# taz.de -- ???-Sprecher Jens Wawrczec übers Erzählen: „Ich halte Nähe nic… | |
> Seit fast 40 Jahren ist Jens Wawrczeck eine der Stimmen der „Drei ???“. | |
> Ein Interview über Leistungen, die übersehen werden und die Unfähigkeit, | |
> sich festzulegen. | |
Bild: Wäre er ein Tier, dann eines, das fliegen kann: Jens Wawrzceck | |
taz: Herr Wawrczeck, Ihr Name ist schon durch Ihre Rolle als Peter Shaw in | |
den „Die drei ???“ eng mit Hitchcock verbunden. Jetzt starten Sie mit | |
szenischen Lesungen von Hitchcock-Verfilmungen. Wieso haben Sie es so mit | |
Hitchcock? | |
Jens Wawrczeck: Ich habe Hitchcock entdeckt, als ich zwölf oder 13 war. | |
Damals gab es in den dritten Programmen noch diese wunderbaren Werkreihen. | |
Ich habe zufällig „Bei Anruf Mord“ gesehen und war so fasziniert von dem | |
Film, dass ich seitdem für den Namen „Hitchcock“ sensibilisiert war. Es | |
gibt ja die Art von Begeisterung, die im Laufe der Jahre verpufft, aber bei | |
Hitchcock hat sie zugenommen. Wenn ich die Filme heute sehe, entdecke ich | |
ganz andere Dinge in seinen Inszenierungen, in seiner Art und Weise, wie er | |
auf das menschliche Leben schaut. | |
Zum Beispiel? | |
Naja, etwa die Geschichte, mit der ich meine Reihe szenischer Lesungen | |
starte: „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“. Das war ein Film, der damals | |
nicht sehr erfolgreich war. Ihm wurde Langsamkeit und eine Art diffuser | |
Poetik vorgeworfen. | |
Komischer Vorwurf. | |
Ja, heute wäre das wohl eher was Positives. Nur 1958 war das nicht | |
besonders konventionell und dadurch nicht besonders kommerziell. Das lag | |
auch an den Themen des Films. Es geht um das ewige Gefühl von Schuld und um | |
Fixierungen in Liebesbeziehungen. | |
Was für Fixierungen? | |
Man versucht wahrscheinlich immer subversiv, ein Bild vom Idealpartner zu | |
erschaffen, den es aber gar nicht gibt. Das heißt, man versucht auch, den | |
Partner umzumodeln. Das ist in „Vertigo“ ein großes Thema. | |
Wie geht die Geschichte? | |
Es geht um einen Mann, der beauftragt wird, eine Frau zu beschatten, die | |
von einer Todessehnsucht gequält wird. Vielleicht weil ihre Urgroßmutter | |
sich umgebracht hat und sie die Persönlichkeit ihrer Urgroßmutter annimmt. | |
Der Mann verliebt sich in sie, kann einen Selbstmordversuch verhindern, den | |
zweiten aber nicht. Vier Jahre später sieht er in einer Wochenschau eine | |
Frau, die der Toten aufs Haar gleicht. Er sucht und findet sie. Die | |
Spannung entsteht nun einerseits aus der Frage, ob es sich wirklich um die | |
Frau handelt, deren Leichnam er gesehen hat. Andererseits sind die | |
Besessenheit, der plötzlich einsetzende Wahnsinn des Mannes und die Angst | |
vor dem Tod die elementaren, unterschwelligen Themen, die ich bei „Vertigo“ | |
besonders spannend finde. | |
Wieso? | |
Weil das die Themen sind, auf die man eher emotional als mit dem Verstand | |
reagiert. Hitchcock ist ein Filmemacher, der einen nicht unbedingt | |
intellektuell abholt, sondern vor allem emotional. Darum hat er so eine | |
zeitlose Magie. Es geht bei ihm immer darum, dass in ein harmonisches Leben | |
Chaos einbricht und einem der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Ich | |
glaube, das habe ich schon als Teenager begriffen. | |
Wieso schreckt es Sie nicht, diese Stoffe, die wir aus Filmen kennen, | |
vorzulesen? | |
Diese Stoffe wirken auf der nichtfilmischen Ebene genauso. Schließlich hat | |
Hitchcock sie ja adaptiert, ob es nun Erzählungen, Romane oder | |
Theaterstücke waren, ihr Originalzustand ist also unfilmisch. Und ich | |
glaube, die Art und Weise, wie ich lese, ist nicht typisch für eine Lesung. | |
Das merke ich, wenn mich Leute nach meinen Lesungen ansprechen und sagen, | |
das sei ja so, als ob ein Film entstehe. | |
Wie machen Sie das? | |
Das kann ich Ihnen nicht genau sagen. Ich weiß nur, wenn ich einen Text | |
vortrage, muss er mich packen und ich versuche, in die Situation des Textes | |
zu einzutauchen. Man könnte sagen, das Publikum und ich nehmen an einer | |
spiritistischen Sitzung teil und ich bin das Medium des Textes. | |
Wie bereiten Sie sich vor? | |
Ich bin sehr strukturiert, meine Manuskripte sehen aus wie Partituren. Aber | |
ich merke, wenn ich etwas zu sehr forciere oder wenn eine falsche | |
Souveränität einsetzt. Ich kann hören, wenn ich etwas nicht meine. | |
Ist es eigentlich leicht, mit Ihnen zusammenzuarbeiten? | |
Ich glaube schon. Ich kann allerdings auch zickig sein, wenn es drauf | |
ankommt. Eigentlich habe ich einen sehr langen Geduldsfaden und bin | |
komplett konfliktscheu. Aber mittlerweile habe ich auch den Mut, den Mund | |
aufzumachen und mich zu verweigern, wenn es mir gegen den Strich geht. Das | |
hat vielleicht etwas mit dem Alter zu tun. Ich wüsste aber nicht, wie es | |
mir gehen würde, wenn ich mich in einer Arbeitssituation komplett | |
unterordnen müsste. | |
Sie haben Wohnungen in Hamburg, Paris und New York, spielen Theater, lesen, | |
haben ein Audiolabel und arbeiten als Synchronsprecher. Sie legen sich | |
nicht gern fest, was? | |
Mit ist es lieb und wichtig, dass ich eine Tür habe, durch die ich wieder | |
verschwinden kann. Diese Wohnsitze klingen vielleicht glamourös, aber sie | |
verraten eher meine Unfähigkeit, mich festzulegen. Eine Kollegin hat mal | |
gesagt, wenn sie mich als Tier beschreiben würde, dann wäre ich ein | |
Schmetterling. Und ich wäre tatsächlich eher was, das fliegt. Das heißt | |
nicht, dass ich mir nicht manchmal Bodenhaftung wünsche. | |
Haus, Gartenzaun, Kamin? | |
Ja, wahrscheinlich wirklich so etwas. Einfach zufrieden sein, ankommen. Das | |
ist bei mir aber einfach nicht so. Ich bin nach wie vor auf der Suche. | |
Das ist doch was Positives. | |
Aber auch anstrengend, weil man ja immer in Bewegung ist. Mir fehlen | |
Phasen, in denen ich ohne schlechtes Gewissen und ohne Schuldgefühle – da | |
sind wir wieder bei Hitchcock – nur mal so lebe. Es ist immer mit Arbeit | |
verbunden. Meistens mit lustvoller Arbeit, aber mit Arbeit. | |
Sie sind ehrgeizig. | |
Ja, für mich. Ich bin sehr skeptisch Komplimenten gegenüber. Es gibt | |
Leistungen, die übersehen werden und vermeintliche Erfolge, die überschätzt | |
werden. Mein Ehrgeiz geht dahin, dass ich versuchen möchte, immer | |
authentischer zu werden mit dem, was ich mache. Immer mutiger. | |
Mutiger? | |
Ich bin ein sehr ängstlicher Mensch. Darum ist mein Beruf ein großes Glück, | |
weil ich gezwungen werde, mich aus diesem Angstloch herauszuwagen und mich | |
zu stellen. | |
Was gibt Ihnen Sicherheit? | |
Es gibt Werte, die mir Halt geben. Ikonen wie Hitchcock, die mich | |
inspiriert haben, mich gerettet haben. In pubertären Verzweiflungszuständen | |
hat es mir gut getan, Barbara Streisand zu hören. Ihre Platten aus den | |
60er-Jahren, wo man spürt, wie sie ihre ganze Wut über ihr | |
Nicht-Hineinpassen in die Gesellschaft in ihrem Gesang, ihrer Kunst | |
ausdrückt . Das hat mir damals Mut gemacht. | |
Sie sind mit elf Jahren alleine zu einem Vorsprechen für den Schulfunk beim | |
NDR gegangen und seitdem verdienen Sie mit Ihrer Stimme Geld. Klingt nicht | |
sehr ängstlich, ehrlich gesagt. | |
Das finde ich auch erstaunlich. Aber ich hatte den sehr klaren Wunsch, | |
Schauspieler zu werden, Sänger eigentlich. Und ich bin jemand, der an die | |
Macht des Wünschens glaubt. Ich glaube, dass Gedanken , dass Wünsche etwas | |
manifestieren können. Zumindest in der Theorie und in Lebensumständen, die | |
den Raum dafür lassen. | |
Wann sind Sie zufrieden? | |
Ich habe Versagensängste, die nehmen nicht ab, eher zu. Vielleicht weil der | |
eigene Anspruch steigt. Und weil man sich nicht langweilen will mit dem, | |
was man macht. Wenn ich singe, gibt es Momente, in denen ich das Gefühl | |
habe, ich bin eins mit mir, meine Stimme transportiert das, was ich fühle , | |
ich bin offen und gleichzeitig unverletzbar. Ähnlich geht es mir, wenn ich | |
in der Natur bin. Oh, und morgens, wenn ich mit einer Tasse Tee im Bett | |
sitze und noch lese. Ich bin sowieso ein recht optimistischer Mensch, | |
allerdings mit melancholischer Eintrübung. Ich strebe eine gewisse | |
Leichtigkeit des Seins an. | |
Heißt? | |
Leichtigkeit bedeutet, im Fluss zu sein, und das ist immer gut, wenn es | |
darum geht, kreativ zu sein. Das gilt ja nicht nur für den Beruf, das Leben | |
verlangt ja auch enorme Kreativität. Sagen Sie, haben wir uns nicht schon | |
mal gesehen? | |
Mmh, glaube nicht. | |
Irgendwie ist mir Ihr Gesicht so vertraut. Vielleicht aus einem anderen | |
Leben. | |
Glauben Sie an so was? | |
Dieses Leben ist ein Wunder und ich möchte mir nicht anmaßen, zu | |
beurteilen, was real ist und was nicht. Ich glaube zum Beispiel, dass es | |
ungute Energie von Menschen gibt, vor denen man sich schützen muss. Man | |
sollte sich nach Möglichkeit ein Umfeld suchen, in dem man aufblüht und | |
nicht eines, in dem man vertrocknet. An solche Dinge glaube ich. | |
Ist das was Religiöses? | |
Nein, ich fühle mich keiner Religion zugehörig. | |
Ich dachte nur, weil Sie ja auch das Matthäus-Evangelium gelesen haben und | |
Sie sagen, Sie machen etwas nur, wenn Sie vom Text überzeugt sind. | |
Da habe ich auch lange überlegt, ob ich das mache, weil für mich nicht ganz | |
eindeutig war, wie ich dazu stehe. Aber ich kann mit den christlichen | |
Werten durchaus was anfangen. Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst und so | |
weiter. Darüber hinaus finde ich, dass die Bibel literarisch sehr | |
interessant ist. Einige Bibelpassagen sind, genau wie bei Grimms Märchen, | |
die ich früher im Vergleich zu den Andersens-Märchen immer so abgetan habe, | |
sehr wirkungsvoll in ihrer Schlichtheit. Da wird in Bildern kommuniziert, | |
die uns, ähnlich wie bei Hitchcock übrigens, tief und unbewusst berühren. | |
Und ich finde, ein guter Text ist nie unmodern, egal wie alt er ist. | |
Entweder spricht er mich an oder lässt mich kalt. | |
Die Bibel, Grimms Märchen und Hitchcock sprechen Sie an? | |
Ich bin einfach ein Fan von gut erzählten Geschichten, in denen elementare | |
Fragen aufgeworfen werden. Jeder wünscht sich, wahrgenommen, erkannt zu | |
werden und sich von seinen Fesseln zu lösen. Ich beneide Menschen, die sich | |
frei fühlen. Man möchte frei sein. Manchmal auch frei von sich. | |
Sind Sie eigentlich ein Familienmensch? | |
Ich bin ein Familienmensch auf Raten. Das ist bei mir aber ein | |
grundsätzliches Ding. Ich halte Nähe nicht immer aus. Das ist in | |
Freundschaften so und in der Familie auch. Aber ich bin trotzdem sehr treu. | |
Schönes Schlusswort. Danke. | |
Wir haben jetzt gar nicht über die „Die drei ???“ gesprochen! | |
Die Interviews mit Ihnen drehen sich oft nur darum. Sie sprechen Peter Shaw | |
ja auch seit fast 40 Jahren. Ich wollte mal offenlassen, ob Sie darauf | |
kommen wollen. | |
„Die drei ???“ sind nicht mehr wegzudenken aus meinem Leben und ich bin | |
sehr dankbar dafür, weil sie mir eine gewisse Aufmerksamkeit geben für | |
andere Dinge. Das ist nicht mein künstlerischer Lebensinhalt, aber es ist | |
ein Geschenk. Wir drei verstehen uns gut, es macht Spaß und es macht | |
vielen, vielen Leute große Freude. | |
Und vermutlich gibt Ihnen der Erfolg die Möglichkeit, sich freier zu | |
bewegen. | |
Klar, das sichert mir meine Miete. Ich bin nur manchmal frustriert, wenn | |
nur „Die drei ???“ wahrgenommen werden. Das hat aber wiederum damit etwas | |
zu tun, dass das, was sich am besten verkauft, die größte Aufmerksamkeit | |
erhält. Das ist, als ob ich jemanden in meine Wohnung einlade und der | |
bleibt im Flur stehen, dabei stehen im Wohnzimmer die interessanteren | |
Dinge. | |
[1][„Hitch und ich“ – Jens Wawrczeck liest „Vertigo“]: 12. 11, 19 Uhr, | |
Kammerspiele, Hamburg | |
5 Nov 2017 | |
## LINKS | |
[1] http://hamburger-kammerspiele.de/programm/hitch-und-ich/ | |
## AUTOREN | |
Ilka Kreutzträger | |
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