| # taz.de -- Brexit und Irland: Eine Insel auf der Insel | |
| > Mitten in Irland liegt die kleine irische Exklave Drummully. Ihre | |
| > Bewohner fürchten die Grenze, die wieder kommen könnte. | |
| Bild: Eine Grenze, die keine Grenze ist, aber wieder zur Grenze werden könnte | |
| Drumully taz | An den Verkehrszeichen erkennt man, ob man in der Republik | |
| Irland oder in Nordirland ist. Im Norden wird die Geschwindigkeit in Meilen | |
| gemessen, im Süden in Kilometern. Aber es gibt nur wenige Verkehrszeichen | |
| in dieser Gegend, die vor allem von Moor und Kalkstein geprägt ist. | |
| Drummully Polyp heißt dieser Ort. Es ist eine südirische Exklave, die wie | |
| ein Pickel – oder eben ein Polyp – nach Nordirland hineinragt. Wer hierher | |
| will, muss durch das britische Nordirland fahren. Die merkwürdigen | |
| Verhältnisse hier stammen aus dem Mittelalter. Damals verloren die Maguires | |
| im nordirischen Fermanagh Drummuly an den McMahon-Clan in der südirischen | |
| Grafschaft Monaghan. | |
| Bis zur Teilung Irlands nach dem Unabhängigkeitskrieg 1921 spielte das | |
| keine Rolle. Doch plötzlich war hier eine internationale Grenze. Die | |
| Eisenbahn von Clones nach Cavan, beide in Südirland, überquerte diese | |
| Grenze sechs Mal auf einer Strecke von fünf Meilen. Die Grenzkommission, | |
| die sich 1924 mit diesem Problem beschäftigte, hielt es für einfacher, an | |
| der Sache nicht zu rühren. Damals entstand der Name „Polyp“, der etwas | |
| Schlechtes oder Bösartiges beschreibt, denn den nordirischen Unionisten, | |
| die sich britisch fühlen, war dieses knapp 20 Quadratkilometer große | |
| irische Geschwür mitten in ihrem Land suspekt. | |
| ## Eine Grenze, die nicht mehr erkennbar ist | |
| Seit dem Friedensprozess, der 1998 in das Belfaster Abkommen mündete, das | |
| Katholiken Mitspracherechte in nordirischen Angelegenheiten einräumt, ist | |
| die Grenze wieder unwichtig. Sie ist nicht erkennbar. Von Cavan führt die | |
| Nationalstraße N54 nach Clones. Unterwegs, im britischen Nordirland, wird | |
| sie zur A3; in Drummully, Republik Irland, wieder zur N54; und danach in | |
| Nordirland bis zur Grenze wieder zur A3. | |
| Wenn man von Cavan kommt, liegt auf der linken Straßenseite eine | |
| Tankstelle, „Low Low Fuels“. Benzin wird hier nicht verkauft, nur Diesel | |
| und Billigdiesel für Landmaschinen. „Für Benzin braucht man einen | |
| unterirdischen Tank“, sagt Tankwart Seán McGeeney. „Das lohnt sich hier | |
| nicht, denn im Süden ist das Benzin viel billiger.“ | |
| Die Tankstelle liegt also in Nordirland. Darauf deutet auch der kleine | |
| angeschlossene Laden für Feuerwerkskörper hin, denn in Südirland dürfen die | |
| nicht verkauft werden. Sarah Smyth steht hinter dem Verkaufstresen. Die | |
| 33-Jährige, die ihre dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden | |
| hat, trägt einen dicken Schal, denn sie ist erkältet, und im Laden ist es | |
| nicht sonderlich warm. An den Wänden hängen Vitrinen, in denen die bunten | |
| Raketen ausgestellt sind. Böller werden nicht verkauft, steht auf einem | |
| Schild. | |
| „Der Laden gehört meiner Mutter“, sagt sie. „Ich helfe nur öfter aus.�… | |
| liebt den Job, weil man ständig neue Leute kennenlernt. Kommen denn viele | |
| Kunden aus der Republik? „Nein, das ist streng verboten“, sagt sie. „Wer | |
| Feuerwerkskörper kaufen will, muss in Nordirland wohnen und Wochen vorher | |
| ein Formblatt beim britischen Justizministerium einreichen, auf dem genau | |
| einzutragen ist, wann und wo welche Art von Feuerwerk aus welchem Anlass | |
| und mit wie vielen Zuschauern gezündet werden soll.“ | |
| Lohnt sich der Laden dann überhaupt? „Doch“, sagt Smyth, „wir haben täg… | |
| offen, das ganze Jahr über. Es gibt ja immer Geburtstagspartys, dann sind | |
| da auch das chinesische Neujahr, Halloween und Silvester.“ Ihre Familie | |
| stammt aus Armagh, das Elternhaus stand genau auf der Grenze: „Das | |
| Wohnzimmer lag in Nordirland, die Küche in der Republik.“ | |
| ## Die Furcht vor dem Brexit im Laden von Mrs. Smyth | |
| Smyth fürchtet den Brexit. „Es muss wohl eine Grenze geben“, glaubt sie. | |
| „Ich bin absolut gegen den Austritt aus der EU. Was passiert denn dann mit | |
| den vielen Lastwagen, die hier täglich durchfahren? Die müssten ja vier Mal | |
| kontrolliert werden, wenn sie von Cavan nach Clones auf dem kürzesten Weg | |
| fahren, denn der führt durch Drummully.“ | |
| 1837 lebten noch 667 Menschen in der Exklave, heute sind es kaum 90. Mary | |
| Rafferty ist eine von ihnen, sie ist die Königin von Drummully, sagen ihre | |
| Nachbarn. Die weißhaarige 71-Jährige ist hier geboren und hat ihr ganzes | |
| Leben hier verbracht. „Wir nennen es die Connons“, sagt sie. „Wir mögen … | |
| Wort Polyp nicht. Es ist unsere kleine Republik.“ Sie ist Witwe und hat | |
| zwei Söhne, einer lebt in Nordirland, hat aber ein Geschäft in Cavan. Der | |
| andere arbeitet bei Ryanair in Dublin. Beide besuchen sie regelmäßig in | |
| Drummully. | |
| Ein anderer Name für die Exklave ist Coleman’s Island. „Es ist ja auch eine | |
| Insel“, sagt Rafferty. Ihr Haus steht neben einer schmalen Steinbrücke, die | |
| den Ulster-Kanal überquert. „Mein Großonkel hat sie 1897 gebaut“, sagt | |
| Rafferty. Ihre Familie wohnt hier seit 1890. Das strohgedeckte Cottage ist | |
| aber längst durch ein modernes Steinhaus mit doppelt verglasten Scheiben | |
| ersetzt worden. | |
| In ihrer kleinen Küche brennt ein Feuer im eisernen Herd, der den Raum | |
| wärmt. An der Wand hängt ein Jesusbild, auf dem Tisch stehen Blumen, | |
| Rafferty hatte vor Kurzem Geburtstag. Ihre Freundin Kathleen Connolly ist | |
| zu Besuch, Rafferty hat Tee aufgebrüht. Sie erzählt von früher. | |
| ## Hier war einmal ein Schmugglerparadies | |
| „Als Kind bin ich oft am Kanal zu den Gleisen gelaufen“, sagt sie. Die | |
| Strecke wurde in den späten fünfziger Jahren stillgelegt. „Als wir etwas | |
| älter waren, mussten wir die Eier unserer Hühner in Körben über die Gleise | |
| tragen und in ein Feld laufen. Dort übergaben wir sie einem Verwandten, der | |
| sie in Nordirland verkaufte. Wir durften sie ja nicht offiziell | |
| exportieren.“ | |
| Die Gegend war damals ein Schmugglerparadies. Im Norden war zum Beispiel | |
| Butter viel billiger. „Wenn die Zöllner dich schnappten, nahmen sie dir die | |
| Butter weg“, sagt Kathleen Connolly. Die 63-Jährige hat inzwischen ihre | |
| lila Wollmütze abgenommen, weil es ihr zu warm geworden ist. „Manchmal | |
| wurden Sachen auch mit Booten über den Ulster-Kanal geschmuggelt.“ | |
| Damals haben alle in der Gegend Poteen gebrannt, sagt Rafferty. Das ist | |
| schwarzgebrannter Whiskey, der meist aus Kartoffeln hergestellt wird. Die | |
| Flaschen wurden im Moor versteckt. „Dort liegen bestimmt noch Hunderte | |
| Flaschen“, glaubt sie. „Früher gab es auch Hahnenkämpfe direkt auf der | |
| Grenze. Die waren natürlich in beiden Teilen Irlands illegal. Je nachdem, | |
| von wo Polizei anrückte, machten sich die Veranstalter in die andere | |
| Richtung über die Grenze davon.“ | |
| Es gab auch einen Laden in Drummully, direkt an der Hauptstraße. „Kennedys | |
| verkauften alles, von Geschirr und Zeitungen bis Haushaltswaren und | |
| Schinken“, sagt Rafferty. „Beim Schinken musste man vorsichtig sein, weil | |
| sie keinen Kühlschrank hatten.“ Das Geschäft schloss 1989, seitdem müssen | |
| die Menschen von Drummully zum Einkaufen die Grenze überqueren. | |
| ## Mobile Kontrollen während des Nordirland-Konflikts | |
| „So komisch es klingt“, sagt Connolly, „aber es waren schöne Zeiten, bis | |
| der Nordirland-Konflikt Ende der sechziger Jahre ausbrach.“ Während der | |
| Troubles, wie der Krieg euphemistisch genannt wurde, waren alle | |
| Nebenstraßen gesperrt. „Die Hauptstraße zwischen Cavan und Clones war zwar | |
| offen, aber man musste mit mobilen Kontrollstellen rechnen“, sagt Rafferty. | |
| „Wir waren immer etwas nervös, denn die britischen Soldaten konnten dich | |
| stundenlang festhalten, wenn sie wollten. Ich möchte das nie mehr erleben. | |
| Man sieht kaum noch britische Soldaten oder nordirische Polizisten, und das | |
| ist gut so.“ | |
| Trotz des Konflikts kamen Protestanten und Katholiken in Drummully gut | |
| miteinander aus. „Man hat sich natürlich nicht alles erzählt“, sagt | |
| Rafferty. „Aber zum Bingo oder zum Flohmarkt sind die Menschen auch in die | |
| Kirche der anderen Glaubensrichtung gegangen.“ Sie hatte zwei Onkel. Der | |
| eine war in der irischen Armee, der andere in der britischen Armee. „Er war | |
| Wachsoldat am Buckingham Palace und trug die berühmte Bärenfellmütze“, sagt | |
| sie. „Er hat uns manchmal besucht, aber aus Sicherheitsgründen hat er das | |
| nie vorher angekündigt und kam immer erst in der Dunkelheit.“ | |
| Drummully ist vom Nordirland-Konflikt relativ verschont geblieben. Aber | |
| 1973 gab es einen Zwischenfall. „Ich hörte den Knall“, sagt Rafferty. „A… | |
| Krähen flogen in die Luft. Ich wusste sofort, dass es eine Bombe war.“ Die | |
| Irisch-Republikanische Armee (IRA) hatte den Sprengsatz im Haus der Familie | |
| Nicholl versteckt, weil der Mann britischer Reservesoldat gewesen sein | |
| soll. Der war aber nicht zu Hause. „Es gab eine Warnung“, sagt Rafferty. | |
| „Unser Nachbar, Ray McAdam, war zufällig anwesend und schob Frau Nicholl | |
| durchs Fenster. Als die Bombe explodierte, wurde sie aus seinen Armen | |
| geschleudert, überlebte aber. Er war auf der Stelle tot.“ | |
| Gerry McAdam ist Ray McAdams Bruder. Er war 17 Jahre alt, als sein Bruder | |
| starb. „Es war eine furchtbare Zeit“, sagt er. „Sie darf nie wiederkommen… | |
| McAdam, ein kleiner Mann mit Brille und gelber Arbeitsjacke, hat nach der | |
| Schule verschiedene Jobs in Dublin gemacht, später arbeitete er in einer | |
| Fleischfabrik in Clones. Jetzt kümmert er sich um die Gemeindehalle neben | |
| der lokalen Grundschule, die die Halle für den Sportunterricht nutzt. Sie | |
| hat auch eine Bühne für Veranstaltungen und Gemeindeversammlungen. 2010 | |
| wurde sie von der damaligen irischen Präsidentin Mary McAleese, die aus | |
| Nordirland stammt, offiziell eröffnet. | |
| ## Eine Grenze mitten auf der Straße | |
| Barry McGuigan ist den umgekehrten Weg gegangen. „Er wurde in Clones | |
| geboren, lebt aber in Nordirland“, sagt McAdam. „Deshalb hat er für | |
| Großbritannien 1985 den Weltmeistertitel im Federgewicht geholt.“ Weil auch | |
| der 1915 gegründete lokale Boxclub von Drummully in der Gemeindehalle | |
| trainiert, kam McGuigan öfter in die Exklave. „Er war während des Konflikts | |
| ein Symbol für Frieden und Versöhnung.“, sagt McAdam, „denn er wurde sowo… | |
| in der Republik als auch in Nordirland gefeiert und verehrt.“ | |
| Er glaubt nicht, dass man die Grenze nach dem Brexit wieder dichtmachen | |
| könne. „Die Zeiten haben sich geändert“, sagt er. „Die Grenze zwischen | |
| beiden Teilen Irlands ist rund 500 Kilometer lang, es gibt mindestens 200 | |
| Straßen, die sie kreuzen. Hier in Drummully verläuft die Grenze ein Stück | |
| lang mitten auf der Straße. Wenn man in Richtung Clones fährt, ist man in | |
| Nordirland, fährt man nach Cavan, ist man in der Republik.“ | |
| Während des Konflikts war das wichtig, denn die britische Armee hatte | |
| Aufenthaltsverbote gegen einige Südiren verhängt. Hätten sie Nordirland | |
| betreten, wären sie verhaftet worden. Viele Menschen an der Grenze mussten | |
| daher Umwege in Kauf nehmen, um nicht auf nordirischen Boden zu geraten. | |
| 1980 debattierte das Dubliner Parlament darüber, ob die Hubschrauber, die | |
| Soldaten in Drummully absetzten, den britischen Hubschraubern zu sehr | |
| ähnelten und Gefahr liefen, von der IRA abgeschossen zu werden. | |
| „Nach den Troubles haben sich die Seiten angenähert“, sagt McAdam. Er ist | |
| Hausmeister für beide Kirchen in Drummully – die protestantische der Church | |
| of Ireland und die katholische, ein paar hundert Meter entfernt in einer | |
| Nebenstraße. „Die Grenze ist heute höchstens noch für Kriminelle | |
| interessant.“ | |
| ## Nur bei der Verbrecherjagd ist die Grenze noch eine Grenze | |
| Da beide Länder das Schengen-Abkommen nicht unterzeichnet haben, darf die | |
| Polizei die Grenze bei der Verbrecherjagd nicht überqueren. So sind in den | |
| vergangenen fünf Jahren mehr als 40 gesuchte Straftäter entkommen, die | |
| meisten flohen vom Norden in den Süden. „Nicht nur für die wäre eine neue | |
| harte Grenze ein Nachteil“, sagt McAdam. „Wir alle würden darunter leiden. | |
| Aber dazu wird es nicht kommen. Ich glaube, das ganze Gerede über den | |
| Brexit ist übertrieben.“ | |
| 20 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Sotscheck | |
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