# taz.de -- Pflegereform in Deutschland: Das gute Heim von Brandenburg | |
> Im St. Elisabeth werden alte Menschen gut umsorgt. Doch nachts gibt es | |
> nur einen Betreuer. Und auch am Tag bleibt nicht immer genügend Zeit. | |
Bild: Gut betreut, aber dennoch fehlt oft die Zeit: Bewohner des Seniorenzentru… | |
Velten taz | Fünf Minuten. „Fünf Minuten nach dem Klingeln müsste eine | |
Pflegekraft kommen“, sagt Mathias Gerwig, „vielleicht noch zwei, drei | |
Minuten mehr, aber länger als acht Minuten sollte der Bewohner nicht warten | |
müssen. Ich kann die Rufprotokolle auf meinem PC nachvollziehen.“ Nach fünf | |
Minuten erscheint eine Pflegekraft im Zimmer, packt an oder gibt zumindest | |
Bescheid, wann sie sich etwas später um den oder die BewohnerIn kümmern | |
kann. | |
Gerwig, 42, ein Anzugträger mit ernstem Gesicht, leitet das St. Elisabeth | |
Seniorenzentrum der Caritas in Velten, Brandenburg. Der Gebäudekomplex am | |
Stadtrand mitten im Grünen wurde vor 20 Jahren gebaut: Mit seiner großen | |
Empfangsbereich, den breiten Terrassen, geräumigen Fluren und Doppel- und | |
Einzelzimmern mit Blick ins Grüne könnte es sich auf den ersten Blick | |
betrachtet um ein Hotel handeln. Ist es aber nicht. | |
Neben Kurzzeit- und Tagespflege und dem Service-Wohnen bietet das Zentrum | |
137 stationäre Pflegeheimplätze. 20 Prozent der Mitarbeiter arbeiten schon | |
länger als 15 Jahre in der Einrichtung. Das St. Elisabeth ist ein Beispiel | |
dafür, was gut laufen kann mit der Pflegereform. Und wo die Grenzen liegen. | |
## Entlastung dank Personalaufstockung | |
Personell hat das Heim von der letzten Reform profitiert. Sieben | |
Vollzeitstellen kamen im Laufe des Jahres zu den bis dato rechnerisch 51 | |
hinzu, berichtet Gerwig. Zum Personal gehören Fach-, Hilfs- und | |
Betreuungskräfte. Wobei in Wirklichkeit mehr Menschen im St. Elisabeth | |
arbeiten als es Vollzeitstellen gibt, denn viele der Beschäftigten arbeiten | |
in Teilzeit. | |
Die Personalaufstockung sei eine „unwahrscheinliche Entlastung“, sagt | |
Harriet Zander. Die blonde 60-jährige Altenpflegerin arbeitet seit 20 | |
Jahren in Vollzeit im St. Elisabeth. Die Überleitung der Hochaltrigen von | |
der alten Eingruppierung in „Pflegestufen“ in die neuen „Pflegegrade“ i… | |
im Bundesland Brandenburg großzügig gehandhabt worden. Wer zuvor eine | |
Pflegestufe II und eine leichte Demenz hatte, wurde sofort in den | |
Pflegegrad IV eingruppiert. | |
Rechnerisch kommt im St. Elisabeth auf 2,3 BewohnerInnen im vierten | |
Pflegegrad eine Vollzeitpflegekraft. Das klingt erst einmal nicht so | |
schlecht. Aber ein Heim ist ein Vollschichtbetrieb und Pflegekräfte haben | |
Freizeit, Wochenenden, Urlaub, werden krank, machen Fortbildung, sie müssen | |
dokumentieren, organisieren. Deshalb bekommt eine Bewohnerin im vierten | |
Pflegegrad nur rund 80 Minuten reine Pflegezeit am Tag. Im dritten | |
Pflegegrad sind es noch 60 Minuten. | |
In dieser Zeit muss man BewohnerInnen wie der zarten Renate Tüllnitz* beim | |
Aufstehen, Waschen, An- und Auskleiden, beim Kämmen, Zähneputzen, beim Gang | |
zur Toilette helfen, sie beim Gang zum Essen, und sie vielleicht sogar beim | |
Essen, unterstützen. Und all das mehrmals am Tag. Nur einmal in der Woche | |
wird geduscht oder gebadet. Natürlich bleibt immer zu wenig Zeit. | |
„Mir gefällt es hier“, sagt Renate Tüllnitz. Harriet Zander hat sie nach | |
der Mittagsruhe aus dem Bett ihres Doppelzimmers geholt. Tüllnitz, über 90 | |
Jahre alt, trippelt am Rollator in Richtung der großen Wohnküche. Es ist | |
Kaffeezeit. Eine freundliche alte Dame ist sie, aber sehr schwach auf den | |
Beinen. | |
## Der Pflegeaufwand lässt sich kaum kalkulieren | |
„Der Pflegeaufwand kann bei den Bewohnern sehr unterschiedlich sein“, sagt | |
Guido Schröder, „das A und O ist die Klientel.“ Der 40-jährige Altenpfleg… | |
mit dem hellwachen Blick leitet im St. Elisabeth eine Wohngruppe mit 39 | |
Menschen. Er kennt die schwierigeren Fälle unter den BewohnerInnen, von | |
denen zwei Drittel eine sogenannte „eingeschränkte Alltagskompetenz haben“, | |
also leichter oder schwerer verwirrt sind. Was tun, wenn Bewohner aggressiv | |
werden, wenn sie sich selbst mit ihren Ausscheidungen beschmutzen, wenn sie | |
unaufgefordert in andere Zimmer gehen, wenn sie weglaufen, wenn sie | |
wackelig sind, aber unvorsichtig, und daher ständig Gefahr laufen, zu | |
stürzen und sich etwas zu brechen? Dann stößt jedes Pflegeheim an Grenzen. | |
„Eine Eins-zu-eins-Betreuung kann es nicht geben“, sagt Zentrumsleiter | |
Gerwig. Eine Fixierung ist für ihn keine Lösung. Und Medikamente darf man | |
nicht im Übermaß verabreichen, um Leute ruhig zustellen, obwohl schlechte | |
Heime genau dies tun. | |
Gerwig plädiert für mehr Akzeptanz der Gebrechlichkeit und der | |
Verwirrtheit, auch wenn das Risiken mit sich bringt. „Menschen sollten ihre | |
Autonomie behalten“, sagt er, der selbst jahrelang als Altenpfleger | |
praktisch tätig war, „ich sage den Angehörigen immer, die absolute | |
Sicherheit gibt es nicht. Kinder fallen hin und auch alte Menschen haben | |
ein Recht auf Sturz.“ Autonom sollen die Leute auch während der Mahlzeiten | |
bleiben. „Wenn ein alter Mensch ablehnt, zu essen und zu trinken, muss man | |
das bis zu einer gewissen Grenze akzeptieren lernen“, sagt Gerwig. Im St. | |
Elisabeth haben nur sehr wenige BewohnerInnen eine Magensonde und werden | |
künstlich ernährt. | |
## Unendlicher Bedarf, endliches Personal | |
Jedes Heim kann nur ein Kompromiss sein zwischen dem latent unendlichem | |
Bedarf der Gebrechlichen und dem immer endlichem Personaleinsatz. Bei | |
diesem Kompromiss helfen seit der Pflegereform die zusätzlichen | |
Betreuungskräfte. Im St. Elisabeth arbeiten fast jeden Tag drei Frauen im | |
Schichtdienst, sie haben mehrmonatige Schulungen hinter sich. Diese Frauen | |
pflegen nicht mit, helfen aber bei der Essensausgabe, bieten | |
Gedächtnistraining, Stuhlgymnastik und sogar eine Trommelgruppe an. | |
Menschen, die bettlägerig sind, „bekommen durch uns Besuch, jeden Tag zehn | |
Minuten“, sagt Betreuerin Gabriele S. Längere Einzelbetreuungen sind | |
allerdings nur zwei- bis dreimal in der Woche möglich. „Da muss man | |
realistisch sein“, meint Schröder. | |
Auch im St. Elisabeth wird in der Nacht die Besetzung sehr dünn. Nur eine | |
Pflegekraft ist dann für 40 Bewohner zuständig. „Zwei Kräfte wären besser… | |
sagt Schröder, „aber das kriegt man nicht finanziert.“ Über die | |
Personalschlüssel entscheiden die Sozialbehörden und die Pflegekassen im | |
Gespräch mit den Verbänden der Heimbetreiber. | |
Bei der Personalbemessung geht es auch um den Respekt vor der Freizeit des | |
Personals, im Pflegejargon „Frei“ genannt. Immer wieder kurzfristig aus dem | |
„Frei“ geholt zu werden, weil Kolleginnen ausfallen, ist der erste Schritt | |
zum Burn-out. „Früher wurden die Mitarbeiter aus dem Urlaub geholt, wenn | |
jemand krank wurde“, berichtet Schröder, „das hat sich verbessert. Jetzt | |
arbeiten wir viel mit Leasingkräften, wenn jemand ausfällt.“ Die Heime | |
können sich nicht mehr leisten, ihre Beschäftigten durch ein Burn-out zu | |
verlieren. In der Branche herrscht Fachkräftemangel. | |
## Erleichterung nach dem Ende des Dokumentatioswahns | |
Schröder hat noch den Dokumentationswahn der vergangenen Jahre erlebt. Bis | |
vor einiger Zeit musste in den Heimen jeden Tag jede Verrichtung an jedem | |
Bewohner in großen Dokumentenmappen abgehakt werden. Die PflegerInnen | |
führten „Trinkprotokolle“ über die Flüssigkeitsaufnahme jeder BewohnerIn. | |
Doch die Patienten tranken dadurch auch nicht mehr. Bei den | |
Dokumentationspflichten „wurde abgespeckt“, berichtet Schröder. Heute wird | |
die Pflege individuell unterschiedlich und oft nur noch in bestimmten | |
Zeitabständen dokumentiert. | |
Kräfte- und zeitsparend wirken auch moderne Hilfsmittel. Manche Betten im | |
St. Elisabeth kann man tief hinunterfahren bis fast zum Boden, das | |
reduziert das Risiko, sich beim Sturz aus dem Bett zu verletzen. Kleine | |
fahrbare Hebekräne helfen Pflegekräften, schwergewichtige Bewohner in den | |
Rollstuhl zu hieven. „Eine echte Verbesserung“, meint Zander, „sonst | |
bekämen wir manche Bewohner kaum noch aus dem Bett.“ Speziell gepolsterte | |
Hüfthosen schützen alte Menschen bei einem Sturz vor schweren Verletzungen. | |
Das wichtigste für die BewohnerInnen bleibt aber immer der Kontakt. „Hallo, | |
Schwester Harriet“, begrüßt Helene Reifenstein* Zander, die sie nach der | |
Mittagsruhe zum Kaffee holt. Zander umfasst sie, hilft ihr auf vom Bett. | |
Sie streicht ihr über die Wange. Reifenstein strahlt. Die gepflegte | |
Wasserwelle der 90-Jährigen fällt auf. Im Gebäudekomplex residiert ein | |
Frisör. | |
Vielleicht muss man die Perspektive ändern. Gebrechlichkeit ist eine | |
Lebensform wie andere auch. Die Nationale Initiative zur Suizidprävention | |
warnte einmal Journalisten davor, die Pflegeheime permanent schlecht zu | |
reden. Manche Medien seien mitschuldig daran, dass sich so viele | |
gebrechliche Hochaltrige aus Angst vor dem Heim umbringen würden, hieß es. | |
## „Passivität bedeutet nicht fehlende Pflegequalität“ | |
Sicher, auch im St. Elisabeth sitzen oder liegen die BewohnerInnen viel | |
herum, am Nachmittag läuft in einigen Zimmern der Flachbildfernseher, der | |
Tag wird durch die vier Mahlzeiten inklusive Kaffee strukturiert. Jeder | |
Bewohner muss den Anblick der anderen Gebrechlichen ertragen. Aber Gerwig | |
warnt davor, die Maßstäbe der Jüngeren anzulegen. „Ein über 90-Jähriger | |
empfindet das anders als ein junger Mensch, wenn er ruhig im Rollstuhl | |
sitzt und in die Gegend schaut“, meint der Zentrumsleiter, „Passivität | |
bedeutet nicht fehlende Pflegequalität.“ | |
*Die Namen der BewohnerInnen wurden geändert | |
27 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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