lehmann. Er hatte die | |
Idee, Bothmer zu engagieren. Einfach war das nicht, die U-Haftanstalt hat | |
einen hohen Sicherheitsstandard. Sie habe noch nie so etwas Absurdes | |
gehört, habe die Knastleiterin Anke Stein zu ihm gesagt, erinnert sich | |
Lehmann. Aber dann habe Stein ergänzt: „Ich liebe Absurditäten.“ | |
Die Gefängnishalle, von der die fünf panoptischen Flügel mit den Zellen | |
abgehen, ist wie ausgestorben, als die Mannschaften in Russland ins Stadion | |
einlaufen. Die Mehrzahl der 950 Gefangenen guckt das Spiel allein in den | |
Zellen. Die 60 Männer im Kirchenraum gehören zu den glücklichen | |
Auserwählten, man konnte sich dafür bewerben. Auf der Leinwand sieht man | |
nur die Bilder, der Ton ist ausgeschaltet. Als die Südkoreaner ihre Hand | |
aufs Herz legen, spielt Bothmer die entsprechende Hymne. Aber es ist keine | |
Eins-zu-eins-Version. Das gilt für alles an diesem Nachmittag. „House of | |
the Rising Sun“ gehört dazu, der“ Türkische Marsch“ von Mozart oder der | |
Song „Fussball ist unser Leben“. | |
Je wirrer und irrer das Spiel wird, um so mehr wird das | |
Stummfilmmusik-Viewing zur Party. Ob er nicht Techno spielen könne, raunt | |
ein Gefangener Bothmer zu. Ganz gegen seine Gewohnheit macht er das – so | |
begeistert und dankbar wie das Publikum ist. Im Gefängnis hat Bothmer noch | |
nie gespielt. Techno ist auch ein guter Ausdruck, wenn einem zu einem Spiel | |
nichts mehr einfällt. | |
90. Minute. Deutschland kassiert in der Nachspielzeit das Doppel-K. O. | |
„Sweet Child in Time“ von Deep Purple ist Bothmers Antwort. „Spiel mir das | |
Lied vom Tod“ wäre besser gewesen, räumt der Pianist ein. „Aber ich hatte | |
keine Mundharmonika dabei.“ Das Einbringen des Instrumentes in den Knast | |
hätte er nämlich extra beantragen müssen. | |
28 Jun 2018 | |
## AUTOREN | |
Plutonia Plarre | |
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