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# taz.de -- Fahndungsersuchen der Türkei: Kein Weg zurück dank Interpol
> Der Hamburger PKK-Dissident Selim Çürükkaya wollte für zwei Wochen in den
> Nordirak fliegen. Jetzt sitzt er schon über zwei Monate in Erbil fest.
Bild: Fragwürdigen Vorwürfen ausgesetzt: der deutsch-türkische Schriftstelle…
Selim Çürükkaya hat jetzt Zeit für sein neues Buch. Er ist im Gästezimmer
von Bekannten untergekommen und schreibt dort über seinen kleinen Bruder,
dessen Leben fast noch bewegter verlief als sein eigenes. Nach dem
Aufstehen macht Çürükkaya seine Gymnastik, nach dem Frühstück setzt er sich
dann an den Computer und schreibt bis zum Abend durch: über Saids Zeit in
der PKK, seine Flucht nach Deutschland, seine Rückkehr als Peschmerga und
die Mine des IS, die ihn vor zwei Jahren vor Mossul tötete. Es wird ein
dickes Buch. Aber wenn Selim Çürükkaya Pech hat, ist es fertig, bevor er
aus dem Gästezimmer wieder auszieht.
Der Schriftsteller aus Hamburg hat nämlich ein Problem: Der 63-jährige
Deutsche sitzt seit September in Erbil fest. Während einer Reise in den
Nordirak erfuhr der Erdoğan-Kritiker, dass die türkischen Behörden über
Interpol weltweit nach ihm fahnden lassen. Zwar setzen weder die Behörden
in Erbil noch die in Deutschland das Festnahmeersuchen um. Aber würde sich
Çürükkaya auf den Weg zurück nach Hamburg machen, könnte er unterwegs
hinter Gittern landen.
Seine Situation erinnert an die des Kölner Autors Doğan Akhanlı. Die Türkei
hatte auch ihn über Interpol suchen lassen, im August wurde er deshalb in
Spanien festgenommen, erst im Oktober durfte er zurück nach Deutschland.
Der Fall löste Empörung aus, da er zeigte, wie autoritäre Regierungen die
Interpol-Struktur missbrauchen können, um Kritiker mit fragwürdigen
Vorwürfen in Schwierigkeiten zu bringen. Liefert der Fall Çürükkaya jetzt
den nächsten Beleg für die Anfälligkeit des Fahndungssystems?
Die Türkei beschuldigt den Hamburger, Terroraktionen einer
PKK-Splittergruppe unterstützt zu haben. Tatsächlich war der Schriftsteller
einst Funktionär der kurdischen Arbeiterpartei und saß deshalb elf Jahre in
türkischen Gefängnissen. Vor einem Vierteljahrhundert brach er aber mit ihr
und fiel bei seinen ehemaligen Genossen in Ungnade. „Meinen Freund Selim
heute wegen seiner Vergangenheit zur Fahndung auszuschreiben ist absurd.
Interpol macht sich wieder mal zum Handlanger von Erdoğans
Verfolgungswahn“, sagt der Journalist Günter Wallraff, der Çürükkaya 1995
kennenlernte und monatelang in Köln versteckte, um ihn vor der PKK zu
schützen.
Kurz zuvor hatte sich der Schriftsteller selbst in Lebensgefahr gebracht –
mit einem Buch, in dem er seine eigene Geschichte erzählte: Çürükkaya wuchs
als Sohn einer kurdischen Familie im Osten der Türkei auf und war
Gründungsmitglied der PKK. 1980 landete er deshalb im Knast, erst 1991 kam
er frei und ging zurück in den Untergrund.
Was er in den Monaten danach in einem PKK-Camp erlebte, schockierte ihn. In
seinen Augen hatte sich die Gruppe unter Abdullah Öcalan zu einer
stalinistischen Sekte entwickelt. Wer Kritik wagte, landete im Kerker oder
wurde direkt erschossen. Da war zum Beispiel ein ehemaliger Mitgefangener,
der nach seiner Haftentlassung ebenfalls seine Illusionen verlor und sich
anderes als Çürükkaya direkt von Öcalan abwandte. Der Mann gründete eine
neue Gruppe und nannte sie „PKK/Wejin“. Zu Deutsch: Neugeburt. Er wollte
den Krieg gegen die Türkei fortsetzen, ohne dem despotischen Parteichef zu
folgen.
Die PKK verurteilte ihn dafür im Sommer 1991 zum Tode, eine Woche später
wurde er erschossen. Çürükkaya selbst hatte für die Hinrichtung plädiert,
obwohl er seinem ehemaligen Mithäftling insgeheim zustimmte. „Wenn ich
gesagt hätte, was ich dachte, hätte es mir den Kopf gekostet“, schrieb er
später in seinem Buch.
Çürükkaya fügte sich zwei Jahre lang, wurde als Funktionär nach Deutschland
geschickt und kümmerte sich hier nach eigenen Angaben um die Propaganda der
PKK. Erst 1993 setzte er sich ab, schrieb sein Buch und landete damit
selbst auf der Todesliste der Organisation. Er versteckte sich in
Deutschland, erhielt Asyl und später die Staatsbürgerschaft.
## Zwischen den Stühlen
Seitdem sitzt Çürükkaya zwischen den Stühlen: Er schreibt weiter gegen
Öcalan an, für dessen Anhänger er ein Verräter bleibt. Gleichzeitig
kritisiert er in seinen Texten den türkischen Staat, zuletzt in der Woche
vor seiner Reise nach Erbil. Weil türkische Behörden das Grab seines
Bruders mit dem Bulldozer platt gemacht hatten, verfasste Çürükkaya einen
offenen Brief an Präsident Erdogan. „Vergessen Sie nicht, dass auch Sie das
Ende eines jeden Tyrannen treffen wird“, schrieb er.
Vielleicht liegt es an solchen Sätzen, dass der türkische Staat dem
PKK-Dissidenten nie verziehen hat. Laut Çürükkaya liegt in der Türkei seit
Jahren ein Haftbefehl gegen ihn vor. Die Staatsanwaltschaft beschuldige ihn
der antitürkischen Propaganda. Dass er auch im Ausland Probleme bekommen
könnte, ahnte er erstmals vor vier Jahren, als er mit seiner Familie in den
Urlaub flog: In Tunesien, erzählt Çürükkaya, hielten ihn Grenzpolizisten
vier Stunden am Flughafen fest, dann setzten sie ihn in den nächsten
Flieger zurück nach Deutschland. Gründe nannten sie nicht.
Reisen in den Nordirak schienen aber sicher. Çürükkaya ist öfters in der
kurdischen Autonomieregion, die Sicherheitskräfte hielten ihn nie auf. Auch
als er am 19. September von Düsseldorf nach Erbil fliegt, läuft alles wie
immer. Er will an einer Gedenkfeier zum Todestag seines Bruders teilnehmen
und zwei Wochen später zurück nach Deutschland fliegen.
Ein Zufall bringt seine Pläne durcheinander. Am 25. September halten die
Kurden der Autonomieregion ein Referendum ab und stimmen für die
Unabhängigkeit vom Irak. Die Zentralregierung in Bagdad verhängt als
Reaktion eine Blockade gegen den Flughafen von Erbil. Seitdem gibt es von
dort keine Passagierflüge. Will Çürükkaya ausreisen, muss er nach Bagdad
fahren und von dort fliegen.
Wegen der Erfahrung in Tunesien zögert er aber. Was, wenn ihn die Polizei
in Bagdad in eine Zelle steckt und an die Türkei ausliefert? Um
sicherzugehen, lässt er sich einen Termin im deutschen Konsulat geben und
trägt dort seine Geschichte vor. Einen Tag später kommt eine E-Mail aus der
Rechtsabteilung: „Erkundigungen haben ergeben, dass ein weltweites
Fahndungsersuchen (Red Notice) der türkischen Behörden hinsichtlich
Tatvorwürfen im Zusammenhang mit der PKK vorliegt.“
## Die Frage der „Red Notice“
Eine Red Notice kann jedes Interpol-Mitgliedsland über das
Generalsekretariat der Organisation verbreiten. Den anderen Mitgliedern
steht es dann frei, ob sie die gesuchte Person festnehmen und ausliefern.
Zuvor prüft die Interpol-Zentrale zwar, ob das Ersuchen den Statuten
entspricht; Fälle politischer Verfolgung soll sie eigentlich aussortieren.
In der Praxis rutschen aber immer wieder fragwürdige Fahndungen durch.
Was genau in der Red Notice gegen Çürükkaya steht? Mitte November erhält
sein Anwalt in Deutschland Auskunft vom Bundeskriminalamt. Schon am 14.
Juni 2011 ging demnach das türkische Ersuchen beim BKA ein. Der Vorwurf:
„Finanzierung von Kalashnikovs samt Munition im Zusammenhang mit der
PKK/Wejin in den Jahren 1991–1995.“ In dem Schreiben folgt eine Liste mit
21 Attentaten, die die Bande im gleichen Zeitraum ausgeführt haben soll.
PKK/Wejin? Das ist die Gruppe, die sich 1991 gegen Öcalan erhoben hatte und
deren Anführer mit Çürükkayas Zustimmung sterben musste, obwohl dieser
inhaltlich mit ihm auf einer Linie lag. Ist es denkbar, dass der
Schriftsteller die Zelle nach seinem Bruch mit Öcalan unterstützte und in
Deutschland Geld für Waffen sammelte?
„Das ist eine große Lüge. Ich war nie Teil der PKK/Wejin“, sagt Çürükk…
Mehr noch: Nach der Hinrichtung des Anführers 1991 sei die Splittergruppe
am Ende gewesen, bewaffnete Angriffe habe sie danach nicht mehr ausgeführt.
Tatsächliche liegen keine Belege für Attentate vor. Entsprechend setzten
die deutschen Behörden das türkische Fahndungsersuchen weder um, noch
stellten sie Çürükkaya in Deutschland vor Gericht. Zunächst halfen sie ihm
aber auch nicht: 2011 informierten sie ihn weder über die Red Notice, noch
drängten sie bei Interpol auf die Löschung.
Erst diesen November, nach Çürükkayas Besuch im Konsulat, werden sie aktiv.
Das BKA teilt Interpol am selben Tag mit, dass Deutschland dem Gesuchten
Asyl gewährte und ihn später eingebürgerte. Die deutsche Botschaft wendet
sich an die irakische Polizei und versucht, freies Geleit auszuhandeln.
Erfolglos: Mitte Dezember erhält Çürükkaya aus dem Konsulat die Auskunft,
dass „eine Ausreise über Bagdad für Sie im Moment nicht ohne
Schwierigkeiten möglich sein wird“.
So wird das Gästezimmer in Erbil für den Schriftsteller zum Wartesaal.
Vielleicht wird Interpol das Fahndungsersuchen gegen ihn irgendwann
löschen. Einen Antrag darauf hat sein Anwalt gestellt. Die Entscheidung
kann aber dauern.
Ansonsten bleibt Çürükkaya nur die Hoffnung, dass aus Erbil irgendwann
wieder Flüge nach Deutschland starten. Die Regierung in Bagdad müsste dafür
die Sperre des Luftraums aufheben. Diese Entscheidung kann aber noch länger
dauern.
20 Dec 2017
## AUTOREN
Tobias Schulze
Ali Çelikkan
## TAGS
Schwerpunkt Türkei
Interpol
PKK
Doğan Akhanlı
Doğan Akhanlı
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in Köln lebende Schriftsteller nach Deutschland zurück.
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