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# taz.de -- Türkische Oppositionspartei CHP: Der Wandel wird vertagt
> Auf dem CHP-Parteitag wurde der Vorsitzende Kemal Kılıçdaroğlu
> wiedergewählt. Trotz parteiinterner Kritik und Forderungen nach
> Erneuerung
Bild: Eine Taube macht noch keinen Frieden
Vieles hat sich seit dem Jahr 2010 in der Türkei geändert – nur der
Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu nicht, der nach wie vor an der
Parteispitze der republikanischen CHP steht. Mit Kılıçdaroğlu, der bisher
jede Wahl gegen die AKP verloren hat, kam die älteste politische Partei des
Landes nicht über 25 Prozent. Vor dem Parteitag der Oppositionspartei am 3.
und 4. Februar kamen aus den eigenen Reihen Forderungen nach Erneuerung und
Kritik an der Parteispitze.
Die einzige ernstzunehmende Konkurrenz für Kılıçdaroğlu war jedoch Muharrem
İnce, der sich bei der Vorwahl mit 1.266 Stimmen als Kandidat durchgesetzt
hatte.Der Änderungswunsch innerhalb der CHP schlug sich schließlich in den
Kandidaten für die Parteispitze nieder, die im Vorfeld zum Parteitag
veröffentlicht wurden. Keiner dieser Kandidaten schaffte die obligatorische
Zehn-Prozent-Hürde, außer Ince.
Der Parteitag fand in einem Sportstadium in Ankara statt. Trotz der 15.000
Menschen war die Stimmung im Vergleich zu den vorhergehenden Jahren
unaufgeregt. In diesem Jahr tagte die Partei unter dem Motto „Gerechtigkeit
und Mut“. Allerdings ahnten die Parteimitglieder im Sitzungssaal, dass der
ersehnte Wandel in der Partei nicht möglich sein würde.
„Seit acht Jahren verlieren wir jede Wahl. Wir brauchen endlich neue
Gesichter“, sagte Sultan Keskin. Die in Sivas geborene
Landschaftstechnikerin ist eine von mehr als 700.000 Arbeitslosen, die
trotz Studium keinen Job haben. Die 25-Jährige ist überzeugt, dass die
Türkei unbedingt frischen Wind in der festgefahrenen Politik braucht.
Selin Sayek Böke, die den linken Flügel der Partei repräsentiert, verlangte
eine den aktuellen politischen Umständen entsprechende Ausnahmepolitik,
gegebenenfalls den Boykott des Parlaments. Durch den Ausnahmezustand hat
die Regierungspartei AKP das Parlament seiner Funktion enthoben und regiert
per Notstandserlassen.
## Kritik an der Parteispitze
Seit geraumer Zeit werfen Kritiker*innen der CHP die „Unfähigkeit zur
wirksamen Opposition“ vor. Die neuesten Beispiele dafür: Kılıçdaroğlu
stimmte im Mai 2016 für die Aufhebung der Immunität von HDP-Abgeordneten,
was den Weg für die Verhaftung etlicher HDP-Abgeordneter ebnete. Vor kurzem
erst bekundete er seine „volle Unterstützung“ zur Militäroffensive im
syrischen Afrin.
Am ersten Parteitag sollte der Vorsitzende gewählt werden. Kılıçdaroğlu
hielt eine Rede, die er bei jeder beliebigen Parteiveranstaltung hätte
halten können. Er wiederholte vieles, was er auch bisher in Bezug auf die
Themen wie Bildung und Gesundheitswesen schon gesagt hatte. Sein
Herausforderer Muharrem İnce setzte auf den parteiintern geforderten
„Wandel“ und kritisierte die Parteispitze hart. Das Publikum reagierte bei
dieser Kritik mit tosendem Applaus. An einigen Stellen buhten die
Parteimitglieder Kılıçdaroğlu sogar aus.
„Die Parteispitze hatte Angst, dass uns die Regierung mit der HDP in einen
Topf wirft. Soll sie doch. Könnten die Kurden nicht im Recht sein? Zuerst
verhaften sie HDP-Mitglieder, danach uns“, kritisierte İnce die Haltung der
Parteispitze. Die Regierung, so İnce, habe Mitglieder und Abgeordnete der
prokurdischen Partei HDP ins Gefängnis gesteckt und die rechtsextreme MHP
auf ihre Seite gezogen. Die CHP als verbleibende Oppositionspartei, sei der
Regierung in ihrer Haltung genehm. „Aber wir sind es nicht. Unser Ziel sind
50 Prozent plus 1 Stimme“, sagte İnce.
Manche Teilnehmer*innen fragten sich während der Rede, ob es Muharrem İnce
wohl überraschenderweise schaffen würde, zum Parteivorsitzenden gewählt zu
werden. Aber İnces Rede versetzte die Delegierten, die den Vorsitzenden
letztlich wählten, nicht in dieselbe Euphorie. Am Ende des Tages wurde
Kılıçdaroğlu mit 790 zu 497 Stimmen erneut zum Vorsitzenden gewählt.
## Kommt der Wandel?
Cafer Genç war bereits das fünfte Mal auf einem CHP-Parteitag. Der
58-jährige Rentner gehört zu den pessimistischen Genossen. Genç, der sein
Leben lang für die CHP wählte, sagte, dass sich Kılıçdaroğlu „auf dem
falschen Weg befindet“ und unbedingt einen Akt des Wandels vollziehen
müsse. Auch wenn er mit dem Wahlergebnis nicht zufrieden sei, akzeptiere er
die Entscheidung der Delegierten. Trotzdem werde er der CHP weiterhin seine
Stimme geben.
Inwiefern der neu gewählte Parteivorstand eine Antwort auf die Forderungen
nach einem Wandel sein wird, wird sich im kommenden Jahr zeigen. Dann
stehen drei wichtige Wahlen an: bei den Kommunalwahlen, der Parlamentswahl
und der zeitgleichen Präsidentschaftswahl liegt es an Kılıçdaroğlu, die
Menschen für sich zu begeistern, die nicht zur CHP-Stammwählerschaft
gehören.
Sultan Keskin ist sichtlich enttäuscht, dass ihr favorisierter Kandidat
Muharrem İnce die Wahl verloren hat. Die arbeitslose Technikerin, hat keine
Hoffnung mehr auf einen Wandel innerhalb der CHP. Sie ist der Meinung, dass
es für die älteren Semester in der Partei an der Zeit sei, die jüngere
Generation ans Ruder zu lassen.
Aus dem Türkischen von Canset İçpınar
5 Feb 2018
## AUTOREN
Hayri Demir
## TAGS
taz.gazete
Politik
Kemal Kılıçdaroğlu
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