# taz.de -- Kritik an Netflix-Film über Magersucht: Auch Essgestörte essen | |
> „To the Bone“ handelt von einer jungen Frau mit Magersucht. Der Film | |
> stelle das Thema unsensibel dar, sagen einige. Ist da was dran? | |
Bild: Lily Collins spielt die 20-jährige Emma, die von Therapie zu Therapie st… | |
Die Netflix-Produktion „To the Bone“ läuft seit dem 14. Juli und sorgt | |
seither für Diskussion. Kein Wunder, denn Filmemacherin Marti Noxon | |
thematisiert darin ein sensibles Themengebiet: Essstörungen. | |
Der Film handelt von der 20-jährigen Ellen, gespielt von Lily Collins, die | |
mit ihrer Magersucht kämpft und von einer Therapie in die nächste stolpert | |
– ohne Erfolg: Sie kratzt an ihren körperlichen und psychischen Grenzen. | |
Hinzu kommen Ellens pessimistische Haltung und der leere, magere Blick: | |
zwei Attitüden, die sich wie dunkle Wolken durch die 105 Minuten ziehen. | |
Sie erscheint ohnmächtig, denn ihr Wille zur Genesung ist zu schwach. Auch | |
ihre Patchworkfamilie kann Ellen kaum helfen. Eher sind sie es, die, wie so | |
oft bei Essgestörten, zu ihrer Krankheit beitragen. Der Vater ist ein | |
Workaholic und kann beziehungsweise möchte keine Zeit für seine Tochter | |
finden. Die spirituelle Mutter hat sich mit ihrer neuen Partnerin auf dem | |
Land abgesetzt und betreibt einen Pferdetherapiehof. Die jahrelange | |
Betreuung und das hilflose Zuschauen, wie ihre Tochter vor ihren Augen | |
stirbt, haben zu sehr an ihren persönlichen Ressourcen gezogen. Das ist | |
eine gängige Symptomatik der Krankheit, die das soziale Umfeld der | |
Erkrankten ähnlich mitnimmt wie sie selbst. | |
Auch Ellens junge Schwester leidet mit: „Wenn du stirbst, dann töte ich | |
dich“, sagt ihre Schwester in einer der rührendsten Szenen des Films. Und | |
dann gibt es da noch die Stiefmutter, das einzige Familienmitglied, das sie | |
noch aktiv unterstützt. Auch wenn sie dabei oft ungeschickt und übertrieben | |
US-amerikanisch agiert – zum Beispiel, wenn sie der knochigen Ellen einen | |
Kuchen in Form eines Burgers backt, auf dem „Eat me, Ellen!“ steht. Oder | |
indem sie verzweifelt versucht, den Grund der Erkrankung in den | |
vermeintlichen Fehlern der anderen zu diagnostizieren. In der | |
Homosexualität von Ellens Mutter zum Beispiel. | |
Aber letztendlich ist sie es, die ihre Stieftochter von einer Therapie bei | |
Dr. Beckham (Keanu Reeves) überzeugt. Beckhams Methoden gelten als | |
besonders hart. Die Betonung liegt auf „gelten“, denn im Film wird von | |
diesen Maßnahmen kaum etwas gezeigt. Er schlägt Ellen vor, sich einen neuen | |
Namen zu geben oder lässt seine Patient*innen im Regen tanzen – aber | |
das sind weder besonders unübliche noch radikale Therapiemethoden. | |
## Voller Stereotype | |
Im Zuge der Behandlung zieht Ellen in ein Haus, in dem sie mit sechs | |
anderen Essgestörten wie in einer WG zusammenlebt. Der Film zeigt ohne | |
Vorsicht hässliche Bilder aus dem Leben von jungen Menschen, deren Leben | |
vom Kalorienzählen, Kotzen und dem Geruch von Erdnuss mit | |
Schokoladenüberzug dominiert werden. Eine Mitbewohnerin kotzt ihr Essen in | |
eine Tüte unter ihrem Bett, die andere kämpft um das Leben ihres Babys in | |
ihrem mangelernährten Körper. Bilder, die davon abschrecken sollen, in eine | |
solche Suchterkrankung zu geraten. | |
Allerdings bedient der Film sich dabei diversen Stereotypen. Zum Beispiel | |
das von der Anorektikerin, die, als sie hört, wie viele Kalorien sie durch | |
die künstliche Ernährung zugeführt kriegt, fast irre wird und zum Frühstück | |
nur ein Stück Toast in kleine Teile rupft. Oder das der Bulimikerin, die | |
zum Abendessen Eier zerkleinert, anstatt sie zu essen. Würden die | |
Patientinnen tatsächlich so viel beziehungsweise wenig essen, wie es in den | |
Szenen „am Foltertisch“ gezeigt wird, wären sie bereits tot. Ja, auch | |
Essgestörte essen – nur halt gestört. In dieser Hinsicht erscheint der Film | |
sehr unrealistisch. | |
Auffällig ist auch, dass das Problem der Magersucht und Bulimie | |
ausschließlich die weißen jungen Frauen im Film betrifft. Die einzige dicke | |
Protagonistin ist Schwarz (Lindsey McDowell) und isst zu jeder Mahlzeit mit | |
großen Löffeln ihr Glas Erdnussbutter: ein reproduziertes Stigma, das sich | |
mit Rassismus und Klassizismus paart. | |
Auch die Rolle des einzigen männlichen Mitbewohners Luke kommt klischiert | |
daher. Als „gesündester“ Patient unterstützt er seine Mitbewohnerinnen, so | |
gut er kann. Besonders Ellen, in die er sich verguckt. Als ihr Retter | |
spielt er, neben dem smarten, gut aussehenden Dr. Beckham, den typisch | |
männlichen Helden. Die schwachen Rollen übernehmen die Frauen. | |
## Mangelnde Gendersensibilität | |
Zudem heißt es, der Film verherrliche und banalisiere Essstörungen. Die | |
Kritiker*innen fürchten, dass der Film „jahrelange Therapieergebnisse“ | |
von Essgestörten „zunichtemachen“ könnte. In der umstrittenen [1][Petition | |
„Withdraw film ‚To the Bone‘ from the public domain – prevent doing dam… | |
and stigmatising]“ fordern sie, den Film aus dem Netz zu nehmen. | |
Fehlende Gender- und Stigmatasensibilität kann man den Produzent*innen | |
vorwerfen. Der Film hätte besser zeigen können, dass Essstörungen Menschen | |
jedes Geschlechts, jeder Hautfarbe, jedes Alters, jeder Klasse und jedes | |
Gewichts betreffen. Denn das ist den wenigsten unter uns bewusst. Doch | |
Befürchtungen, der Film könne zu einer Essstörung verführen, ergeben sich | |
weniger. Das wäre wohl auch kaum im Sinne der Hauptdarstellerin Lily | |
Collins und der Regisseurin Marti Noxon gewesen, die beide in der | |
Vergangenheit von Essstörungen betroffen waren. | |
25 Jul 2017 | |
## LINKS | |
[1] https://www.change.org/p/netflix-withdraw-film-to-the-bone-from-the-public-… | |
## AUTOREN | |
Tasnim Rödder | |
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