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# taz.de -- Christian Lindners Bäckerschlange: Nicht Leitkultur, sondern Recht…
> Christian Lindners Kommentar zu Ressentiments in der Schlange beim Bäcker
> wird als Populismus kritisiert. Doch das Problem seiner These liegt
> woanders.
Bild: Ziel eines Shitstorms: Christian Lindner
Anderthalb Stunden lang sprach Christian Lindner am Samstag auf dem
Bundesparteitag der FDP über verschiedene Themen. Er hielt eine freie
Grundsatzrede über die liberale Innen- und Außenpolitik. Am Sonntag blies
ihm dann in den sozialen Medien ein scharfer Wind entgegen, nachdem ein
FDP-Mitglied per Twitter mitteilte, es sei aus der Partei ausgetreten: Der
Parteivorsitzende habe mit einer Anekdote aus der Warteschlange einer
Bäckerei Nazis einen Vorwand geliefert, dunkelhäutige Menschen zu
drangsalieren.
Was hatte Lindner gesagt? „Man kann beim Bäcker in der Schlange nicht
unterscheiden, wenn einer mit gebrochenem Deutsch ein Brötchen bestellt, ob
das der hochqualifizierte Entwickler künstlicher Intelligenz aus Indien ist
oder eigentlich ein sich bei uns illegal aufhaltender, höchstens geduldeter
Ausländer. Damit die Gesellschaft befriedet ist, müssen die anderen, die in
der Reihe stehen, damit sie nicht diesen einen schief anschauen und Angst
vor ihm haben, sich alle sicher sein, dass jeder, der sich bei uns aufhält,
sich auch legal bei uns aufhält. Das ist die Aufgabe einer fordernden,
liberalen rechtsstaatlichen Einwanderungspolitik.“
## In der Schlange stehen
Stimmt, wer in der Schlange beim Bäcker steht, kann sich nicht sicher sein,
mit wem er es da zu tun hat. Schlägt die adrett gekleidete Frau mit dem
strengen Zug um den Mund ihren Mann? Zahlt der dynamische Typ in den roten
Turnschuhen, der hektisch auf seinem Handy wischt, seine Steuern oder hat
er ein Konto in Luxemburg? Ist die blonde Frau, die sich gerade eine
Ananasecke kauft, vielleicht eine, die vor dem Schlafengehen rassistische
Propaganda auf Facebook postet?
Wir wissen es nicht. Zum Leben in der menschlichen Gesellschaft gehört,
dass uns die anderen als Black Boxes gegenüber treten. Wir können sie nur
an ihren Worten und Taten messen.
## Die Gesellschaft beruhigen
Angesichts des Shitstorms sah sich Lindner genötigt, in einem
[1][Videostatement] zu erklären, was er meinte. Er habe sich die Geschichte
nicht ausgedacht, sagte er. Ein Bekannter, selbst Zuwanderer, habe ihm
erzählt, dass ihm seit der Flüchtlingskrise vermehrt Ressentiments
entgegenschlügen, die sich etwa in kritischen Seitenblicken in der Schlange
beim Bäcker äußerten. Die Antwort darauf sei „nicht Leitkultur, sondern
Rechtsstaat“. Wenn sich alle sicher sein könnten, dass der Vordermann in
der Schlange rechtschaffen sei, beruhige und befriede das die Gesellschaft.
Auch das kam nicht bei allen gut an: „Wenn man eine Anekdote erklären muss,
dann ist man entweder ein schlechter Erzähler oder es ist keine Anekdote,
sondern purer demagogischer Populismus. Bei Ihrer grundsätzlich sehr gut
ausgebildeten Rhetorik gehe ich eher von letzterem aus“, [2][kommentierte]
etwa ein Twitternutzer Lindners Erläuterung. Lindners Team gab zurück: „Sie
machen nie Fehler und werden immer 100% korrekt verstanden?“
## Dieses Zaudern
Christian Lindner hat mit seiner Bäckeranekdote keine neue Position
formuliert. Er hat mehr als einmal deutlich gemacht, dass er weder eine
Politik der „dumpfen, reaktionären Abschottung“, noch eine weltweite
Freizügigkeit für sinnvoll hält.
Das Problem liegt woanders, nämlich in Lindners Grundannahme, dass der
Anstieg von Ressentiments in der Gesellschaft der Unsicherheit darüber
entspringt, ob sich jemand, der gebrochen Deutsch spricht, legal in
Deutschland aufhält. Dieser Logik gemäß würde die gesellschaftliche
Bereitschaft zum Ressentiment wieder abnehmen, sobald sich keine Menschen
mehr illegal in Deutschland aufhalten. „Wenn wir unsere Regeln für Flucht
und Einwanderung nicht klar durchsetzen, dann bringt dieses Zaudern alle
Einwanderer in Misskredit. Das ist gemeint“, bekräftigte Team Lindner diese
These.
Den Verdacht, die FDP würde auf die Stimmen von Leuten schielen, die bei
den vergangenen Wahlen AfD gewählt haben, hat der Vorsitzende immer wieder
zurückgewiesen. In seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch
„Schattenjahre“ führte er auch Zahlen an, um seine Einschätzung zu
begründen, dass „die FDP den größtmöglichen Gegensatz zur AfD“ bilde. Er
verwies auf eine von der Partei 2017 in Auftrag gegebene Studie: „95
Prozent der AfD-Wähler gaben an, wenn es eine Partei gebe, die sie nie und
nimmer wählen würden, dann wäre das die FDP.“
## Für den Einzelnen Partei ergreifen
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass das von Lindner konstatierte
Unsicherheitsgefühl vieler Bürger seit Ankunft der Flüchtlingstreks aus
Syrien größer geworden ist. Aber war es bloß die Tatsache als solche, die
für dieses Gefühl verantwortlich ist, oder nicht auch die xenophobe
Propaganda unter anderem der AfD, die Lindner schon wiederholt als völkisch
und rassistisch bezeichnet hat? Das ist eine Frage, die man sich beim
Erzählen solcher Anekdoten gerade als Liberaler stellen sollte.
„Der Liberalismus ergreift für den Einzelnen Partei, ganz unabhängig von
Geschlecht, Alter oder Herkunft.“ Wer hat's gesagt? Christian Lindner.
14 May 2018
## LINKS
[1] https://twitter.com/c_lindner/status/995608572116525061
[2] https://twitter.com/Wastie84/status/995626422210318336
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Christian Lindner
FDP
Rechtspopulismus
Frauen-WM 2019
Schwerpunkt Rassismus
FDP
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