| # taz.de -- Arm statt Arbeit: Wenn ein Job nicht reicht | |
| > Viele Menschen müssen neben ihrem Haupterwerb einen Minijob annehmen, um | |
| > über die Runden zu kommen. Gerade in Hamburg werden es immer mehr. | |
| Bild: Dass das Bier auf St. Pauli heute oft ein Zweitjobber zapft, ist den Arbe… | |
| HAMBURG taz | Es ist Mittwoch Abend, kurz vor acht, und noch ziemlich leer | |
| in einer kleinen Eckkneipe auf St. Pauli. Mareike spült Gläser vor und | |
| füllt den Kühlschrank mit Bierflaschen auf. „Normalerweise arbeite ich | |
| meistens nur freitags und samstags, aber heute musste ich kurzfristig | |
| einspringen“, sagt die 32-Jährige. Bis zwei oder drei Uhr wird sie heute | |
| Abend hinterm Tresen stehen. Im Vergleich zum Wochenende gehe das noch, | |
| sagt sie. Jedoch muss sie morgen früh aufstehen. Denn außer der Arbeit in | |
| der Kneipe hat sie noch einen Haupterwerb als Sozialpädagogin, in dem sie | |
| mit Menschen mit Behinderung arbeitet. Dort verdient sie allerdings nicht | |
| genug, um über die Runden zu kommen. Sie muss deswegen noch abends in der | |
| Kneipe Geld dazuverdienen. Wie Mareike geht es immer mehr Menschen. | |
| Wie die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) in Hamburg mitteilte, | |
| ist die Zahl der HamburgerInnen, die neben dem Haupterwerb noch einen | |
| Minijob haben, in den vergangenen zehn Jahren um 61 Prozent gestiegen. | |
| Knapp 70000 Menschen verdienen sich nach dem eigentlichen Feierabend oder | |
| am Wochenende also noch auf 450-Euro-Basis etwas dazu. Insbesondere in der | |
| Gastronomie ist der Anteil riesig – mehr als 10.000 HamburgerInnen sind | |
| dort geringfügig beschäftigt – neben ihrem Hauptjob. Viele kommen ohne den | |
| zusätzlichen Job nicht über die Runden. | |
| Mareike hat vor zwei Jahren ihr Studium beendet, findet seitdem aber keine | |
| passende Vollzeitstelle. Derzeit arbeitet sie 30 Stunden in der Woche. | |
| „Dahingehend habe ich es noch ganz gut und das passt zeitlich irgendwie“, | |
| sagt sie. Dass sie bei ihrem Hauptjob nicht aufstocken kann, findet sie | |
| dennoch ärgerlich. Denn üblicherweise hat sie lediglich am Sonntag frei. | |
| „Und da liege ich dann nach zwei langen Nächten in der Kneipe die meiste | |
| Zeit im Bett“, sagt sie. Freizeit mit Freunden, die unter der Woche auch | |
| arbeiten, bleibt dann auf der Strecke. „Das ist manchmal ziemlich | |
| frustrierend“, sagt sie. | |
| Dass die Zahl der Beschäftigten in den vergangenen Jahren allgemein steige, | |
| sei aus Sicht der Gewerkschaft auf den ersten Blick sicher gut, sagt Anne | |
| Widder von der NGG. Aber eben nur auf den ersten Blick: „Die hohe Zahl der | |
| Zweitjobber zeigt, dass nicht alles Gold ist, was auf dem Arbeitsmarkt | |
| glänzt.“ So sieht es auch Mareike. Sicher gebe es auch einige, die nicht | |
| zwingend zusätzlich arbeiten müssen, aber es freiwillig tun, um sich etwas | |
| anzusparen. | |
| Aus Sicht des Arbeitgeberverbands Dehoga wiederum sind gerade die | |
| geringfügig Beschäftigten unerlässlich, denn die Gastronomie müssen | |
| flexibel auf mehr oder weniger Kundschaft reagieren. Dies sei auch im | |
| Interesse vieler ArbeitnehmerInnen, die sich in Teilzeitarbeit etwas | |
| dazuverdienen wollen. Außerdem könnten sich so insbesondere Studierende | |
| etwas dazuverdienen. | |
| Jedoch, mahnt die NGG, fehlten den Gastronomiebetrieben durch den Einsatz | |
| von Aushilfen mehr und mehr ausgebildete Fachkräfte. „Die gewinnt man nur, | |
| indem man gute Löhne zahlt“, sagt Widder. | |
| Die NGG sieht insbesondere die Politik in der Pflicht, der Entwicklung | |
| entgegenzuwirken. „Der gegenwärtige Mindestlohn ist als Untergrenze zu | |
| niedrig, um davon allein als Vollzeitbeschäftigte etwa eine bezahlbare | |
| Wohnung in der Stadt zu finden“, sagt Widder. Zudem sollten ausgehandelte | |
| Tarifverträge in allen Betrieben der Branche gelten – selbst dann, wenn der | |
| Chef nicht im Arbeitgeberverband ist. | |
| Auch wenn es ihr hinterm Tresen meistens Spaß macht, weiß auch Mareike, | |
| dass das langfristig nicht so weitergehen kann. „Gerade wenn man mal unter | |
| der Woche einspringen muss und am nächsten Morgen ziemlich gerädert ist“, | |
| erklärt sie. Als Sozialpädagogin wird von ihr dennoch erwartet, das sie | |
| voll funktioniert. | |
| Mareike weiß noch gar nicht, ob sie finanziell besser dran wäre, falls sie | |
| eine Vollzeitstelle als Sozialpädagogin finden sollte. Denn gerade das | |
| Leben in Hamburg mit seinen hohen Mieten ist eine Belastung. 460 Euro zahlt | |
| sie derzeit für ihr WG-Zimmer. Zudem muss sie aus ihrer Studienzeit noch | |
| Schulden zurückzahlen. „Und die Löhne im sozialen Bereich sind leider auch | |
| nicht sonderlich hoch“, sagt sie und bringt zwei Bier an den Ecktisch. | |
| 31 Oct 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| André Zuschlag | |
| ## TAGS | |
| Minijob | |
| Vollzeit | |
| Schwerpunkt Armut | |
| Arbeitnehmerrechte | |
| Mieten | |
| Italien | |
| Mindestlohn | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Bäckerei ignoriert Arbeitnehmerrechte: Kleine Brötchen für Verkäuferinnen | |
| Die 30 Filialen starke Bäckerei Rector in Ostfriesland kürzt ihren | |
| Mitarbeiterinnen seit Januar ohne deren Zustimmung den Lohn – unter | |
| anderem. | |
| Hamburger Mietenspiegel 2017: Mieten steigen langsam, aber sicher | |
| Der neue Hamburger Mietenspiegel weist unverändert enorme Mietssteigerungen | |
| nach. Senat will Wohnungen bauen, Mietervereine fürchten Verdrängung. | |
| Sozialsystem in Italien: Armes Land, arme Menschen | |
| Am 1. Dezember tritt in Italien ein neues Sozialgesetz in Kraft. Die | |
| Leistungen für Arbeitslose sind bescheiden und an einige Bedingungen | |
| geknüpft. | |
| Höherer Mindestlohn: Rot-roter Knatsch | |
| Die Linke fordert höheren Mindestlohn für öffentlich Bedienstete und beruft | |
| sich auf Olaf Scholz. Doch die Koalition will nicht über das linke | |
| „Stöckchen“ springen |