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# taz.de -- „Uns treibt die Liebe zu den Buchstaben an“
> Paradox und Ikarus sind die Künstlernamen von zwei Mitgliedern der
> Graffiti-Gang Berlin Kidz. Um ihre Anonymität zu wahren, tragen sie
> Masken. Denn um ihre Kunst zu verwirklichen, brechen sie häufig Regeln
> und manchmal Gesetze. Die beiden Berliner betrachten das auch als
> Systemkritik
Bild: „Wir kommen einfach nicht darauf klar, das jemand sagt, das geht nicht,…
Interview Raphael PiotrowskiFotos Boris Niehaus
taz: Paradox, Ikarus: Wer mit offenen Augen durch Berlin, kann euer
künstlerisches Schaffen kaum übersehen. Aber für die, die nicht aus dem
U-Bahn-Fenster gucken: Wer sind die Berlin Kidz, und was machen sie?
Paradox: Wir sind eine Gruppe aus ganz verschiedenen Leuten. Dazu gehören
Sprayer, Trainsurfer, Parcourläufer, aber auch Menschen, die nur
fotografieren und filmen. Was uns alle zusammenbringt: Wir wollen etwas
bewegen. Wir wollen anderen Menschen die Augen öffnen hinsichtlich
gesellschaftlicher Probleme und des Systems, in dem wir alle leben. Das
motiviert uns. Und mit dieser Motivation ziehen wir los und besprühen die
Wände Berlins.
Was sprüht ihr an die Wände?
Ikarus: Meistens sind es Tags, manchmal aber auch Pieces oder Character
(Character sind Figuren in der Graffiti-Sprache; weiteren Szene-Slang
erklärt der vorangehende Graffiti-Schwerpunkt, RP). Hauptsächlich jedoch
Buchstaben im Pixação-Style. Diese Technik kommt aus Brasilien und wurde
von Paradox vor einigen Jahren nach Berlin importiert und in unser Schaffen
integriert. Unser Style ist jedoch ein anderer als in Brasilien: mit mehr
Schwung und in Farbe – Rot und Blau sind unser Markenzeichen. Läuft man
durch São Paulo, sieht man größtenteils schwarze Tags. Uns geht es darum,
die Sachen extra schön aussehen zu lassen.
Pixação, was ist das für euch? Graffiti oder Streetart?
I.: Weder noch, würde ich sagen. Es grenzt sich von Streetart im
eigentlichen Sinne ab, ist aber auch etwas anderes als Graffiti, wie es in
Deutschland hauptsächlich betrieben wird. Klar, auch wir benutzen
Graffiti-Dosen – das ist unser Medium. Aber Pixação unterscheidet sich vom
klassischen Bombing, ob nun an Wänden, auf Zügen oder Tags auf der Straße.
Wir haben einen ganz eigenen Stil geschaffen.
P.: Pixação ist auch deshalb etwas Besonderes, weil es nicht nur darum
geht, ständig seinen Namen an die Wand zu schreiben. Es geht darum, etwas
auszudrücken: Gefühle durch die Form, eine Message durch Sprüche neben
unseren Bildern.
Aber nicht nur euer Style unterscheidet sich vom Rest der Berliner
Graffitiszene.
I.: Nein. Auch die Tatsache, dass wir uns abseilen, unsere Spots immer
kletternd erreichen …
P.: … unser Leben riskieren, um an die besten Stellen der Stadt zu kommen.
I.: Wir bomben Stellen, die eigentlich unerreichbar erscheinen. Paradox hat
damit irgendwann angefangen.
Wie kam es dazu?
P.: Berlin ist eine verrückte Stadt. Hier ist alles schon ausgereizt. Für
alles gibt es ein Genre. Wenn du hier aufwächst, beginnst du irgendwann,
darüber nachzudenken, wie du dich verwirklichen kannst. Du suchst nach
etwas Neuem.
Aber Rooftops, also das Streichen von Häuserkanten herunter, oder Sprühen
auf Baugerüsten gibt es schon lange.
P.: Ja, damit bin ich aufgewachsen. Die großen Graffiti-Crews hier in
Berlin, 1UP, Skywalkers, CBS und KHC, haben mich bereits in meiner frühen
Jugend krass geflasht. Als ich dann selber einige Zeit gesprüht hatte,
reizte es mich, den Leuten noch deutlicher das Risiko zu zeigen, das bei
Graffiti immer dabei ist. Wortwörtlich einen draufzusetzen, höher zu
kommen, da die ganze Stadt bereits zugemalt ist. In São Paulo ist das
übrigens genauso: Da malen sie auch immer höher, weil unten schlicht kein
Platz mehr ist.
Beim Abseilen benutzt ihr eine professionelle Ausrüstung?
I.: Natürlich. Alpine Techniken und Ausrüstung spielt eine große Rolle.
Habt ihr euch das selbst beigebracht?
P.: Ja. Es kommt nur darauf an, wie motiviert du bist. Du suchst dir einen
Baum im Park, und los geht’s. Ohne Druck kann es jeder auf seine Art und
Weise lernen. Und dann motiviert man sich noch gegenseitig, trainiert und
gibt sich Tipps. Professionelle Kurse oder einen Kletterschein haben wir
nicht gebraucht.
Was passiert, bis eure Schriftzüge auf einer Wand zu sehen sind?
I.: Erst einmal geht es um den Spot, also den Ort. Der fällt dir meist
zufällig ins Auge, wenn du durch die Stadt fährst. Mittlerweile haben wir
einen Blick dafür. Gefällt dir eine Wand, schaust du dir die mal genauer
an.
P.: Da kommen dann viele Faktoren zusammen: Du siehst das Dach anfangs ja
nur von unten. Wenn du geschafft hast, dir Zutritt zu verschaffen, sieht
die Sache dann vielleicht schon wieder ganz anders aus. Du weißt ja nicht,
wer da wohnt – manchmal sind es coole Leute, manchmal eher weniger. Jedes
Mal ist es anders.
I.: Wenn da beispielsweise ein Hund im vierten Stock wohnt, kannst du es
vergessen. Der schlägt direkt an und versaut dir alles.
Und wenn euch ein Spot machbar erscheint, wie geht es dann weiter?
I.: Es wird weiter ausgecheckt, etwa, wie und wo man das Seil befestigen
und auslegen kann. Meistens ist das aber easy. Dann muss man natürlich
gucken, wo man unten ankommt, und wie man von dort wegkommt. Du musst
wissen, was drumherum los ist, immerhin baumelst du mehrere Minuten
meistens gut sichtbar in der Luft. Ist da ein Café, das die ganze Nacht
geöffnet hat? Oder eine Bullenwache um die Ecke, so dass alle fünf Minuten
ein Wagen vorbeifährt? Stimmen alle Faktoren, kannst du loslegen.
P.: Das Problem ist: Wenn Anwohner uns hören oder sehen, halten sie uns oft
für Einbrecher.
Das seid ihr in gewisser Weise ja auch: In euren Videos kann man sehen, wie
ihr etwa Türen aufbrecht. Muss das denn sein?
I.: Nee. Wir versuchen, Türen oder Vorhängeschlösser immer erst mit unserem
kleinen Werkzeugkasten zu öffnen, zu picken, wie wir sagen.
P.: In dieses Logpicking-Ding haben wir uns ein bisschen reingefuchst. Es
ist eine Kunst, Schlösser zu manipulieren, ohne sie aufzubrechen, das
erfordert viel Ruhe und Fingerspitzengefühl. In der Berliner Graffiti-Szene
können das nicht viele, würde ich mal sagen. Aber es ist ein Plus für alle:
für uns, weil es leise ist und keiner die aufgebrochene Tür sieht, während
wir oben sind. Aber auch für den Besitzer, der nur zuschließen muss, und
fertig. Aber wenn das mal nicht klappt, brechen wir die Tür halt auf. Der
Weg aufs Dach sollte keinem verwehrt bleiben (grinst).
Seid ihr nicht einfach Adrenalinjunkies, lebensmüde Großstadtkids?
I.: Du kannst uns glauben: Wir haben eine krasse Vorsicht und großen
Respekt vor der Sache. Lebensmüde würde ich es erst nennen, wenn du nicht
weißt, was du machst. Wir wissen das aber. Es gibt Tage, da fühlt man sich
super sicher. An anderen Tagen lässt du es lieber, weil du dich unwohl
fühlst.
P.: Na ja, als Adrenalinjunkies würde ich uns schon bezeichnen (lacht).
Dafür verachten wir sämtliche anderen Drogen. Love art, hate drugs – das
ist unser Motto.
Ihr filmt euch auch beim lässigen Posen auf fahrenden S- und U-Bahnen.
Dabei sind schon Menschen zu Tode gekommen.
P.: Hm. Wir kommen einfach nicht darauf klar, das jemand sagt, das geht
nicht, das ist gefährlich und deshalb verboten. Das hört sich jetzt blöd
an, aber es ist auch nicht so krass, wie es aussieht. Aber ja, es kann
definitiv gefährlich werden – je nachdem, wann du auf den Zug aufspringst,
wann du wieder runterkommst und wie die Strecke ist.
I.: Klar, man sollte da wirklich mit viel Vorsicht und Respekt rangehen.
Und ich hoffe, dass das niemand einfach so unter Alkohol- oder
Drogeneinfluss nachmacht. Aber es sterben jährlich tausende Menschen beim
Autofahren unter Alkoholeinfluss. Und wir gehen mit äußerst klarem Kopf an
die Sache und wissen ganz genau, was wir da machen.
Passend zum Gesprächsthema klingelt plötzlich ein Handy. Thomas, ein
anderes Crewmitglied, sagt Bescheid, er würde nun an der Prinzenstraße
losfahren. Wenige Sekunden später:
P.: Digga, da kommt er. Guck runter, siehst du ihn auf der Bahn? Er genießt
den Kick auf dem Train, und wir stehen hier oben und quatschen.
Muss das sein?
I.: Du denkst bestimmt, der Gegenwind bläst ihn runter. Keine Sorge!
P.: In der Kurve jetzt gleich vorm Kotti ist es am gefährlichsten, da musst
du dein Gewicht verlagern. Aber siehst du, er kennt die Strecke. Und sich
selbst.
Vor der Einfahrt zum Kottbusser Tor geht Thomas zum Ende des Waggons und
klettert zwischen zwei Wagen. Kurz danach betritt er das Dach, auf dem
unser Interview stattfindet, und begrüßt seine Freunde, als ob nichts
gewesen wäre.
Jetzt mal ehrlich: Abseilen für Graffiti ist schön und gut. Aber
Trainsurfing ist eine Nummer heftiger. Spürt ihr da keine Verantwortung?
Immerhin werden eure Videos davon tausendfach im Internet angeschaut.
I.:Du hast schon recht. Da wir unsere Videos bei YouTube veröffentlichen,
kann das jeder sehen. Aber ich finde trotzdem, dass alle Menschen – auch
junge – für sich selbst entscheiden sollten, was sie machen und was sie
lieber sein lassen soll. Die Diskussion ist doch beim Thema HipHop
dieselbe: Werden jetzt alle zu krassen Gangstern, nur weil es in den Texten
vorkommt? Ich fühle mich jedenfalls nicht als Hauptverantwortlicher, den
Kids zu sagen, was sie zu tun oder zu lassen haben.
P.: Es gibt so viele krass verrückte Videos im Internet, muss denn jeder
alles nachmachen? Die Leute, die wirklich nachmachen, was wir machen, sind
Leute, die spüren, was wir spüren.
Was meinst du damit?
P.: Diese Unzufriedenheit. Dieser gesellschaftliche Zwang, dieses
Nicht-dazu-Gehören. Das ganze System stinkt uns: Du stehst um 6 Uhr morgens
auf, kommst um 18 Uhr von der Arbeit nach Hause, hast dann noch all den
anderen Kram, um den du dich kümmern musst. Und letztendlich arbeitest du
nur für Leute, die wiederum für andere Leute arbeiten, die sich dann die
Kohle einstecken. Viele Menschen macht das kaputt. Wir aber wollen uns
nicht kaputtmachen lassen. Wir nehmen uns die Freiheit, die wir zum Atmen
und Leben brauchen.
I.: Für mich ist das der Versuch, aus der täglichen Tristesse auszubrechen.
Und dabei andere Menschen durch das, was ich mache, zu bewegen. Es gibt
kein definitives „richtig“ oder „falsch“, es gibt immer nur Grautöne. …
jedem Guten steckt etwas Böses. Und umgekehrt.
Zurück zum Thema Graffiti: Ihr spracht von einer Message – ist die
politisch?
P.: Politik hört sich immer so hochgestochen an. Nach Wahlen. Aber ganz
ehrlich: Wahlen ändern gar nichts! Wir versuchen die Menschen einfach ein
bisschen aufzuwecken. Viele Leute kommen aus ihrem kleinem Gefängnis gar
nicht mehr heraus: Die sind zufrieden, am Wochenende ein bisschen trinken
und feiern zu können. Dann stimmt die Welt für sie.
I.: Durch unsere Sprüche wollen wir die Menschen anregen, ein wenig
nachzudenken, über ihren eigenen Tellerrand zu gucken. Klar kann man da
keinen großen Text hinschreiben, allein wegen der Zeit, die man nur hat.
Aber mit einem gutem Spruch kann man die Menschen catchen.
Habt ihr ein Beispiel parat?
I.: Wenn wir „Hartz IV essen Seele auf“ oder „Moderne Sklaverei“ mitten…
einem sozialen Brennpunkt malen, dann wollen wir damit etwas
transportieren. Da geht es weder um die Masse noch um den Fame!
Ist Graffiti schon mit dem Anspruch, sich die Stadt zurückzuholen,
politisch?
P.: Nein. Die Szene tut immer so, aber viele sind einfach nur kleine
U-Bahn-Tagger. Über die muss ich jetzt mal herziehen: Die haben keine
Ahnung, ballern sich voll mit Drogen, haben nichts als Party im Kopf und
malen dann mit ihrem Stift alles voll. Mehr ist bei vielen nicht dahinter.
Graffiti heute ist größtenteils dieses stupide „Bomben“, also auf Masse
malen, ohne Sinn und ohne Message. Sehr egomanisch.
Euer zweiter Film, der im Dezember Premiere feierte, heißt „Fuck the
System“. Bisschen plump als Message, oder nicht?
P.: (lacht) Findest du? Für mich ist er so plump, dass er schon wieder deep
ist. Es geht doch um das System, das Ganze – das wir alle aus den Augen
verloren haben, das uns aber fertigmacht.
I.: Diese Wut auf das große Ganze treibt uns an. Gleichzeitig aber auch die
Leidenschaft, gemeinsam etwas Neues zu erschaffen, sowie die Liebe zu den
Buchstaben. Wir versuchen einfach, die schönsten Buchstaben zu malen, uns
weiterzuentwickeln. Farbe in die Stadt zu tragen.
27 Jan 2018
## AUTOREN
Raphael Piotrowski
## TAGS
Graffiti
Streetart
Kunst Berlin
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