# taz.de -- Nato-Übung in Süddeutschland: 15 Tage auf dem „Schlachtfeld“ | |
> In Bayern üben Nato-Soldaten den Krieg. Unsere Autorin war als eine von | |
> 250 StatistInnen dabei. Wer ist der Feind? Russland? | |
Bild: Krieg wird schon lange gespielt in Hohenfels: etwa 2015 bei einer Nato-Ü… | |
HOHENFELS taz | Eine feindliche Armee ist in eine Stadt an der | |
bayerisch-tschechischen Grenze eingefallen. Nato-Truppen sollen sie | |
zurückdrängen. Meine Nachbarn und ich flüchten im Fahrzeugkonvoi. | |
Straßensperren, verminte Wege – dabei meinte das Rote Kreuz doch, das sei | |
eine sichere Route. In der nächsten Stadt sagt uns eine Frau vom | |
UN-Flüchtlingshilfswerk, wir könnten dort nicht bleiben. | |
Wir fahren zurück in unsere Stadt. Dort hören wir: Vier Menschen wurden von | |
Nato-Kräften erschossen, während sie angeblich auf einer nicht | |
freigegebenen Straße fuhren. Außerdem gab es einen Anschlag auf eine | |
Flüchtlingsunterkunft, 20 Tote. Steckt die rechtsradikale Vaterlandspartei | |
dahinter? Wir versammeln uns zu einer Schweigeminute. | |
Eine Woche vorher: ein Sonntag, zehn Uhr abends am zentralen Omnibusbahnhof | |
in Berlin. Zwei Busse der Firma Schmetterlingsreisen fahren vor, im Fenster | |
ein handgemaltes Schild: „COB“ – Civilians on the Battlefield. Mit 100 | |
Fremden steige ich ein, wir alle sind von da an COBs, Statisten in einem | |
Kriegsszenario, das die US-Armee einüben will. 15 Tage auf dem Schlachtfeld | |
liegen vor uns. | |
Ende März habe ich auf Facebook eine Stellenanzeige der Firma Optronic | |
entdeckt: „Statisten gesucht für Rollenspiele bei Trainingseinsätzen der | |
U.S. Army! Durch die Statisten wird die Zivilbevölkerung in Krisengebieten | |
dargestellt. Dadurch wird ein realitätsnahes Übungsszenario für die | |
Soldaten und somit eine optimale Vorbereitung für deren | |
Auslandsmissionen erreicht.“ Das Ganze findet statt auf dem | |
Truppenübungsplatz Hohenfels: ein 160 Quadratkilometer großes | |
US-Militärgelände in der Oberpfalz, auf dem regelmäßig Nato-Truppen üben. | |
Für die Übung werden Leute gesucht, die neben Englisch auch Russisch, | |
Polnisch oder Tschechisch sprechen. Erstaunlich, mit welcher Nonchalance | |
Leute rekrutiert werden, um ein Szenario gegen Russland zu proben – davon | |
stand da zwar nichts, aber in meinem Kopf setzte sich das sofort zusammen. | |
Facebook-Freunde von mir kommentierten: „unglaublich!“ und „gruselig!“. | |
Der russische Politiker Franz Klinzewitsch, der dem Verteidigungsausschuss | |
des Föderationsrats vorsitzt, sagte russischen Medien: „Diese Übungen sind | |
von großer Sprengkraft. Sie drängen Russland geradezu zu spontanen, | |
unüberlegten Handlungen. Aber unsere Nerven sind stark.“ | |
## Keine kurzen Röcke! | |
Ich fülle das elektronische Bewerberformular aus. Ein paar Wochen später | |
ruft mich eine Frau mit russischem Akzent an und fragt, ob ich zu einer | |
zweiwöchigen Übung kommen könne. Ich sage zu. Während der Übung möge ich | |
keine kurzen Röcke tragen. „Die Soldaten sollen ja bei der Sache bleiben“, | |
sagt sie lachend. „Natürlich“, antworte ich. | |
Der Lohn: 88,40 Euro brutto für zehn Stunden Arbeit am Tag. Wer gegen | |
Regeln verstößt oder früher abbricht, zahlt 150 Euro Strafe. Früher gab es | |
120 Euro pro Tag, erzählen mir altgediente Statisten. | |
In Parsberg in der Oberpfalz sammeln sich sechs Busse, in denen Statisten | |
aus ganz Deutschland sitzen. Von hier aus sind es nur noch 15 Kilometer bis | |
zum Truppenübungsplatz Hohenfels. Auf dem Parkplatz tummeln sich Rentner | |
mit Wanderschuhen, Junge mit Dreads, viele Westafrikaner, Ruhrpottler, | |
viele Neue, Abenteurer. Russisch hört man aus jeder Richtung kommend. | |
Bekannte umarmen sich. In Hohenfels sind schon viele Freundschaften | |
entstanden. | |
Telefone und Computer sind auf dem Übungsgelände verboten. Die Neulinge | |
finden das attraktiv. Mal keine Mails, keine Anrufe. Mein nigerianischer | |
Sitznachbar, der schon um die 50 Manöver hinter sich hat, findet das nicht | |
mehr so attraktiv und flüstert mir, wie man sein Handy reinschmuggelt. Als | |
die Briefumschläge verteilt werden, in die alle ihre Handys stecken, | |
behalte ich meins. Der Gedanke, ein Geheimnis zu teilen, gefällt mir. | |
Wir durchfahren Tore, Schranken, dann kommen wir am Stützpunkt Albertshof | |
an, eine Stadt aus gelben Baracken und Parkplätzen, auf denen | |
Armeefahrzeuge stehen. Ab jetzt herrscht militärische Ordnung, auch für uns | |
Zivilisten. In Reihen stellen wir unser Gepäck auf, Spürhunde riechen dran, | |
mit farbigen Armbändchen teilt man uns einem der fünf Orte zu, die wir | |
besiedeln werden. | |
## Hasla, das Fake-Dorf | |
US-Amerikaner inspizieren unsere Pässe, nehmen Abdrücke aller fünf Finger | |
und fotografieren jeden Einzelnen der 250 Statisten. In welchen Ländern ich | |
in den letzten sieben Jahren gewesen sei, fragen sie. Und ob ich wisse, | |
dass ich keine Details über meine Arbeit erzählen dürfe. Die | |
Verschwiegenheitsvereinbarung habe ich schon unterschrieben. | |
Bei all dem Aufwand frage ich mich: Warum war es so leicht, den Job zu | |
kriegen? Sind die Übung und die Suche nach Statisten nur Säbelrasseln? | |
Das Fake-Dorf, in dem ich mit 37 anderen Statisten wohnen soll, heißt | |
Hasla. Mit dem Bus fahren wir über Schotterpisten durch die Natur. Hügel, | |
Wald und Wiesen, die an manchen Stellen aufgerissen sind, umgepflügt von | |
Panzern. Hasla sieht für mich nach Balkan aus: Baracken mit kleinen | |
Fenstern und Mauern drumherum, zweistöckige Blocks mit Kioskbuden, ein | |
Minarett mit Halbmond. Hier werden regelmäßig Einsätze in Afghanistan, Irak | |
oder Kosovo trainiert. | |
Für unser Szenario wird eine Bayernfahne vor dem Rathaus gehisst. Es gibt | |
ein Hotel, einen Biomarkt, eine Rapsölverarbeitung, einen Container, auf | |
dem „Düngelager“ steht. Die Bretterverschläge am Hang sind Bauernhöfe, | |
davor stehen Holzschablonen von Schafen und Hühnern. Ein Haus mit Kreuz | |
dient als Kirche, darin Bänke, ein Altar und ein Sarg für Beerdigungen. Wir | |
leben in einer Art Lagerhalle, in der sich drei fensterlose Schlafsäle mit | |
Stockbetten, ein Versammlungsraum und die Büros der Chefs befinden. | |
In Hasla leben laut dem Szenario 10.000 Einwohner, Abwanderung ließ die | |
Stadt kleiner werden. Die meisten arbeiten in der Landwirtschaft und der | |
Lebensmittelverarbeitung, Hasla ist ein Logistikdrehkreuz. Seit Beginn der | |
Skolkan-Krise leidet die Wirtschaft unter Treibstoffmangel, viele | |
Flüchtlinge aus Osteuropa kommen, die aus Nordafrika sind schon länger da, | |
viele von ihnen leben auf der Straße. | |
Die samstäglichen Demos der deutschen Vaterlandspartei arten regelmäßig zu | |
gewalttätigen Mobs aus. Die Polizei steht im Verdacht, nicht genügend gegen | |
die rechten Brandstifter zu tun, ihr wird Racial Profiling vorgeworfen. Es | |
gibt Nato-nahe und Skolkan-nahe Medien, Fake News und ein eigenes Twitter | |
im Intranet. | |
Skolkan ist ein Bündnis aus den Ländern Bothnia, Lindsey, Otso und Arnland. | |
Es fiel im vergangenen Herbst in Estland ein, also Nato-Gebiet, wodurch der | |
Bündnisfall eintrat. Lettland, Litauen, Polen und Tschechien sind bereits | |
in Feindeshand. Nun stehen die Skolkan-Truppen in Bayern, die Nato muss | |
endlich was tun. Und zwar nach den Regeln der Genfer Konvention. | |
Auch wenn die Chefs es nicht aussprechen, Skolkan passt gut auf Russland. | |
Einigen Statisten wird unwohl dabei. Eine Frau der Firma, die uns | |
rekrutiert hat, beschwichtigt: „Nein, wir bereiten keinen Krieg mit | |
Russland vor. Ihr seht ja, es ist alles ausgedacht.“ | |
Lange Briefings: Wir sind pünktlich, wir sind aufmerksam. Wir reden nicht | |
über Politik. Auch nicht über Persönliches. („Denn wir sind alle erwachsene | |
Leute“, sagt der Supervisor.) Verdächtiges melden wir den Chefs. Wir | |
verlassen das Dorf nicht, wir trinken genug Wasser. Wir verstopfen nicht | |
das Klo. Wir gehen nicht ins hohe Gras, denn dort lauern Zecken. Wir stören | |
die Nachtruhe nicht. Wir tragen immer das Miles, außer in der | |
Schlafbaracke. | |
## Wir sitzen fest | |
Das Miles ist wie ein Hundegeschirr in Tarnfarbe mit Infrarotsensoren und | |
einem Minicomputer. Wird man angeschossen, piept es kurz. Wird man | |
totgeschossen, hält das Piepen an. So lange, bis man mit einer | |
Infrarotpistole wiederbelebt wird. „Resurrected!“, meldet dann eine Stimme | |
aus dem Minicomputer. Gespielt wird normalerweise nach Vorgaben des Chefs, | |
aber man darf sich auch einbringen. | |
Nach ein paar Tagen Vorbereitung beginnt das Szenario, neun Tage Krieg. | |
Über uns kreisen pausenlos Drohnen, Militärfahrzeuge rollen vorbei, nicht | |
alles Panzer. Ich lerne neue Wörter: Humvee, LAV, Blader, Flakabwehrschirm. | |
Ein Aufklärungshubschrauber landet in der Nähe. Wahrscheinlich sind | |
feindliche Truppen nicht weit. Hacker haben die Bankautomaten lahmgelegt. | |
Wir sitzen fest. | |
Schon am ersten Tag werden zwei von uns stundenlang von albanischen | |
Nato-Kräften festgehalten, als sie mit einem Pick-up Wasser holen. Die | |
Soldaten vermuten in den Kanistern Chemie zum Bau einer Bombe. Die erste | |
Sternstunde unseres Polizeichefs schlägt: Er verhandelt die Freilassung | |
unserer Leute. Einer der Festgehaltenen ist außer sich: „Die haben mich | |
sogar beim Pissen mit der Waffe bedroht!“ Er spielt nicht. | |
Eine Nachricht erreicht uns übers Telefon im Rathaus: Ein Vater und sein | |
Sohn sind schwer verletzt, offenbar durch einen fehlgeschlagenen | |
Drohnenabschuss der Nato. Unser Polizeichef will die Nato nun wegen | |
versuchten Mordes anzeigen. Der Chef ist überrascht: „Okay, warum nicht?“ | |
„Man wird quasi fürs Rumblödeln bezahlt“, sagt Anjo, Pferdeschwanzträger | |
mit Platzhirschgebaren. 2003 beschloss er, für seinen Chef, „den | |
Kapitalistenarsch“, nicht mehr zu arbeiten. So begann seine Karriere als | |
COB. Noch drei Jahre bis zur Rente. „Wo treffe ich sonst so viele | |
unterschiedliche Leute?“, sagt er. | |
In unserer Gruppe: ein Windows-Systemmanager, ein deutscher | |
Afghanistanveteran, Doktoranden, Selbstständige, Lkw-Fahrer, ein | |
bayerisches Pärchen, das Urlaub macht, ein kenianischer Journalist, eine | |
polnische Weltenbummlerin, die für die nächste Reise spart, Rentner, | |
Russlanddeutsche und in Deutschland lebende Russen. | |
## Die Amis brauchen ein Feindbild | |
Der einsame Gerhard aus Bayern, der in einer Lebenskrise steckt, gesteht | |
mir: „Ich fühle mich hier mehr zu Hause als daheim.“ Der überarbeitete Ken | |
hat sich frei genommen, um bei der Armee Verzicht und Durchhaltevermögen zu | |
stärken. Georg, ein in Ostpolen lebender Energieberater aus Hamburg, will | |
sich, angesichts der politischen Entwicklungen, mit dem Ernstfall vertraut | |
machen. | |
Ken, Gerhard, Anjo und ich pauken unsere Rollen. Anjo: „Als wir Irak- und | |
Afghanistanübungen hatten, war das real. Aber mit dem hier kann ich mich | |
nicht identifizieren!“ Dann flüstert er: „Ist ja kein Geheimnis – der | |
Feind, dieser Skolkan, kommt aus Richtung Russland. Die Amis brauchen halt | |
ein Feindbild.“ | |
„In Litauen oder Polen fühlen sich viele bedroht von Russland“, sage ich. | |
„Und die Ukrainer erst.“ | |
„Bist du eigentlich Litauerin oder Polin?“, fragt Gerhard. | |
Im Kriegsszenario spiele ich eine osteuropäische Immigrantin. Arbeitslos | |
und frustriert. Ich bin schon vor der Skolkan-Krise gekommen und ärgere | |
mich, dass die vielen Flüchtlinge die Preise in der Stadt verderben. Die | |
Rechten machen mir Angst. | |
Wie die meisten Statisten werde ich keine Gelegenheit haben, meine | |
elaborierte Rolle zu spielen. Nur die Schlüsselrollen – Bürgermeister, | |
Arzt, Polizei, Migrationsbeauftragter und die vier Twitterer – sind | |
spielintensiver. | |
Instinktiv besetzt der Chef die Rollen: Polizeichef wird ein ehemaliger, | |
korpulent gewordener Polizist aus Bayern, der schon weiß, in welches | |
Bergdorf er sich mit seiner Familie zurückzieht, wenn wirklich mal ein | |
Krieg ausbricht. Der zweite Polizist hat im richtigen Leben eine | |
Security-Firma. Anführer der rechten Partei wird Igor, er hat eine große, | |
schlagfertige Klappe. | |
Im Frauenschlafsaal: Alena und Galina, Langzeit-COBs. Beide aus Moskau, | |
beide Englischlehrerinnen, leben seit mehr als 20 Jahren in Deutschland. | |
Sie sprechen exzellent Deutsch und verschlingen während der Übung englische | |
Krimis und Thriller. | |
Alena hat ein Referendariat in Deutschland absolviert, bekam danach aber | |
keine Stelle, hier bessert sie ihre Witwenrente auf. Wenn sie ihre alten | |
Freundinnen in Moskau besuche, fühle sie manchmal Entfremdung, erzählt sie. | |
Sie habe kein russisches Fernsehen zu Hause, deswegen, sagt sie. | |
Tiefpunkt ist das Mittagessen am ersten Tag. Ich bin hundemüde und hungrig. | |
Im Café bekomme ich eine braune Tüte in die Hand gedrückt, auf der steht: | |
„MRE“ – Meal Ready to Eat, Warfighter Recommended. Als ich die Tüte endl… | |
geöffnet habe, schütte ich ratlos den Inhalt aus: 10 weitere zugeschweißte | |
Tüten mit viel Text auf Englisch. In einer finde ich schwammgleiches süßes | |
Brot, von dem ich nur einen Bissen runterkriege. | |
Offenbar ist die grüne Tüte das Hauptmenü. Man steckt sie in eine zweite | |
grüne Tüte, die ein chemiegetränktes Papier enthält, das heiß wird, wenn | |
man es anfeuchtet. Aber das begreife ich erst am nächsten Tag. Kalt | |
schaufle ich mir den Inhalt der grünen Tüte rein, erkenne Makkaroni und | |
Soße, aspikähnlich in der Form, nach Hundefutter riechend. Zum Nachtisch | |
esse ich salzig-süße Cracker. Danach ist der Tisch bedeckt von einem Haufen | |
Plastikmüll. Ein MRE gibt es jeden Tag zu Mittag. | |
## Fake-Mahnwache der Friedensbewegung | |
Das Szenario stiftet zu Gesprächen an, die ich sonst so nicht führen würde. | |
Wir fragen uns, wer in Deutschland überhaupt bereit wäre, zur Waffe zu | |
greifen. Und welche europäischen Länder sich ganz pragmatisch den Russen | |
unterwerfen würden. „Ich bin kein Kämpfer, aber im zivilen Widerstand würde | |
ich mich schon betätigen“, sagt Georg, der Arzt in unserem Spiel. Auf | |
Nato-Seite. „Das sind halt unsere Arschlöcher.“ | |
Was ist mit mir? Russen oder Amis – wie käme ich aus dieser Nummer raus? | |
Pazifismus? Dabei mache man sich leicht zum nützlichen Idioten, sagt der | |
weise Georg. | |
In unserer Spielwelt hält die Friedensbewegung in der Universitätsstadt | |
Raversdorf Mahnwachen ab, klagt unter #notmyarmy das Vorgehen der | |
Nato-Truppen an und wird dabei von den Skolkan-nahen Medien vereinnahmt. | |
Die echte Friedensbewegung ist eine gute Vorlage. | |
Walter, der Älteste der Gruppe, war Sportfunktionär der DDR und hat sechs | |
Jahre in der Nationalen Volksarmee gedient. Die sowjetischen Soldaten | |
habe er immer als sehr kameradschaftlich empfunden. Und jetzt ein Szenario | |
gegen Russland? „Na ja, die Weltgeschichte hat sich nun mal gedreht“, sagt | |
er. Es sei wichtig, dass Soldaten etwas über die Kultur der Menschen vor | |
Ort lernen. Damit Krieg gesitteter ablaufe. Dafür wolle er als COB seinen | |
Beitrag leisten. | |
Abends frage ich Alena, was ihre Moskauer Freundinnen von ihrer Arbeit | |
halten. „Ganz normal. Soll ich mich schlecht fühlen, weil ich für die Nato | |
arbeite?“, sagt sie. | |
„Nein. Aber wir machen diese Übung ja nicht ohne Grund.“ | |
„Meinst du, die Nato überfällt Russland wegen Rohstoffen?“ | |
„Nein. Eher, dass Russland angreifen könnte. In der Ukraine sind sie ja | |
schon und auf der Krim.“ | |
## Ich brauche Fronturlaub | |
Die Ukraine sei ein spezieller Fall, sagt Alena. Die Krim war das Schönste, | |
was die Sowjetunion gehabt habe. Die Ukrainer im Westen wollten in die EU, | |
aber auf die im Osten seien Phosphorbomben geworfen worden. | |
„Phosphorbomben?“, hallt es in meinem Kopf nach. | |
„Putin musste es tun. Er musste die Krim und unsere Leute retten.“ | |
Alena spricht immer aufgeregter, ich werde auch kurzatmig. Ich müsse zum | |
Tischtennis, entschuldige ich mich. Und habe das Gefühl, ich brauche | |
Fronturlaub. An der Tischtennisplatte wissen sie schon von unserer | |
Diskussion. | |
Warten auf einen Luftangriff. Kostja, ein Russlanddeutscher um die 50, den | |
einige „Putin“ nennen, seiner Glatze und Drahtigkeit wegen, fragt: „Was | |
bringt die EU? Warum wollen die kleinen osteuropäischen Länder unbedingt | |
dazugehören?“ | |
Ich zähle ein paar Dinge auf – europaweite Arbeits- und | |
Studienmöglichkeiten, günstige Pflegekräfte für die Deutschen – und wunde… | |
mich, dass er das selbst nicht sieht. „Und warum wollen Länder, die an | |
Russland grenzen, unbedingt in die Nato?“ | |
„Die bringen sich doch zwischen die Fronten der Großmächte!“, klinkt sich | |
Shukrat ein, ein kirgisischer Moskauer, der in Deutschland in Soziologie | |
promoviert. „Es war dumm von der Nato, Russland nicht aufzunehmen.“ | |
Ich bleibe ruhig, obwohl Kostjas Sicht mindestens so weit entfernt von | |
meiner ist wie Alenas. „Russland wird keins der baltischen Länder | |
angreifen. Denn wozu?“, sagt Kostja. | |
„Um wieder groß zu sein. Schau in die Ukraine“, singe ich mein Lied. | |
## Kein Luftangriff | |
Es endet immer so: Da die strategischen Argumente – Armeestärken, | |
Ostseezugang – und bei mir die juristischen – Souveränität, Völkerrecht. | |
Kostja hat Kleintransporter mit Versorgung zu den Separatisten in den | |
Donbass geschickt. Sollte es nötig werden, werde er hinfahren, um mit der | |
Waffe gegen faschistische Freiwilligenbataillone zu kämpfen. Er hat in der | |
Roten Armee gedient und hält sich für einen guten Krieger. Er sagt das | |
ohne Eifer. Ich bin fassungslos, es fühlt sich an, als wären wir von | |
verschiedenen Stämmen. | |
Der Luftangriff bleibt aus. | |
„Tagesschau“ am Abend, echte Nachrichten: Terroranschlag in London. | |
„Viehzeug!“, schimpft Anjo über die Attentäter. „Alle raus!“, raunt I… | |
als die Grafik über potenzielle Gefährder eingeblendet wird. Danach: | |
Monopoly, Schach, Kartenspiele. | |
Seit dem Streit mit Alena sind zwei Tage vergangen. Vorsichtig spreche ich | |
sie an. „Nein, ich war nicht beleidigt. Aber schon verstimmt“, sagt sie. | |
„Ich auch“, sage ich. | |
Ein Gerücht rollt unser Thema beim Abendessen noch mal auf. Angeblich sind | |
ukrainische Nato-Soldaten zu Skolkan übergelaufen. Alenas Kommentar: „Fürs | |
Seitenwechseln sind die Ukrainer bekannt.“ Beata, eine Polin, entgegnet | |
ihr: „Du fühlst eben wie eine Russin.“ | |
Alena versucht es mit einem Beispiel: Ein deutscher Polizist habe mal einem | |
Kindesentführer Folter angedroht, um das Kind zu retten. Er verlor seinen | |
Job und stand vor Gericht, weil Folterandrohung verboten ist. Alena hat das | |
geschockt. „Recht steht gegen Gerechtigkeit, so ist das auch bei der Krim.“ | |
Alena und ich streiten wieder. „Selbst wenn viele Krimbewohner zu Russland | |
gehören wollten – von Moskau aus Fakten schaffen geht nicht“, sage ich. Wie | |
die Krim auf korrekte Weise ihre Staatszugehörigkeit hätte wechseln können, | |
fragt mich Alena zum Glück nicht. | |
## Warten auf die Besatzer | |
„Bitte sprich mich nie mehr auf das Thema an“, sagt sie stattdessen und | |
will einen Handschlag darauf. | |
Später sagt die besonnene Beata: „Die Erde gehört niemandem.“ | |
„Was hat Russland zu bieten?“, frage ich Kostja. | |
„Wertschätzung für seine Armee“, sagt er. | |
Das scheint mir wenig gegen die Chancen, die viele europäische Länder | |
bieten. Aber mir leuchtet ein, dass patriotischen Kriegern etwas fehlt, | |
zumindest in Deutschland. Soldaten schlägt oft Verachtung entgegen. | |
Wir warten auf die Besatzer, jeder wird der Spionage verdächtigt: der rote | |
Jeep, der durch die Stadt fuhr? Das Mädchen, das etwas zeichnete? Habe er | |
verwarnt, sagt der Polizeichef. Manche rollen die Augen, wenn er spricht: | |
Nimmt sich viel zu wichtig. Auch der rechte Parteiführer klebt an seiner | |
Rolle. Abends, wenn wir „Werwolf“ spielen, wird er dauernd verdächtigt, der | |
Mörder zu sein. | |
Am sechsten Tag stürmen die Skolkan-Soldaten die Stadt mit vier Panzern und | |
bringen sich auf den Dächern in Stellung. Eine Stunde und die Stadt ist | |
besetzt. Die Spielanweisung: Wir verstecken uns zuerst in den Häusern, beim | |
Überqueren der Straße müssen wir rennen. Wir dürfen nur Deutsch sprechen. | |
Der Chef der Vaterlandspartei verhandelt mit den Skolkan-Soldaten über eine | |
Lösung für das „Flüchtlingsproblem“, so hat er es als @lebensraum auf | |
Twitter angekündigt. Auch im Haslaer Rathaus überlegt man, die Feinde um | |
Hilfe zu bitten, denn es fehlt an allem. Georg, der Arzt, ist enttäuscht, | |
dass das Rote Kreuz keine Absprachen einhält. Linus, der | |
Migrationsbeauftragte, frustriert: „Wir twittern und leiten Anrufe weiter | |
wegen der drohenden humanitären Katastrophe. Aber eigentlich hängen wir | |
fett und zufrieden rum!“ | |
## Die rettenden Soldaten | |
Der Polizeichef der Nachbarstadt wird auf offener Straße von | |
Skolkan-Soldaten exekutiert, weil er Hilfseinheiten der Nato nicht | |
ausgeliefert hat. Die übrigen Polizisten haben die Uniform gewechselt. | |
Am achten Tag zeigen sich endlich Nato-Soldaten am Waldrand. Sie zielen auf | |
die Stellungen der Feinde. Wir verfolgen alles gespannt am Fenster. | |
Maschinengewehrsalven, abgeschossene Panzer blinken. | |
Irgendwann laufen die Soldaten den Hang runter, auf die Hauptstraße. Ich | |
sehe niemanden piepend am Boden liegen. Das Stürmen der Gebäude ist | |
unangenehm, die Soldaten sind grob, ihre Gewehre machen mir Angst, obwohl | |
sie die Befreier sind. | |
„Yes, okay, civilians!“, rufen die Soldaten. „Nato? Nato?“, rufen wir m… | |
erhobenen Händen. Sie verstehen nicht gleich. Es sind ukrainische Soldaten, | |
die uns retten. Genügt das als Gewissheit, dass sie zu den Guten gehören? | |
Wir zögern, dann rufen wir drehbuchgemäß: „Danke, Nato!“ | |
Die Ukrainer rufen: „Slava Ukrainu!“, „Ehre der Ukraine!“ Kostja neben … | |
ruft leise: „Salo Ukrainu!“, eine Verballhornung des Schlachtrufs. „Salo�… | |
bedeutet Speck. | |
Die Soldaten schicken uns raus auf die Straße. Dort unterhalten sich der | |
Bürgermeister, die Polizisten und der ukrainische Kommandant, ein Soldat | |
übersetzt. Dann überreichen die Ukrainer uns zwei Kartons MREs, was unser | |
Versorgungsproblem symbolisch löst. | |
## „Sind sie Nazis?“ | |
Kostja spielt den Neutralen und redet mit den Befreiern, die im echten | |
Leben seine Feinde sind, weil sie mit alten Kalaschnikows gegen die | |
Separatisten in der Ostukraine kämpfen. Später frage ich ihn: „Und, sind | |
sie Nazis?“ | |
Er: „Na ja. Nationalisten würde ich sagen. Sie mögen keine Russen.“ | |
Ich: „Und die Russen, die die Ukrainer nicht mögen, sind das | |
Nationalisten?“ | |
Er überlegt: „Wahrscheinlich.“ | |
Abends spielen wir mit den Ukrainern „Durak“, ein russisches Kartenspiel. | |
Das Kriegsspiel ist endlich vorbei. | |
Zu Hause angekommen recherchiere ich: Unser Szenario wurde schon 2012, also | |
vor dem Ukrainekrieg, erdacht. „Wozu die Sprachkenntnisse?“, habe ich eine | |
Frau der Rekrutierungsfirma noch in Hasla gefragt. „Vielleicht brauchen wir | |
diese Leute im nächsten Jahr“, sagt sie. Sie suchen schon mal. | |
Unsere Autorin schreibt unter Pseudonym. Informationen, die auf sie | |
schließen lassen, wurden verändert – ebenso wie alle Namen im Text. | |
28 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Sascha Siegmund | |
## TAGS | |
Nato | |
Krieg | |
Truppen | |
Russland | |
Russland | |
Nato | |
Nato | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Militärisches Großmanöver in Russland: Wirrwarr wegen „Weischnoria“ | |
Das beginnende Großmanöver „Sapad 2017“ beunruhigt nicht nur die Nachbarn. | |
Es enthüllt auch Moskauer Merkwürdigkeiten. | |
Nato-Großmanöver „Anakonda“ in Polen: 31.000 Soldaten proben Krieg | |
Dienstag startete das Nato-Manöver „Anakonda“ in Polen. Die Übung zeige | |
„Verunsicherung“ von Osteuropäern wegen Russland, sagt Gernot Erler (SPD). | |
Neues Wettrüsten befürchet: Säbelrasseln in Ost und West | |
Die USA erhöhen die Nato-Präsenz in Osteuropa, Russland reagiert mit Ausbau | |
seines Atomwaffenarsenals. Experten warnen vor Wettrüsten. |