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# taz.de -- Kämpfe im syrisch-türkischen Grenzgebiet: Zurück zu Erdoğan
> Beinahe täglich schlagen in der türkischen Grenzstadt Kilis Geschütze der
> YPG ein. Die Einwohner reagieren darauf mit einer Welle des Patriotismus.
Bild: Verwundet: ein Restaurantmitarbeiter in Kilis
Kilis taz | Auf eine Krücke gestützt humpelt Bayram Bayramoğlu über den
Platz vor der Çalık-Moschee. Wie fast jeden Tag kam der 62-Jährige am 24.
Januar zum Beten in die historische Moschee im Zentrum der türkischen
Grenzstadt Kilis. Das Abendgebet war gerade vorbei und Bayramoğlu schon
wieder draußen, als eine Mörsergranate in das Gotteshaus einschlug. „Ich
versuchte wegzulaufen, aber die Druckwelle schleuderte mich zu Boden“, sagt
der Rentner. Benommen von der Explosion tastete er sein Gesicht ab, das
schüttere, halblange graue Locken umrahmen. „Erst dann merkte ich, dass
mein rechtes Bein schwer blutete.“
Die Mörsergranate an jenem Tag riss die halbe Kuppel der 1682 gebauten
Moschee weg, die Wände sind von Spuren der herumfliegenden Splitter
übersät, direkt neben dem Eingang haben sich das Blut der Opfer und Staub
zu großen grau-braunen Flecken vermischt. Abgefeuert wurde das Geschütz von
Kämpfern der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), die
jenseits der nur wenige Kilometer entfernten Grenze die Region Afrin
kontrollieren. Das sagt die türkische Regierung und das glauben die
Einwohner in Kilis. Die YPG bestreitet dies allerdings.
Seit Beginn der türkischen Offensive mit dem Namen „Operation Olivenzweig“
auf Afrin am 20. Januar wird das türkische Grenzgebiet beinahe täglich von
Geschossen aus Afrin getroffen. Insgesamt haben die Angriffe bisher sieben
Tote und mehr als 100 Verletzte gefordert, allein in Kilis wurden 24
Personen verletzt. „Niemand fühlt sich hier sicher“, sagt Bayramoğlu. „…
kann jederzeit wieder passieren.“
Nur drei Tage nachdem der Rentner den Angriff auf die Moschee überlebte,
schlug vierzig Meter von seiner Wohnung entfernt eine Mörsergranate ein,
ein Schrapnell landete direkt neben seinem Fuß. Bayramoğlus Unterstützung
für den Krieg im Nachbarland tut das keinen Abbruch. Im Gegenteil. „Ich
fürchte mich nicht“, sagt er und reckt das Kinn. „Präsident Recep Tayyip
Erdoğan hat genau das Richtige getan. Wir alle stehen hinter ihm“, sagt er.
„Terroristen“ nennt Erdoğan die YPG-Kämpfer und -kämpferinnen. Und so se…
es auch die meisten in der rund 100.000 Einwohner zählenden Grenzstadt.
Zwar hatte die YPG, die Afrin seit 2012 kontrolliert, bis zu Beginn der
Offensive keine Angriffe auf das Nachbarland verübt. Doch die Furcht der
türkischen Regierung, dass sich dies ändern könnte, ist nicht unbegründet.
Die YPG ging aus der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hervor, mit der Ankara
seit fast dreieinhalb Jahrzehnten Krieg führt, unterbrochen nur von einer
kurzen Phase, in der beide Seite verhandelten.
Im Schatten des Kriegs gegen die Extremisten des „Islamischen Staates“
(IS), für den sie hohe Opfer erbrachte, baut die YPG in Nordsyrien heute
eine Verwaltung nach dem Vorbild der türkischen PKK auf. Verständlich, dass
die Regierung in Ankara darin eine Gefahr für die eigene Sicherheit sieht.
Doch mit Bomben und einer Hilfstruppe aus syrischen Kämpfern, unter denen
sich auch radikale Islamisten befinden, wird Erdoğan die YPG nicht aus der
Welt schaffen. Sie genießt unter den syrischen Kurden echten Rückhalt.
Selbst syrisch-kurdische Parteien und Prominente, die sonst kaum ein gutes
Wort für die YPG finden, kritisieren die Militäroffensive scharf. Doch
davon will man in Kilis nichts wissen.
## Eine Stadt in rotem Fahnenmeer
Fast die gesamte Stadt ist in ein rotes Fahnenmeer getaucht. An zahlreichen
Straßenzügen und vor vielen Geschäften hängt die rote türkische Flagge mit
weißem Halbmond und Stern. Den mehrstöckigen Sitz des Gouverneurs bedecken
gleich zwei Fahnen.
An einem Geschäftshaus auf der anderen Seite des Platzes hat der
Bürgermeister ein riesiges Plakat aufgehängt, das Soldaten beim Gebet zeigt
und auf dem steht: „Unsere Gebete sind mit euch. Wir wünschen euch Erfolg.
Möge Gott sicherstellen, dass die betenden Armeen nicht geschlagen werden.“
Die Religionsbehörde spricht vom Dschihad, dem heiligem Krieg.
Außer mehr als 150 Toten unter der Zivilbevölkerung sowie aufseiten der
kurdischen Kämpfer und der syrischen Hilfstruppen haben die Gefechte
bisher auch das Leben von 14 türkischen Soldaten gefordert. Ihr Opfer sei
jedoch nicht umsonst gewesen, sagt Ömer Vural, der an dem Platz einen
Schuhladen betreibt. „Unser Führer, Recep Tayyip Erdoğan, hat gesagt, dass
wir unser historisches Land zurückholen. Vielleicht trinken wir unseren Tee
schon bald in Afrin“, meint er optimistisch. Und: „Wir Türken werden der
Welt eine Lektion erteilen.“
## Offene Türen
Lange Zeit war Kilis nicht mehr als ein verschlafenes Provinznest. Das
änderte sich mit dem Bürgerkrieg im Nachbarland. Syrische Flüchtlinge
strömten ins Land, in Kilis lebten zeitweise mehr Syrer als Einheimische.
Erdogan will die 3,5 Millionen Flüchtlinge nach Ende der Militäroperation
nach Syrien zurückschicken.
Bei Vural und vielen anderen rennt er damit offene Türen ein. „Ich könnte
sie würgen, wenn ich sie sehe“, sagt der 25-Jährige über die Syrer. Der
Krieg im Nachbarland und die Flüchtlinge hätten ihre Stadt ruiniert, sagt
eine alte Dame in langem Mantel und Kopftuch, die ein paar Meter weiter
einen Stoffladen betreibt. Vor zwei Jahren wurde Kilis schon einmal zum
Ziel von Mörserangriffen, damals allerdings von den Dschihadisten des
„Islamischen Staates“. 24 Personen wurden dabei getötet. Wie viele andere
Einwohner haben die meisten Verwandten der 70-Jährigen die Stadt bereits
verlassen.
Gab es vor zwei Jahren noch Kritik an Erdoğans Syrien-Politik, weiß der
Staatschef heute außer den Kurden die gesamte Opposition hinter sich. „Ich
bin ein Atatürk-Anhänger, ein Republikaner“, sagt Murat, Inhaber eines
Fotostudios und Mitglied der oppositionellen Republikanischen Volkspartei.
„Ich bin gegen Krieg, aber wir haben keine andere Wahl. Ob PKK, YPG oder
‚Islamischer Staat‘, sie sind alle Terroristen.“ Deshalb zähle derzeit a…
sein Parteibuch nicht. „Jetzt zählen nur Tayyip Erdoğan und die Türkei.“
7 Feb 2018
## AUTOREN
Inga Rogg
## TAGS
Türkei
Afrin
Schwerpunkt Syrien
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