# taz.de -- Sci-Fi-Kurzgeschichte aus Nigeria: Biodefreies Neu-Biafra-Sperma | |
> Ein Bordell aus einer anderen Zeit, aus einem anderen Nigeria: Die Frauen | |
> legen sich Häute an, die Männer tragen Penis-Implantate. Der Sex ist | |
> brutal. | |
Bild: Sie lächelte schwach. „Mein Körper will keine Babys.“ | |
Sie fragte sich, warum es immer noch „Rotlichtbezirk“ hieß. Die Flure waren | |
in einem sterilen Grün gehalten, die Fußböden wurden regelmäßig von | |
künstlichen Kreaturen mit einem komplizierten Saugsystem im Untergehäuse | |
geschrubbt. Ganzkörperbad war selten, Schmutz jeder Art wurde nicht | |
toleriert. | |
Die Lichter waren neonweiß und verwuschen unbehandelte Haut in ein blasses | |
Grau, behandelte in Milchweiß. Die Betten – an die Betten wollte sie nicht | |
denken. Ihre Schulter juckte und sie widerstand dem Drang, sie zu berühren. | |
Man hatte ihr die Wahl zwischen einem Hautimplantat, einem Tattoo oder | |
einem billigen Plug and Play gelassen. | |
Sie hatte das Plug and Play ausgesucht, ohne zu wissen, was das war. Ihr | |
aktuelles Implantat schmerzte gnadenlos, es heilte nie richtig, weil seine | |
kleinen Klauen sich jeden Morgen neu festsetzten, seine Plexiglasteile, wie | |
ein winziger Wächter über ihrem Schlüsselbein. | |
„Herkommen, jemand!“ | |
Der Ruf kam von der Oberschwester am Ende des Ganges. Der gesamte Bezirk | |
war vollautomatisiert, aber sie behielten die Oberschwestern, weil das | |
Management schnell gemerkt hatte, dass die Bedrohung durch sofortige Strafe | |
von Menschenhand eine überzeugendere Abschreckung darstellte als ausende | |
Überwachungskameras. | |
„Hört ihr nicht zu?“ | |
Sie hatte hier lange genug gelebt, um zu wissen, dass das für die | |
Oberschwester normal war. Trotz ihres bunten Wickeltuchs und ihres | |
unrasierten Kinns war ihre Oberschwester eigentlich die netteste im Bezirk. | |
Sie hatte Geschichten gehört, eine vor allem über eine Oberschwester, die | |
die Freier durch Aktivieren der Implantate ankündigte. Allein daran zu | |
denken, ließ sie erschaudern. | |
## Die Zunge gespalten | |
Ein Zimmer nach dem anderen erwachte widerwillig zum Leben, jenseits der | |
milchigen Türen offenbarten sich die Inhalte wie ein Ladengeschäft, das für | |
den Tag öffnet. Sie stand da und sah in das gegenüberliegende Zimmer, auf | |
das kurzhaarige, lilaäugige Wesen, das ihren Anblick erwartete. Ehemals | |
braune Haut war jetzt grün und fleckig, die Zunge gespalten. Es wetzte | |
seine Zunge, Lüsternheit umgab seine Augen. Sie gab sich unbeeindruckt und | |
suchte stattdessen das Zimmer nach Neuem ab. | |
Ein Paar Plateauschuhe saß pflichtgemäß am Bett, die Farbe unvorteilhaft | |
für den neuen Hautton, aber dennoch neu. Die gleiche alte Leier, kreuzweise | |
vor dem Bett und neben der Spiegelwand – damit es beim Stolzieren mit dem | |
katzenartigen Gang, den ihm die Verbreiterung seiner Hüften über jedes | |
Menschenmaß hinaus gab – den hinschauenden Freiern zuschauen konnte. | |
## Das Wesen lockte nur die härtesten Freier an | |
Der seltene Purist schaute hin, die meisten masturbierten. In dieser Zeit | |
lockte das Wesen nur die härtesten Freier an, und die Arbeit war zwar | |
selten, aber gut bezahlt; genug jedenfalls für den Unterhalt seiner sehr | |
komplizierten Modifikationen. Es wirbelte einmal herum, sodass man einen | |
Blick auf seine andere Neuerung werfen konnte: ein wedelnder Schwanz. | |
Die Hände des Wesens bewegten sich im Gleichschritt. Sie konnten noch | |
sprechen, aber während der Arbeitszeit waren die Zimmer schallgedämpft. | |
Also Gebärdensprache. | |
„Wie findest du’s?“ | |
Sie zögerte, gab dann eine Gebärde zurück. „Ich dachte, du wolltest eine | |
Pythonschlange sein.“ | |
Es schüttelte den Kopf. „Sie sagten, wir würden unsere Gliedmaßen und | |
Kehlen verlieren.“ | |
Sie schluckte. „Was ist mit dem Geld fürs Modifizieren.“ | |
Das Gesicht trübte ein. „Auf dem Treuhandkonto. Werden den Rest überweisen, | |
wenn wir es beschließen.“ | |
Die Luft veränderte sich, eine mächtige Parfumwelle stob den Flur entlang | |
und ließ jeden wissen, dass die Türen geöffnet waren. Das Wesen blies ihr | |
einen Kuss, setzte sich etwas beschwerlich hin und begann seine neuen | |
Schuhe anzuziehen. Sie sah in ihr eigenes Zimmer, um sich zu vergewissern, | |
dass alles in Ordnung war, und ging zur durchsichtigen Schiebetür, um zu | |
warten. | |
Schritte. | |
Die Freier kamen oft mit Desinfektionstüten über ihren Schuhen. Jeder | |
einzelne, der hereinkam, war wichtig. Die meisten Frauen auf ihrem Flur | |
waren entweder modifiziert oder steckten mitten in irgendeiner | |
chirurgischen Adaption. | |
Freier, die Erreger aus der Wirklichkeit einschleppten, würden eine | |
Infektion hervorrufen und Modifizierungen scheitern lassen. Sie strich ihr | |
Haar glatt und hasste sich sofort selbst dafür, vor allem weil sie wusste, | |
dass das Wesen zuschaute. Bis zum Abend würde es jeder gehört haben und man | |
würde sie wochenlang für ihre Eitelkeit hänseln. Einstudierte | |
Gleichgültigkeit war der Schlüssel zum Überleben hier. | |
## Die Farben der Vereinten Nationen | |
Sie setzte sich gerade und lauschte, wie die Schritte des Freiers sich | |
zwischen den Zimmern verlangsamten. Er war wählerisch, die meisten nahmen | |
die erstbeste Person. Er wurde sichtbar, der Freier, er stieg in den Raum | |
zwischen ihr und den Zimmern des Wesens. Er war sowohl mehr als auch | |
weniger imposant, als sie erwartet hatte. Größer als der neue Durchschnitt, | |
aber ohne Ausstrahlung. Nichts von diesen Post-Neu-Biafra-Steroidmuskeln. | |
Entweder Diplomat oder Technokrat. Aber er trug auch Uniform, die Farben | |
der Vereinten Nationen, kein Länderabzeichen, wahrscheinlich ein Söldner, | |
der aufgestiegen war. | |
Kein Wunder, dass der gesamte Flur verstummt war. Leute seiner Art ließen | |
sich normalerweise beliefern, es war unter ihrer Würde, in den Bezirk zu | |
kommen. Er ließ einen kurzen Blick auf das Wesen fallen, dann wandte er | |
sich ihr zu. Sie bedeckte ihren Mund mit dem Handrücken und neigte sich | |
leicht. | |
Er strahlte. | |
Ihr Herz klopfte. Nur Neu-Biafra-erzogene Männer wussten, welches Ritual | |
ihre Verneigung bedeutete. | |
Auf seine Handbewegung hin öffnete sich die Tür und er kam hinein. Sie sank | |
auf die Knie und kreuzte die nach oben geöffneten Hände in ihrem Schoß. | |
„Obi’m (Mein Herzliebster)“, sagte sie leise. | |
Er beugte sich hinein und hielt inne, bevor er sie berührte. | |
„Ich hatte gehört, dass jemand hier war, die in der alten Art erzogen war, | |
aber ich glaubte es nicht. Ich musste herkommen, sehen.“ | |
Ganz nah, konnte sie ihm nicht ausweichen. Seine Pupillen waren einfach | |
zwei schwarze Bälle, schwimmend im Weiß seiner Augen. Eine | |
Sehmodifizierung, vermutete sie, die sich unmerklich anpasste, als sie ihre | |
Körperteile absuchte und sich ihr Gesicht einprägte. Auf ihrem Flur waren | |
fast alle auf Modifizierungen abonniert, und nach Feierabend war das das | |
einzige Gesprächsthema. Sie musste also fast vorsichtig sein, die | |
Modifizierungen nahmen alles permanent auf, er würde nichts verpassen, was | |
sie sagte oder tat. | |
„Was will Obi’m von mir?“ sagte sie. | |
Der Mann lächelte erneut, noch breiter diesmal, und setzte sich auf das | |
Bett. | |
„Nimm deine Haut ab.“ | |
Sie zögerte, überrascht, aber nicht überrascht, dass er es durchschauen | |
konnte. Die Oberschwester hatte ihr versichert, dass das das neueste | |
Haut-Update war. „Unmöglich, das zu unterscheiden“, hatte sie geschworen. | |
Wie Körpferfarbe abschrubben | |
Sie zog innerlich eine Grimasse und griff nach dem Verdünner. Haut | |
entfernen war ein wenig wie Körperfarbe abschrubben. Der Verdünner | |
schwächte den elektromagnetischen Puls, der die Haut an die schwache | |
negative Ladung des Körpers befestigte, und ließ das Nanoplastik von ihrem | |
Körper herunterfließen, in einen Haufen lebender Pampe. Er hob eine Hand | |
und gab ein Zeichen, dass sie aufhören sollte. | |
„Gut. Sehr gut. Komm.“ | |
Sie kroch zwischen seine Beine und öffnete den Reißverschluss seiner Hose. | |
Er warf seinen Kopf nach hinten, als sie ihn schlaff in ihrer Hand hochhob. | |
Er beobachtete sie, mehr als amüsiert. Sie klopfte einmal darauf und | |
runzelte die Stirn, als nichts passierte. | |
„Keine Implantate“, murmelte er. „Du musst es aufwecken.“ | |
Hinter ihr hörte sie das Wesen kichern. | |
Sie überschätzte den Umfang und würgte, als er mit dem ersten Stoß ihren | |
Gaumen erreichte. Sie hatte Brechreiz, aber nichts im Magen, also kam | |
nichts hoch. Er schob sie zurück und lachte. | |
„Nimm lieber deine Hände. Sachte.“ | |
Sie kniete und umschloss ihn mit beiden Händen. Es dauerte nicht lange, | |
dass er bereit für sie war, Haut und alles. Sie bewegte sich zum Bett und | |
breitete sich für das Besteigen aus. Für seine Größe war es einfacher, als | |
sie zu hoffen gewagt hatte. | |
Junge oder Lady-Junge | |
Die meisten Freier, die zu ihrem Flur kamen, hatten Billigimplantate, die | |
sie einfach anschwellen ließen, ohne die Geschmeidigkeit eines natürlichen | |
Penis. Man krümmte sich oder trug Verletzungen davon. Er schlängelte tief | |
in sie hinein und gegen ihren Willen stöhnte sie tief auf. Er erstarrte und | |
blickte sie ganz neu an. | |
„Was bist du? Junge oder Lady-Junge?“ | |
Sie wurde rot. „Ich bin ein Mädchen.“ | |
„Ein richtiges?“ | |
„Sozusagen.“ | |
„Sozusagen? Ich dachte, dass sogar Teilmädchen für diese Arbeit zu schade | |
wären?“ | |
Sie wurde noch röter. „Ich bin Intersex. Vagina ist echt, aber alles andere | |
funktioniert nicht richtig.“ | |
Sie wusste nicht, was peinlicher war: dass sie dieses Gespräch führten, | |
während er in ihr drin war, oder dass es ihm etwas ausmachte, was für eine | |
Art Mädchen sie war. Freiern war das nur wichtig, wenn sie besondere | |
Fetische hatte, sonst war es egal. Die Häute hatten so realitätsgetreue | |
Vaginas, sie wurden sogar feucht beim Berühren. | |
## Augen wie Vollmonde | |
„Es gibt jetzt Gebärmütter“, sagte er, abwesend. Er hatte wieder | |
angefangen, aber langsam, sodass er ihr Gesicht beobachten konnte. „Warum | |
hast du nicht einfach danach gefragt?“ Sie sagte nichts, sie zog nur eine | |
Hautfalte zurück. Der Bauch war von Narben übersät, von alten Einstichen. | |
Löblicherweise schrak er nicht zurück, obwohl seine Augen groß wurden wie | |
Vollmonde. | |
Sie lächelte schwach. „Mein Körper will keine Babys.“ | |
„Gut“, sagte er, und sein Lächeln wurde böse. | |
Seine gerippten Unterarme erschienen unvermittelt, aus dem Nichts, er nahm | |
ihre Hände und hielt sie über ihrem Kopf fest. Seine anderen Hände | |
umfassten ihren Hals und er drückte zu, wie bei einem Schraubstock. Sie | |
schaffte es, einmal „Stop!“ zu schreien, bevor ihren Lungen die Luft | |
abgeschnürt wurde. | |
Sie zappelte unwillkürlich, obwohl sie wusste, dass sie damit bloß die | |
verbleibende Luft in ihren Lungen verbrauchte. Obwohl ihr dies vertraut war | |
– wenige Mädchen, die vor der Keulung das Erwachsenenalter erreicht hatten, | |
konnten dieser Erfahrung entkommen –, kämpfte ihr Körper doch dagegen an. | |
Der Reflex: kämpfen oder fliehen. | |
Er brüllte im schallgedämpften Zimmer, von ihrem Zappeln erregt, und | |
hämmerte auf ihren schlaffen Körper, sein Gesicht wild verzerrt. Sie spürte | |
Prellungen auf ihrem Hals und versuchte, sich in ihren Kopf zurückzuziehen | |
und zu überstehen, was mit ihrem Körper geschah oder mit den Teilen, die | |
seinen Angriff spüren konnten. Die Haut enthielt eine Notdosis des | |
Schmerzmittels Fentanyl, illegal und veraltet, aber die Oberschwester hatte | |
ihre Methoden. Sie schloss die Augen und schickte das Fentanyl in ihren | |
Blutkreislauf, sie wartete auf den Körperschock und das Erlöschen der | |
tanzenden Lichter unter ihren Augenlidern. Der Rest schien blitzartig zu | |
vergehen. | |
## Das Fentanyl-Hoch zog vorbei | |
Plötzlich ruckelte er zum Stillstand und brach auf ihr zusammen, sein Mund | |
laut atmend. Sie lag still wie der Tod, der Bewusstlosigkeit nahe, aber | |
nicht genug, um sein Gewicht nicht auf ihr zu spüren. Sie wartete, dass das | |
Hoch vorbeizog, während er sich sammelte und seine Hosen hochzog. Sie | |
öffnete ein Auge und spähte in Richtung Tür. Das Wesen war weg, seine Tür | |
milchig. Vielleicht ein eigener Freier. | |
„Ich bin bereit“, sagte er in Richtung einer der Kameras in der Ecke ihres | |
Zimmers und klopfte ihr sanft auf den Schenkel. | |
Sie setzte sich langsam auf, sorgfältig, um das Fentanyl-Hoch nicht zu | |
verraten. Sie blickte mit leeren Augen auf. Sie wusste, was sie jetzt sagen | |
sollte. | |
„War ich gut, Obi’m?“ | |
Er beugte sich auf Augenhöhe hinab und küsste sanft ihre Lippen. „Gut? | |
Nein, du warst toll.“ | |
Sie tat so, als würde sie rot. „Danke.“ | |
Klopf! Klopf! Klopf! | |
Der stämmige Körper der Oberschwester erschien im Türrahmen, ihr Wickeltuch | |
fehlerlos. | |
„Zeit ist um.“ | |
Er nickte der Oberschwester zu und stand auf. Sie machte den Weg nicht | |
frei, und er musste sich an ihr vorbeizwängen, um das Zimmer zu | |
verlassen. Als er ging, simulierte das Soundsystem des Zimmers das Klingeln | |
von Münzen in einer Kasse. Sie warteten, eingeübt, bis die Flurtüren | |
öffneten, um einen weiteren Parfumschwall hereinzulassen, und sich wieder | |
schlossen. | |
## Prellungen durch die Haut | |
Die Oberschwester ergriff ihr Gesicht und drehte es Richtung Licht. Sie | |
konnten beide die Striemen direkt über ihrem Schlüsselbein sehen. | |
„Prellungen sogar durch deine Haut. Er schuldet das Doppelte.“ | |
„Ich weiß.“ | |
Die Oberschwester nickte und begann ihr den Hals zu reiben, eine Salbe, aus | |
winzigen Nanobytes freigesetzt, die die geschundene Haut glättete und den | |
Schaden übertünchte. „Es muss einen besseren Weg geben. Der hier ist ein | |
Romantiker, nächstes Mal hast du vielleicht weniger Glück.“ | |
Sie zog eine Grimasse. „Nein, gibt es nicht. Das ist der einzige Weg, wo | |
sie nicht achtgeben.“ | |
„Na gut.“ Die Oberschwester zog sich zurück und ließ dem Mädchen Raum, um | |
sich zu strecken. Aus Sorge waren ihre Schlüsselbeine angespannt wie Garn. | |
Sie machte eine Handbewegung in Richtung des Unterleibs. | |
„Hast du es?“ | |
Sie rollte mit den Augen und griff sich dann zwischen die Beine, zuckte | |
zusammen und zog aus ihren Hautfalten ein kleines, perfekt ovales | |
Fläschchen hervor. Eine milchige Flüssigkeit hing innen am Glas, die | |
Schaumkrone ein Zeichen ihres menschlichen Ursprungs. Es war schwer, von | |
der perversen Schönheit ihres Tuns nicht ergriffen zu sein. | |
„Implantat- und biodefreies Neu-Biafra-Sperma. 96 Stunden wirksam.“ | |
Aus dem nigerianischen Englisch von Dominic Johnson | |
18 Oct 2017 | |
## AUTOREN | |
Edwin Okolo | |
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