| # taz.de -- Buch zum Heinrich-Böll-Jubiläum: Keiner von den Lauen | |
| > Der Schriftsteller Heinrich Böll würde 100. Germanist Schnell sieht ihn | |
| > als Kämpfer gegen verrottete Autoritäten, nicht als „Gewissen der | |
| > Nation“. | |
| Bild: Happy Birthday, Heinrich! | |
| Ralf Schnell ist Mitherausgeber der Kölner Werkausgabe Heinrich Bölls. | |
| Dass er in seinem neuen Buch den neben Heine bekanntesten Heinrich | |
| Deutschlands pünktlich zu dessen hundertstem Geburtstag am 21. Dezember | |
| aufwertet, ist also keine Sensation. Zugleich kürt der namhafte Germanist | |
| Böll aber auch zum „herausragenden Autor“ der Nachkriegszeit, und das | |
| verdient schon das Prädikat antizyklisch. | |
| Zäh hält sich das Klischee vom Kölner Gutmenschen, der unbrillant | |
| geschrieben und die Rolle des öffentlichen Intellektuellen überstrapaziert | |
| habe. Gerade weil um 1980 die ewig studentenbewegten Studienräte, Typ | |
| halber Hintern auf dem Lehrerpult, Texte des – linken, engagierten! – | |
| Nobelpreisträgers von 1972 wie einen unbezweifelbaren Wert behandelten, | |
| fanden immer mehr die Vaterfigur der 68er unbezweifelbar bezweifelbar. Der | |
| Bumerangeffekt wirkt nach. | |
| Doch wie Schnell unterstreicht, war Böll nie so vermessen, sich für eine | |
| moralische Instanz zu halten. Er regte einfach eine Revitalisierung des | |
| öffentlichen Gewissens an, etwa 1954, als er sich eine Schule wünscht, die | |
| deutsche Kinder statt mit Sagen von Kaiser Barbarossa mit der Realität von | |
| Majdanek und Treblinka bekannt macht. Den Landsleuten das moralische | |
| Minimum abzuverlangen reichte schon, um die einen vom „Gewissen der Nation“ | |
| fantasieren zu lassen und von rechts angepöbelt zu werden. | |
| Das Etikett Gutmensch wiederum verdeckt Zorn. Für den bereits 1937 auf | |
| Schriftsteller geeichten Schreinerssohn war der Krieg ein einziges Grauen; | |
| durch ihn verlor er jeden Respekt vor Institutionen und Hierarchien. Danach | |
| hatte er allen Grund zum Protest – gegen eine Nazis ungeschoren lassende | |
| Politik, Wiederbewaffnung und obrigkeitshörige Pfarrer. Wer nachliest, wie | |
| er mit dem Phrasenmäher über Adenauers Memoiren und die Sprache kirchlicher | |
| Würdenträger geht, merkt: Böll hatte Biss, trotz Baskenmütze. | |
| ## Sinnlosigkeit des bewaffneten Kampfes | |
| Fremd war ihm belehrendes Gehabe. Der Titel praeceptor Germaniae, hebt | |
| Schnell hervor, passe besser zu Walter Jens, dem Rhetorik-Professor. | |
| Stimmt, der sprach nicht, der dozierte. Böll, der 1985 starb, wirkte | |
| hingegen vertrauenerweckend; warum, zeigt die Beobachtung eines | |
| „Aspekte“-Interviews von 1975. Der Mann mit dem nachdenklichen | |
| Augenaufschlag formuliert floskelfrei, weiß die Stimme zwar energisch zu | |
| akzentuieren, verfügt aber über ein warmes Timbre. Ein früher Medienprofi, | |
| der Eindringlichkeit mit dem Charme des Unprätentiösen verbindet. Ja, das | |
| U-Wort fällt auch bei Schnell. | |
| Leitmotivisch verfolgt „Heinrich Böll und die Deutschen“, was es heißt, | |
| sich bei allem Engagement von niemandem vereinnahmen zu lassen. Weniger | |
| bekannt als die Dauerfehde des Linkskatholiken mit der Allianz von | |
| katholischer Amtskirche und CDU ist, dass er sich noch vor dem Mauerbau von | |
| den Parteischriftstellern der DDR absetzte: „Lieber Hermlin, Sie und Ihre | |
| Kollegen sind denn doch zu sehr Funktionär.“ 1963 spekuliert er geradezu | |
| auf ein Publikationsverbot durch die Genossen, als er in „Ansichten eines | |
| Clowns“ SED-Chef Ulbricht parodiert („Bardeidag“). Ein Sozialdemokrat? | |
| Mitte der Sechziger, Grass hat gerade die Es-Pe-De bedichtet, nennt Böll | |
| sie die „mieseste“ Partei, sie ist ihm zu opportunistisch. Den Remigranten | |
| Brandt mochte er, weniger dessen Verein, wie es sich für einen | |
| Antiautoritären gehört. | |
| Nur an zwei Stellen gerät Schnells hoch informatives, dabei leicht lesbares | |
| Buch zu wohlwollend. Wie der Anfang 1972 im Spiegel erschienene Artikel zur | |
| RAF verhandelt wird, überzeugt nicht ganz, auch wenn der Abschnitt heute | |
| Zwanzig- bis Vierzigjährigen Erinnernswertes einschärft: Mit seinem „6 | |
| gegen 60.000.000“ bringt der Schriftsteller die Sinnlosigkeit des | |
| bewaffneten Kampfes auf den Punkt. Aufgeben! ist die Botschaft an die | |
| selbsternannte Avantgarde. | |
| Fahrlässig verhält sich der Spiegel, der dem Text eigenmächtig den Titel | |
| „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ voranstellt, durch das Weglassen | |
| des Nachnamens eine persönliche Nähe des Autors zu Ulrike Meinhof | |
| suggeriert, die in Wirklichkeit nicht besteht. Zudem wartet Schnell mit | |
| einem bislang unveröffentlichten Brief von Böll an RAF-Anwalt Mahler auf. | |
| Es ist eine so nachdrückliche Abrechnung mit Gewalt und ihrer | |
| pseudorevolutionären Legitimation, dass die Springer-Journalisten und | |
| Unions-Politiker, die Böll als Terroristenfreund verleumdeten, noch post | |
| mortem erröten dürfen. | |
| ## Gesellschaftlich hervorgebrachtes Sprachmaterial | |
| Aber schrieb im Spiegel ein „Polemiker par excellence“? Sicher war es | |
| richtig zu skandalisieren, dass Bild im Dezember 1971 durch eine nicht | |
| verifizierte Tatsachenbehauptung Stimmung machte („Baader-Meinhof-Bande | |
| mordet weiter“). Nur nahm es der Verächter mit den Fakten nicht viel | |
| genauer. Als er eingriff, war der erste bereits im Oktober verübte | |
| Polizistenmord der RAF ihr eindeutig zurechenbar. Deshalb steckte in Bölls | |
| Rede von „verzweifelten Theoretikern“, „deren Theorien weitaus | |
| gewalttätiger klingen, als ihre Praxis ist“, Selbsttäuschung. Zu hoch | |
| gegriffen war der Begriff Theoretiker, für Baader sowieso, aber auch für | |
| Meinhofs durchgeknallte Exekutionsprosa. „Der Typ in der Uniform ist ein | |
| Schwein, das ist kein Mensch“ – der Satz, der genau so menschenverachtend | |
| klang, wie die Praxis ausfiel, entging Bölls Aufmerksamkeit. | |
| Und der „Katharina Blum“-Geschichte (1974) „sprachkünstlerische Signale�… | |
| bescheinigen? Die damit gemeinte Ironie der Erzählerstimme kommt einem arg | |
| umständlich, auch bräsig vor, und das nicht wie das einzige Manko. Stark am | |
| Bestseller gegen Bild waren die treffsicheren Schlagzeilenpersiflagen, über | |
| die sich die Welt noch 2010 ärgerte. Muss aber aus der von der Zeitung | |
| entwürdigten Katharina gleich eine arbeitsame, sparsame, gewissenhafte, | |
| fürsorgliche, sich Tanzvergnügungen so selten leistende und 1a | |
| sprachsensible Katharina werden, ist die Stilisierung von Kitsch schwer zu | |
| unterscheiden. | |
| Qualitätsschwankungen im Erzählwerk hätte Schnell ruhig einräumen können; | |
| die Vorzüge macht er deutlich genug. Furios seine Ehrenrettung von | |
| „Fürsorgliche Belagerung“, dem vom Sicherheitswahn im Deutschen Herbst | |
| handelnden Roman, den die Großkritiker 1979 als miserabel geschrieben | |
| abkanzelten. In präziser Kritik der Kritik hält sich der Verteidiger lieber | |
| an die poetologischen Auskünfte des Autors und weist die gelungene | |
| Umsetzung eines Stilprinzips nach: gesellschaftlich hervorgebrachtes | |
| Sprachmaterial so konsequent zu verarbeiten, dass an den Gemeinplätzen und | |
| Lakonismen der Figurenreden die mentalen Entstellungen im westdeutschen | |
| Bürgertum sichtbar werden. | |
| ## NS-„Eliten“ literarisch zur Rechenschaft ziehen | |
| Vor allem erklärt uns Schnell straff und schlüssig Erfolg und Glutkern | |
| Böll’schen Erzählens. Besser als Krieg, Tod und Trümmer, die Themen seiner | |
| frühen Geschichten, gefallen den geschlagenen Deutschen die Satiren zum | |
| Wirtschaftswunderland. Durch sie und den pathosfreien Stil populär, geht er | |
| zu dem Thema über, das um 1960 zum Himmel stinkt wie der Rhein genannte | |
| „Abwässerkanal“ (Böll). Singulär anschaulich schildern die Hauptwerke, m… | |
| welcher Selbstverständlichkeit Förderer und Nutznießer des | |
| Nationalsozialismus nach 1945 in führenden Positionen weitermachen, | |
| Selbstkritik null, wie etliche plötzlich die Demokraten geben, ohne das | |
| Gefühl der Peinlichkeit zu kennen, und wie an ihrer Hartleibigkeit | |
| Isolation und Traumata der Nichtmitmacher wachsen. | |
| Dabei verschalten „Billard um halb zehn“ (1959) und „Gruppenbild mit Dame… | |
| (1971) die Zeitebenen vor und nach 1945 zu modern, zu kunstfertig, als dass | |
| sich ihr Verfasser auf einen Gesinnungsliteraten reduzieren ließe. Und doch | |
| erhellt diese Studie auch die Gesinnungslogik. Weil kleinbürgerlich, aber | |
| Nazi-fern sozialisiert – seltene Kombination im „Dritten Reich“ –, ist … | |
| anschließend selbstbewusst genug, die im NS dienstbaren „Eliten“ | |
| literarisch zur Rechenschaft zu ziehen. Ihr Märchen, der Nazismus sei nur | |
| Sache wild gewordener Kleinbürger, man selbst aber halber Stauffenberg | |
| gewesen, haben die Kollaborationsgeschichten aus Köln aufs Schönste | |
| verhagelt. | |
| Zumal der Störenfried den Machthabern des Ostblocks mit der | |
| Dissidentenunterstützung genauso hartnäckig zu schaffen machte, bleibt nur | |
| zu sagen: Hut ab! Für die auch politischen Einsätze Heinrich Bölls spricht | |
| ihre Notwendigkeit. Anders als beim späten Grass, vor dessen Engagement | |
| keine Waldschlösschenbrücke mehr sicher war. | |
| 20 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Markus Joch | |
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