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# taz.de -- Kolumne Helden der Bewegung: Willst du viel, spiel wie Kiel
> Das klamaukige Offensivspiel des Zweitligisten Holstein Kiel ist
> einzigartig. Andere beleben eine Kultur, in der alles Verspielte als
> arrogant gilt.
Bild: Gegen Mainz hat es für Kiel im DFB-Pokal nicht gereicht. Trotzdem: schö…
Wann fing das an mit den zwei zum Himmel gereckten Zeigefingern, die,
ausgestreckten Arms auf Nasenhöhe, vertikal aufeinander zuschnurren und
wieder voneinander wegzittern? Man sieht am Spielfeldrand die Trainer die
Lippen bewegen, ewig der gleiche Satz, „Abstände verringern“, um Stabilit�…
zu erzeugen, den Gegner nicht zur Entfaltung kommen lassen, verhindern,
vermeiden, vereiteln.
Nach dem Sieg seiner Schalker gegen die Hertha stellte Domenico Tedesco
zufrieden fest, der Gegner habe nicht einmal sinnvoll aufs Tor geschossen.
Keiner verkörpert diese deutsche Spielidee perfekter als Toni Kroos. Wie
ein Dompteur steht er in der Mitte des Spielfelds, mit seinen kurzen,
klaren Pässen sortiert er seine Mitspieler, es sind dies seine
Peitschenhiebe, und wie im tatsächlichen Zirkus haben sie vor allem ein
Ziel: zu verhindern, das Unvorhergesehenes passiert. Das Wundersame ist,
dass die Löwen nicht beißen; dem Fußball das Anarchische, Verspielte
austreiben; Zucht und Ordnung; blutleere Verhinderung.
Es gibt wenige, die sich dem Diktum der Sicherheit widersetzen; zuvorderst,
freilich, Holstein Kiel, die regelmäßig seeligmachenden Wahnsinn
daherzaubern; nicht immer mit glücklichem Ende, was das Ergebnis anbelangt,
aber wer möchte hier schon kleinlich sein?
In fünf Jahren werden sich mehr Besucher an das sagenhafte 4:3 gegen Union
erinnern als Augsburger Fans sich überhaupt an irgendein Spiel. Wer in
Augsburg regelmäßig ins Stadion geht, vergisst leicht, was Fußball ist; ein
Spiel, das die Fantasie beflügelt.
## Spießiger Kleinbürgerfußball
In der Bundesliga sind es wenige, die regelmäßig über ihre Verhältnisse
spielen, wie es heißt; die etwas riskieren. Wer offensiv spielt, kann es
sich leisten, der Rest baut auf Solidität und fabriziert spießigen
Kleinbürgerfußball. Das ist freilich mit einer gewissen Bitterkeit
dahergeschrieben; prinzipiell ist gegen sauberen Defensivfußball nichts zu
sagen. Allerdings beherrscht dieses Sicherheitsdenken inzwischen fast alle
Fußballtrainerköpfe, es fehlt an Kontrast.
Selbst ein Meisterschaftskandidat wie Leipzig verbittert seine Gegner
lieber, statt sie vorzuführen. Es ist dies wohl auch ein Ausdruck einer
Kultur, in der alles Verspielte als arrogant verschrien wird; man zeigt dem
anderen, was eine Harke ist, und als Zuschauer muss ich sagen: Danke, ich
habe inzwischen schon sehr viele Harken gesehen. Ich weiß jetzt, was das
ist. Es wäre mal wieder Zeit für etwas anderes.
Aber ach, Hoffnung ist wenig. Selbst Werder Bremen ist dem Trend
anheimgefallen. Alexander Nouri hat das Bremer Spiel inzwischen vollständig
funktionalisiert; hinten steht man dicht gedrängt, und sobald man den Ball
hat, haut man ihn nach vorne, wo Max Kruse ihn festmacht. Außer Max Kruse
fällt aus, dann schießt man halt bloß dann aufs Tor, wenn Zlatko Junuzovic
eine 40-Meter-Freistoßflanke in den Strafraum zittert. Es gibt „Tatorte“,
deren erzählerische Mittel sind ausgereifter und unvorhersehbarer als das,
was Werder Bremen auf die Bühne bringt.
Holstein Kiel hat neulich abends ein wiederum lustiges, spannendes, wirres,
klamaukiges und schönes Spiel gemacht. Sie verloren in der Verlängerung,
Freistoßtor. Anschließend wurde hier und da moniert, die Mauer habe nicht
im richtigen Winkel gestanden, jaja, Kenneth Kronholm hat da wohl aus
seinem Tor heraus die Abstände falsch berechnet. Wenn das als Fazit bleibt,
dann haben wir auch keinen besseren Fußball verdient. Die beiden Finger
jedenfalls, ich habe fast den Eindruck, sie dienen auch dazu, mir damit in
die Augen zu stechen.
25 Oct 2017
## AUTOREN
Frederic Valin
## TAGS
Holstein Kiel
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Fußball
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Alexander Nouri
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Deniz Naki
Union Berlin
Fußball
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