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# taz.de -- Biologe über Regenwürmer: „Schlaraffenland mit ganz viel Torte�…
> In Deutschland geliebt, in Amerika gefürchtet. Biologe Nico Eisenhauer
> erforscht die Invasion des Regenwurms in die Wälder Nordamerikas.
Bild: Kleiner Wurm, große Wirkung: Wo er ist, wird alles einmal umgegraben
Herr Eisenhauer, Sie sind mit 32 Jahren Professor geworden, leiten eine
Forschungsgruppe mit 20 Mitarbeitern und haben im letzten Jahr vom
Europäischen Forschungsrat 1,5 Mio. Euro eingeworben – Gelder, die nur an
Spitzenforscher vergeben werden. Hätten Sie als Kind gedacht, dass der
Regenwurm Ihnen einmal so eine beachtliche Karriere ermöglicht?
Nico Eisenhauer: Nein, als Kind wollte ich Fußballprofi oder Pilot werden.
Aber die Liebe zur Natur war schon immer da. Ich war so oft wie möglich
draußen, wollte verstehen, warum Tiere an bestimmten Orten vorkommen, an
anderen aber nicht. Ich habe auch Regenwürmer zerschnitten, um
herauszufinden, ob beide Hälften weiterleben können.
Und?
Es funktioniert nicht. Das ist ein Mythos. Ein ausgewachsener Regenwurm hat
vorne ein Klitellum, einen drüsigen Bereich. Wenn Sie ihn dahinter
durchschneiden, überlebt, wenn überhaupt, der vordere Teil.
In Leipzig gibt es viele Kleingärtner, die sich über Regenwürmer in ihrem
Boden freuen. Zu Recht?
Auf jeden Fall. Regenwürmer sind hier einer der besten Indikatoren für
einen gesunden Boden. Sie durchlüften und lockern die Erde, ziehen Blätter
und anderes organisches Material in die Tiefe und verdauen es dort in
Zusammenarbeit mit Mikroorganismen. So sorgen sie dafür, dass Nährstoffe
schnell umgewandelt werden und den Wurzeln wieder zur Verfügung stehen.
Wenn Hobbygärtner ihren Regenwürmern etwas Gutes tun wollen, sollten sie
den Grünschnitt nach dem Mähen wenigstens zum Teil auf der Wiese belassen.
Das ist Futter für die Regenwürmer und sorgt dafür, dass sich mehr von
ihnen ansiedeln können.
Während der Regenwurm in Deutschland von Biobauern geliebt und in
Kinderliedern besungen wird, gefährdet er in Nordamerika ganze Ökosysteme.
Wieso?
In Nordamerika hat sich über Jahrtausende hinweg eine Tier- und
Pflanzengemeinschaft entwickelt, die ohne Regenwürmer auskommt. Während der
letzten Eiszeit, vor rund 13.000 Jahren, bedeckten dicke Eispanzer große
Teile des heutigen Kanadas und der USA. Als sich die Gletscher zurückzogen
und das Erdreich langsam taute, waren Regenwürmer – bis auf wenige Arten im
Süden des Kontinents – komplett aus Nordamerika verschwunden.
Regenwürmer kriechen höchstens ein paar Meter im Jahr vorwärts. Die
Regenwürmer aus dem Süden schafften es schlicht nicht in den Norden. Wieso
gibt es heute dennoch wieder Regenwürmer im Norden Amerikas?
Es waren europäische Siedler, die bereits im 17. Jahrhundert Regenwürmer
ins Land brachten. Die Würmer reisten als blinde Passagiere im Ballast der
Schiffe. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem „biologischen
Invasionsereignis“, also der Einwanderung einer ortsfremden Art.
Aber hat es nicht schon immer biologische Invasionen gegeben?
Das ist richtig, aber es kommt auf die Geschwindigkeit der Veränderung an.
Momentan ist Nordamerika wie ein Flickenteppich: Es gibt Wälder mit
Regenwürmern, aber auch noch viele ohne. Es ist eine Invasion, die man erst
einmal nicht wahrnimmt und plötzlich sieht der Wald anders aus und
funktioniert auch anders. Die Invasion ist nicht mehr rückgängig zu machen,
aber wie schnell sie verläuft, ist vom Menschen und vor allem von Anglern
abhängig. Viele Angler kippen ihre überzähligen Würmer, die sie als Köder
benutzen, am Ende einfach aus. Sie ahnen nicht, welchen Schaden sie damit
anrichten.
Was verändert sich durch die Anwesenheit des Regenwurms im Wald?
Unsere Untersuchungen beziehen sich auf die Laubwälder Nordamerikas. Der
Boden dort ist von einer dicken Schicht aus altem Laub und Ästen bedeckt.
Es ist eine luftige Schicht, die bei jedem Schritt federt. Dieser Horizont
aus Laub ist für die Neuankömmlinge wie ein Schlaraffenland mit ganz viel
Torte, die dankenswerterweise noch niemand angerührt hat.
Und diese Torte fressen sie dann auf?
Es ist so viel organisches Material vorhanden, dass unglaublich viele
Regenwürmer daran fressen können. Dadurch entstehen Regenwurmdichten, die
wir aus unseren Wäldern gar nicht kennen. Der Grund, warum ich mich so
stark für das Thema interessiere, war eine Erfahrung in einem kanadischen
Pappelwald: Ich wollte die Würmer dort zählen und bestimmen, dafür musste
ich sie zunächst aus dem Boden locken. Ich habe also eine Senflösung in den
Boden eingeleitet und nachdem die Würmer nach oben kamen, hat sich der
ganze Boden bewegt. Das war gruselig. Es war die dreifache Menge, die ich
aus heimischen Wäldern kannte.
Und sie alle fressen an der über lange Zeit entstandenen organischen
Schicht?
Innerhalb weniger Jahre fressen die Regenwürmer den Horizont aus Laub auf
und arbeiten das organische Material in den Boden ein. Zurück bleibt ein
vergleichsweise harter Mineralboden, in dem sich Feuchtigkeit schlechter
halten kann. Die Pflanzen leiden unter Trockenstress, Wildblumen finden
keinen geeigneten Ort zum Keimen. Wir konnten zeigen, dass die Zahl
einheimischer Pflanzenarten zurückgeht, die an Gräsern und europäischen
Arten jedoch zunimmt.
Sie bezeichnen den Regenwurm als Ökosystemingenieur. Was verbirgt sich
hinter diesem Begriff?
Der Regenwurm verändert nicht nur seine eigene Umgebung, sondern auch die
aller anderen. Vor seiner Ankunft übernahmen Pilze, Bakterien,
Springschwänze und Hornmilben die Rolle der Zersetzer. Mit ihnen lief der
Stoffwechsel der Wälder viel langsamer ab. Regenwürmer können so schnell
wie keine vergleichbare Art organische Materie umsetzen. Die
nordamerikanischen Pflanzen sind darauf aber nicht eingestellt und können
die freigesetzten Nährstoffe nicht langfristig im Ökosystem halten.
Und auch im Boden selbst richten die Würmer Schaden an.
Viele Waldpflanzen gehen symbiotische Partnerschaften mit Pilzen ein,
sogenannte Mykorrhizen. Der Pilz sitzt an den Wurzeln der Pflanze und
versorgt sie mit Wasser und Nährstoffen. Im Austausch erhält er Kohlenstoff
von der Pflanze. Diese Zusammenarbeit wird durch die alles durchpflügenden
Regenwürmer gestört. Sowohl die Anzahl dieser Pilze, als auch der mit ihnen
verbundenen Pflanzen nimmt ab.
Wieso ist Artenvielfalt so wichtig?
Zum einen haben wir eine Verantwortung gegenüber Tieren und Pflanzen. Wir
haben schlicht nicht das Recht, Biodiversität zu zerstören. Außerdem gilt
es zu verhindern, dass durch menschliches Handeln Ökosysteme homogenisiert
werden und es überall gleich aussieht. Außerdem funktionieren Ökosysteme
besser, wenn eine größere Artenvielfalt vorhanden ist. Das bezieht sich vor
allem auf Themen wie die Fähigkeit eines Ökosystems, Wasser zu reinigen,
Kohlenstoff zu speichern oder Biomasse zu produzieren. Mittlerweile
versucht man diese Funktionen in Zahlen auszudrücken, um den Menschen zu
zeigen, welchen Nutzen sie davon haben.
Was halten Sie davon?
Man muss mit solchen Zahlen sehr vorsichtig sein. Wie will man etwa den
ästhetischen Wert von Biodiversität in Euro ausdrücken? Andererseits ist es
mir natürlich ein Anliegen, Menschen für dieses Thema zu sensibilisieren.
Dass Klimaveränderungen stattfinden und sie davon betroffen sind, verstehen
mittlerweile viele Menschen. Wenn aber eine Art verschwindet, ist den
wenigsten klar, welche Konsequenzen das hat. Wenn wir aber sagen können,
der Verlust dieser drei Arten kostet pro Quadratmeter so und so viele Euro,
wird das Thema auch für jemanden verständlich, der sich bisher nicht dafür
interessiert hat.
7 Sep 2017
## AUTOREN
Nadja Mitzkat
## TAGS
Schwerpunkt taz Leipzig
Biodiversität
Ökosysteme
Amerika
Universität Leipzig
Artenvielfalt
Schwerpunkt Klimawandel
Norwegen
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