| # taz.de -- Hurrikansaison in Puerto Rico: Schocktherapie für eine Geschundene | |
| > Zu Beginn der Hurrikansaison laboriert Puerto Rico noch an den Folgen von | |
| > Wirbelsturm „Maria“. Die Insel fühlt sich von Washington missachtet. | |
| Bild: Es ist ein Kreuz: Sturmschäden auf Puerto Rico nach dem Hurrican Maria | |
| New York taz | Acht Monate, nachdem „Maria“ Puerto Rico verwüstet hat, | |
| zieht ein Team von ForscherInnen der Universität Harvard eine verheerende | |
| Bilanz. Demnach hat der Hurrikan 4.645 Menschenleben gekostet. Diese Zahl | |
| ist 70-mal höher als die in den offiziellen Statistiken und übertrifft bei | |
| weitem die Opferzahlen jedes anderen Hurrikans in den USA der letzten | |
| Jahrzehnte. | |
| Danach kamen nach den Portoriqueños, die am 20. September 2017 durch | |
| Wassermassen, Bergrutsche und einstürzende Gebäude starben, sehr viel mehr | |
| in den Folgewochen um. Die meisten starben, weil die medizinische | |
| Versorgung ausblieb, weil sie keinen Strom hatten, um Insulin zu kühlen und | |
| Beatmungsgeräte zu betreiben, weil es weder passierbare Straßen, noch | |
| Transportmittel und Sprit gab, um PatientInnen zu Dialysegeräten zu bringen | |
| und weil fast alle Krankenhäuser zerstört waren, die Notfälle hätten | |
| behandeln können. | |
| Auch die Selbstmordrate schnellte in die Höhe. Nach dem [1][im New England | |
| Journal of Medicine erschienenen Bericht] stieg die Sterblichkeit nach dem | |
| Hurrikan der seltenen Stärke 5 in den drei Monaten danach um 62 Prozent. | |
| Anfang Juni hat die neue Hurrikansaison in der Karibik begonnen. Puerto | |
| Rico, das regelmäßig tropischen Stürmen ausgesetzt ist, geht doppelt | |
| geschwächt hinein: Einerseits sind noch längst nicht alle Sturmschäden | |
| repariert. Andererseits drohen der örtlichen Wirtschaft weitere tiefe | |
| Einschnitte durch ein radikales Sparprogramm. Die 2016 vom Kongress in | |
| Washington eingesetzte Zwangsverwaltung hat dem zerstörten Archipel im | |
| Außengebiet der USA nach dem Hurrikan nicht etwa einen Schuldenerlass | |
| gewährt, sondern neue Einsparungen vorgegeben. | |
| ## Doppelt gebeutelt durch Hurrikan und Austerität | |
| „Wir haben es mit zwei Katastrophen zu tun“, sagte Angel Figueróa | |
| Jaramillo, Präsident der Energiegewerkschaft von Puerto Rico, UTIER. Sein | |
| Kollege Rafael Feliciano Hernández von der Lehrergewerkschaft FMPR | |
| befürchtet, dass die Folgen des Austeritätsprogramms katastrophaler werden | |
| als die von „Maria“. | |
| Die Zwangsverwaltung will öffentliche Unternehmen, darunter den | |
| Energieerzeuger Prepa, die Wasserversorgung und die Universität | |
| privatisieren, Dutzende Schulen schließen und andere privatisieren, Löhne, | |
| Renten, Urlaubsansprüche, Krankentage und das Geld für die | |
| Gesundheitsversorgung weiter kürzen. „Die Situation wird sich in den | |
| nächsten Monaten weiter verschlechtern“, prognostiziert Feliciano Hernández | |
| bei einer [2][Konferenz des Left Forum in New York], „hier wird ein | |
| Chaos-Kapitalismus angewandt.“ | |
| Schon jetzt leben 46 Prozent der InsulanerInnen unter der Armutsgrenze, | |
| während alle Dinge des täglichen Gebrauchs – von Lebensmitteln bis zur | |
| Energie – teuer als auf dem Festland sind. Puerto Rico ist eine der ärmsten | |
| Regionen der USA, aber politisch hat sie nur minimale Rechte. Das Archipel | |
| ist kein Bundesstaat, sondern nur ein „Territorium“, weswegen seine | |
| BewohnerInnen weder bei Präsidentschaftswahlen wählen dürfen, noch eine | |
| stimmberechtigte Vertretung im US-Kongress haben. | |
| Auf nationale Solidarität haben die InsulanerInnen schon vor „Maria“ | |
| vergeblich gewartet. Damals konnten sie mit Protesten noch einige Vorhaben | |
| – darunter massive Schulschließungen – verhindern. Doch inzwischen ist die | |
| Zwangsverwaltung härter geworden. Und weder Regierung noch US-Medien zeigen | |
| besonderes Interesse an der Lage vor Ort. | |
| ## Trump redet die Probleme klein | |
| Obwohl die Hurrikane in Florida und Texas im zurückliegenden Spätsommer | |
| geringeren Schaden anrichteten als „Maria“ in Puerto Rico, bekamen die | |
| beiden Südstaaten Aufmerksamkeit und Besuche von Donald Trump. Puerto Rico | |
| hingegen musste tagelang auf die volle Präsenz der Katastrophenhilfe | |
| warten. In der Zwischenzeit verbot Washington anderen Ländern, zu helfen. | |
| Sowohl ein Krankenhausschiff aus Kuba, als auch ein Schiff mit Öl aus | |
| Venezuela durften wegen des [3][Jones Act], der nur US-amerikanischen | |
| Schiffen erlaubt, Puerto Rico zu beliefern, nicht landen. | |
| Als Trump 13 Tage nach der Katastrophe für vier Stunden nach Puerto Rico | |
| kam, warf er Rollen von Haushaltspapier in eine Menschenmenge, prahlte mit | |
| der angeblich hervorragenden Katastrophenhilfe und sagte den Portoriqueños, | |
| sie könnten „stolz“ darauf sein, dass sie in dem Sturm der Kategorie 5 nur | |
| 16 Todesfälle gehabt hätten. | |
| Zugleich versuchte er, die massiven Zerstörungen dadurch zu relativieren, | |
| dass er den Hurrikan „Katrina“, der 12 Jahre zuvor Teile von New Orleans | |
| verwüstet hatte, als „echte Katastrophe“ bezeichnete und dass er Puerto | |
| Rico eine Eigenverantwortung unterstellte, weil es schon zuvor unter einer | |
| „kaputten Infrastruktur und massiven Schulden“ gelitten habe. | |
| Die Schuldenlast von Puerto Rico beträgt 72 Milliarden Dollar – eine Summe, | |
| die so astronomisch ist, dass niemand ernsthaft glaubt, sie könne je | |
| zurückgezahlt werden. Die Gewerkschaften weisen die Verantwortung von sich. | |
| Dahinter steckten, so Feliciano Hernández, Entscheidungen, die auf dem | |
| Kontinent gefällt wurden – wie die langjährigen Steuerbefreiungen für | |
| Investoren. „Unser Problem ist nicht eine Haushaltskrise“, sagt der | |
| Gewerkschafter, „sondern eine Krise des kolonialen Modells.“ | |
| ## Es rührt sich Widerstand | |
| Am 1. Mai war die Wut vieler InsulanerInnen bei Demonstrationen in San Juan | |
| zu spüren. Andererseits hat das Archipel mit jetzt noch 3,5 Millionen | |
| EinwohnerInnen unter massiver Abwanderung zu leiden. Binnen zehn Jahren | |
| wechselten mehr als 500.000 von ihnen aufs Festland. Darunter nach Auskunft | |
| der Gewerkschaft UGT allein 4.266 Ärzte. Heute zählt das Archipel nur noch | |
| 100 KardiologInnen und nur noch zwei Neurochirurgen für Kinder, von denen | |
| einer bereits 90 ist und nicht mehr operiert. Seit „Maria“ hat sich die | |
| Fluchtbewegung nochmal intensiviert. Rund 300.000 InsulanerInnen sollen | |
| Puerto Rico in den letzten acht Monaten verlassen haben. | |
| Judy Sheridan-Gonzalez, die als Teil einer „Krankenschwester-Brigade“ aus | |
| New York direkt nach dem Hurrikan nach Puerto Rico gereist ist, verstand | |
| sofort, dass „die Lage schlimmer war als die offiziellen Statistiken“. Die | |
| Gewerkschaft UGT hatte SOS-Rufe an die Nurses Association und andere | |
| Gewerkschaften auf dem Festland geschickt, als klar wurde, wie unzureichend | |
| die staatliche Hilfe war. Die freiwilligen HelferInnen waren zu Fuß in Orte | |
| gewandert, deren Zugangsstraßen überschwemmt und Brücken eingestürzt waren, | |
| und hatten auf Dorfplätzen Klapptische aufgestellt und NotfallpatientInnen | |
| versorgt. | |
| Acht Monate nach der Katastrophe haben die meisten InsulanerInnen wieder | |
| Zugang zu Strom. Einzelne Orte liegen weiterhin im Dunkeln. Tausende leben | |
| zu Beginn der neuen Hurrikansaison unter blauen Plastikplanen, die ihre | |
| zerstörten Häuser nur notdürftig abdichten. | |
| Die Bürgermeisterin der Hauptstadt San Juan, Carmen Yulín Cruz, ahnte seit | |
| September, dass die Opferzahl sehr viel höher war als offiziell zugegeben. | |
| Doch Trump sprach von einer „Assistenzmentalität“ und schalt jene in Puerto | |
| Rico, die „auf Hilfe von außen warten.“ Jetzt sagte die Bürgermeisterin: | |
| „Hier werden grundlegende Menschenrechte auf Wasser, Essen, Strom und | |
| medizinische Versorgung verletzt.“ | |
| 9 Jun 2018 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.nejm.org/search?q=hurricane&asug= | |
| [2] https://www.leftforum.org/events/puerto-rico-unions-fighting-austerity-priv… | |
| [3] http://www.maritimelawcenter.com/html/the_jones_act.html | |
| ## AUTOREN | |
| Dorothea Hahn | |
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