| # taz.de -- Feminismus in der Türkei: Aufstand der Frauen | |
| > Die größten Hoffnungen, eine gerechtere Türkei zu schaffen, ruhen auf der | |
| > starken Frauenbewegung. Ein Porträt. | |
| Bild: Plakate für den 8. März: „Liebe deine Vagina“ und „Der Mann schl�… | |
| Fast täglich steigt die Zahl der Fälle von Gewalt gegen Frauen und | |
| Frauenmorden in der Türkei. Im Jahr 2017 wurden der Statistik des Vereins | |
| „Kadın cinayetlerini durduracağız platformu“ („Wir werden die Frauenmo… | |
| stoppen“) zufolge 409 Frauen umgebracht, 332 Frauen waren sexualisierter | |
| Gewalt und 387 Kinder Missbrauch ausgesetzt. Frauen erleben im Alltag | |
| zahllose Übergriffe, die sie nicht mehr schweigend hinnehmen. | |
| Trotz des seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 verhängten | |
| Ausnahmezustands wächst die Bewegung der Frauen von Tag zu Tag. Zahlreiche | |
| Frauenorganisationen wie die „Campus-Hexen“, die „Frauen-Parlamente“ und | |
| die Plattform „Frauen sind gemeinsam stark“ haben Informationsstände an den | |
| Universitäten und verteilen auf den Straßen Broschüren. „Frauensolidarität | |
| bewahrt Leben“ ist nur eines der Motti, unter dem Frauen zusammenkommen, | |
| mit eigenen Mitteln Transparente gestalten und an Demonstrationen | |
| teilnehmen. | |
| Stets waren die Frauen auf der Straße: bei Gerichtsverhandlungen zu den | |
| vielen Frauenmorden im vergangenen Jahr, wenn ein Kind sexuell missbraucht | |
| wurde, um sich mit den Frauen im Iran zu solidarisieren, die ihr Kopftuch | |
| ablegen wollen, und für den Protest „Misch dich nicht in meine Kleidung | |
| ein“. | |
| ## „Misch dich nicht in meine Kleidung ein“ | |
| Mit dem herrschenden Ausnahmezustand sind Versammlungen und Demonstrationen | |
| verboten. Trotzdem firmierte sich am vergangenen Internationalen Frauentag, | |
| dem 8. März, ein überwältigender Protest. Zehntausende Frauen versammelten | |
| sich auf der İstiklal-Straße in Beyoğlu, Istanbul. Auch in den folgenden | |
| Monaten rissen die Frauenproteste nicht ab. Nachdem mehrere Frauen im | |
| öffentlichen Nahverkehr attackiert wurden, unter anderem, weil sie Shorts | |
| trugen, solidarisierten sich am 29. Juli 2017 Frauen auf Istanbuls Straßen, | |
| um gegen die männlichen Eingriffe in ihren Lebensstil zu protestieren. | |
| So wie im Istanbuler Stadtteil Kadıköy auf der asiatischen Seite. Dort | |
| organisierten sie die Aktion „Misch dich nicht in meine Kleidung ein“. | |
| Zeitgleich forderte ein Parkwächter am gegenüberliegenden Istanbuler Ufer | |
| im Maçka-Park eine Frau auf, den Park zu verlassen. So wie sie gekleidet | |
| sei, dürfe sie dort nicht spazieren gehen. Diesmal strömten am nächsten Tag | |
| Frauen in diesen Park und just am selben Tag wurde der Parkwächter | |
| suspendiert. | |
| Am Gerechtigkeitsmarsch von Ankara nach Istanbul, initiiert von der größten | |
| Oppositionspartei CHP im vergangenen Sommer, nahmen mehr als 70 | |
| Frauenorganisationen teil. In Gebze gedachten sie zusammen Pippa Bacca. Die | |
| italienische Aktionskünstlerin wurde zehn Jahre zuvor in der Nähe von Gebze | |
| auf ihrer „Friedensreise“ vergewaltigt und ermordet. | |
| Am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, | |
| versammelten sich erneut Tausende Frauen zu einer Demonstration im | |
| Istanbuler Stadtteil Beyoğlu. | |
| ## Erfolge und Rückschläge | |
| Mit diesen und weiteren Protesten errangen Frauen in der Türkei zahlreiche | |
| Erfolge. Am 22. November 2016 musste die AKP-Regierung aufgrund des | |
| gesellschaftlichen Drucks den Gesetzentwurf zurückziehen, nach dem Täter | |
| bei Vergewaltigung und sexuellem Missbrauch straffrei ausgehen sollten, | |
| wenn sie das Opfer heiraten. | |
| Abdullah Çakıroğlu, der die Krankenschwester Ayşegül Terzi in einem | |
| städtischen Bus in Istanbul mit Fußtritten malträtiert hatte, weil sie | |
| Shorts trug, war zweimal verhaftet und beide Male wieder freigelassen | |
| worden. Frauenorganisationen ließen nicht locker und beobachteten den | |
| Prozess. Bei der Verhandlung am 7. September 2017 verurteilte das Gericht | |
| den zu diesem Zeitpunkt auf freiem Fuß befindlichen Täter zu drei Jahren | |
| und zehn Monaten Haft. | |
| Die Umsetzung der „rosa Busse“, mit denen Frauen im öffentlichen Nahverkehr | |
| getrennt von Männern transportiert werden, stand im Fokus der | |
| Frauenbewegung. Der „rosa Waggon“ in der U-Bahn von Bursa, der im Juni 2017 | |
| eingeführt wurde, musste im Januar 2018 wieder eingestellt werden. Frauen | |
| hatten sich sechs Monate lang mit Stickern und Protesten unter dem Motto | |
| „Wir werden das nicht erlauben“ gegen den Waggon gewehrt. | |
| Trotz des Widerstands der Frauen sind allerdings auch Rückschritte zu | |
| verzeichnen. Im eher konservativen Malatya im Südosten des Landes, konnte | |
| der „rosa Bus“ trotz des Widerstands von Frauenorganisationen und | |
| zahlreichen Abgeordneten nicht verhindert werden. Seit September 2017 | |
| fahren in Malatya „rosa Trambusse“. | |
| ## Strafmilderung durch Krawatte | |
| Zuletzt verabschiedete das Parlament am 18. Oktober die als „Mufti-Gesetz“ | |
| bekannte Vorlage, nach der Muftis fortan zur Eheschließung ermächtigt sind, | |
| nachdem Staatspräsident Erdoğan gesagt hatte: „Das geht durch, ob ihr es | |
| nun wollt oder nicht.“ | |
| Die erste Ehe schloss der Mufti Ahmet Durmuş im Kreis Bismil, Diyarbakır am | |
| 16. November 2017 „mit Gebeten“ und dem Spruch: „Ich habe acht Kinder, | |
| bekommt ihr mindestens fünf.“ Das staatliche Präsidium für | |
| Religionsangelegenheiten Diyanet erklärte allerdings, dass die Formalitäten | |
| für die Kompetenzen zur Eheschließung vom Innenministerium noch gar nicht | |
| abgeschlossen seien. Damit ist die erste auf diese Weise geschlossene Ehe | |
| ungültig. | |
| Derzeit steht auf der Agenda der Frauenorganisationen das Gesetz Nr. 6284: | |
| „Gesetz zum Schutz der Familie und zur Vermeidung von Gewalt gegen Frauen“. | |
| Die islamistische Zeitung Akit titelte: „Ändert 6284! Es zerstört die | |
| Familie“. Zugleich kämpfen die Frauen weiter dagegen, dass Frauenmörder und | |
| Vergewaltiger eine Strafminderung aufgrund „mildernder Umstände“ erhalten | |
| können, wenn sie vor dem Richter in Anzug und Krawatte erscheinen. | |
| Rüya Kurtuluş von den Frauenorganisationen der „Halk Evleri“, Volkshäuse… | |
| die in der Türkei in vielen zivilgesellschaftlichen Feldern tätig sind, | |
| sagt, Frau zu sein bedeute, sich durch das Leben zu kämpfen: „Stellen Sie | |
| sich ein Land vor, wo Sie entweder den gesellschaftlichen Regeln und | |
| Zwängen gehorchen und sich in ein ungewolltes Leben sperren lassen, oder | |
| Sie verweigern den Gehorsam. Wehren sich, organisieren sich und ziehen | |
| Kraft aus der Solidarität. Wir Frauen haben uns für den zweiten Weg | |
| entschieden.“ | |
| ## Auch konservative Frauen wehren sich | |
| Am 12. Oktober, als in Ankara über das Mufti-Gesetz abgestimmt werden | |
| sollte, zogen zahllose Frauen aus der ganzen Türkei vor das Parlament, nach | |
| der Verabschiedung des Gesetzes hagelte es in den sozialen Medien und | |
| Mailnetzwerken weiter Aktionsaufrufe. | |
| Rüya Kurtuluş betont, der Widerstand gegen das Mufti-Gesetz und die | |
| Auswirkungen ähnlicher repressiver Politiken auf das Alltagsleben gehe | |
| weiter. In der Türkei hätten erstmals Geistliche Vollmachten im Bereich des | |
| Zivilrechts erhalten. Dagegen wehren sich auch viele konservative Frauen. | |
| Die AKP-Frauen zögen es allerdings vor, dem „Befehl des mächtigsten Mannes�… | |
| gegenüber zu schweigen, sagt Kurtuluş. Dennoch interpretiert sie es als | |
| Beleg für die Wucht, mit der dieses Gesetz das Leben von Frauen | |
| attackiert, dass keine einzige der weiblichen AKP-Abgeordneten für das | |
| Gesetz eingetreten sei. | |
| Die Protestaktionen gegen das Gesetz gingen weiter, erklärt Kurtuluş und | |
| meint: „Gesetze werden gemacht und geändert, neue werden aufgelegt. | |
| Hauptsache, wir organisieren uns und widersprechen kräftig. Frauen sind | |
| gemeinsam stark.“ Die Türkei brauche eine nachhaltigere Frauenbewegung und | |
| feministische Politik; der feministische Kampf stehe noch ganz am Anfang, | |
| so Kurtuluş. | |
| ## Feministische Selbstverteidigung | |
| „Wir werden auf viele Arten angegangen, und zwar massiv. Die Frauenbewegung | |
| in der Türkei schafft es, auf diese Attacken zu reagieren. Um den | |
| feministischen Kampf auszuweiten, sollten sich die Frauen im ganzen Land | |
| organisieren“, sagt Kurtuluş. „Vereinzelter Widerstand reicht nicht aus, um | |
| unser Leben zu verteidigen. Wir brauchen eine feministische | |
| Selbstverteidigungsorganisation, in der wir Kraft voneinander beziehen. | |
| Dafür müssen wir den Boden für eine Gegenbewegung bereiten, die ihre eigene | |
| Politik schafft.“ | |
| Die Istanbuler Feministin Filiz Karakuş, seit Jahren in der Frauenbewegung | |
| aktiv, betont, dass Frauen in der Türkei seit über dreißig Jahren bereits | |
| eigene Kommunikationsnetze und die nötige Organisationspraxis haben. | |
| Es sei vor allem die Politik der Regierungspartei AKP, die jetzt erneut | |
| Frauen auf die Beine gebracht habe. Der Anstoß einer einzigen Frau oder | |
| Gruppe genüge, um viele gegen eine Sache zusammenzubringen. „Geht es um die | |
| Interessen von Frauen, reihen sich sogleich Frauen aus anderen politischen | |
| Gruppen in den Kampf ein. So bildet sich eine Basis, auf der Frauen | |
| zusammenkommen“, meint sie. | |
| Für Filiz Karakuş ist die gelebte Frauensolidarität „ein Teil von uns, an | |
| dem wir mit Macht festhalten“. Sie prognostiziert: „Frauen werden sich | |
| weiter organisieren und Öffentlichkeit einfordern. Es gibt kein Zurück!“ | |
| Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe | |
| 5 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Dilek Şen | |
| ## TAGS | |
| taz.gazete | |
| Toplum | |
| Feminismus | |
| Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
| Schwerpunkt Feministischer Kampftag | |
| Türkei | |
| Feminismus | |
| taz.gazete | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Demo am Frauen*kampftag: Widerstand mit Wunderkerzen | |
| Mehrere tausend Menschen ziehen am Weltfrauentag von Neukölln nach | |
| Kreuzberg. Die Themen reichen von #metoo über Abtreibungsrecht bis Armut. | |
| Demonstrationen am Frauentag: Zehntausende gehen auf die Straße | |
| Weltweit protestieren Frauen gegen ungleiche Bezahlung, sexuelle Übergriffe | |
| und Gewalt. Die Demonstrationen verlaufen weitgehend friedlich. | |
| Frauenstreik in Spanien: Weder arbeiten noch putzen | |
| Tausende Frauen treten am Frauentag in den Ausstand. Sie protestieren gegen | |
| Benachteiligung im Job und häusliche Gewalt. | |
| Außenminister Çavuşoğlu in Berlin: Werbung für Türkeireisen | |
| Außenminister Gabriel trifft erneut seinen türkischen Amtskollegen. Dieser | |
| hofft auf mehr Touristen in der Türkei. | |
| Regisseurin über Ökofeminismus-Thriller: „Wut ist hyperpräsent“ | |
| Der neue Film von Agnieszka Holland wird kontrovers aufgenommen. Ein | |
| Gespräch über Ökologie, Feminismus und Künstler als Staatsfeinde. |