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# taz.de -- Staatliche Verbrechen in der Türkei: Die „Verschwundenen“
> Der türkische Geheimdienst ließ in den 90er Jahren hunderte Menschen
> „verschwinden“. Seit dem Putschversuch 2016 häufen sich ähnliche Fälle…
> Ankara.
Bild: „Er fragte nach den Kindern, da wurde ihm das Telefon aus der Hand geri…
Weiße-Toros, die in den 1990er Jahren wie Gespenster durch die kurdischen
Städte fuhren, stehen in der dortigen Bevölkerung symbolisch für das
„Verschwinden“ ihrer Angehörigen – also für „staatliche Morde“, die…
Regierung lediglich als „unaufgeklärt“ eingestuft werden. Hunderte Menschen
wurden zu dieser Zeit von maskierten Männern in diese Wagen der Marke
Renault gezerrt (die in Lizenz gebauten türkischen Autos wurden vom
Geheimdienst des Militärs genutzt, Anm.d.Red.) und verschwanden für immer.
Nur wenige tauchten, meist Jahre nach ihrer Verschleppung, in Massengräbern
auf. Die Familien der Verschwundenen hielten dennoch jahrelang an der
Hoffnung fest, dass ihre verschleppten Angehörigen eines Tages
zurückkehren. Bis heute sieht man auf dem Galatasaray-Platz im Istanbuler
Stadteil Beyoğlu die „Samstagsmütter“. Seit 1995 versammeln sich dort
Angehörige, um Gerechtigkeit zu fordern.
## Schwarze Transporter ersetzen weiße Toros
Wieder verschwinden Menschen in der Türkei. Seit dem Putschversuch vom 15.
Juli 2016 wurden dem Menschenrechtsverein in Ankara 13 Fälle allein in der
Hauptstadt gemeldet. In zwölf davon wurden die Personen laut Augenzeugen in
schwarzen Transportern verschleppt. Außerdem haben sie eine weitere
Gemeinsamkeit: Sie wurden nach dem Putschversuch durch erlassene
Notstandsdekrete aus dem Staatsdienst suspendiert oder entlassen.
Mustafa Özben (42) ist einer von ihnen. Der 42-Jährige Jurist ist Mitglied
der Anwaltskammer in Ankara und hatte seine Anwaltstätigkeit aufgegeben, um
an der Turgut-Özal-Universität zu lehren. Am 23. Juli 2016, also kurz nach
dem Coup, wurde die Hochschule geschlossen und Özben verlor seinen Job.
Seit dem 9. Mai 2017 ist er verschwunden. Laut seiner Ehefrau Emine Özben,
hätte er an diesem Tag ihre gemeinsame 10-Jährige Tochter gegen Mittag zur
Schule gefahren und sei nicht wieder zurückgekehrt.
## Polizei nimmt Sorgen nicht ernst
Am darauf folgenden Tag, also am 10. Mai, wandte sich Emine Özben an die
Polizeiwache Şentepe/Ankara, um eine Vermisstenanzeige aufzugeben, doch die
Polizisten vertrösteten sie damit, ihr Mann sei womöglich „durchgebrannt“.
Zwei Tage nach dem Verschwinden ihres Ehemannes telefonierte sie ein
letztes mal mit ihm.
„Kurz nach 22 Uhr erhielt ich einen Anruf von einer unbekannten
Telefonnummer. Es war die Stimme meines Mannes, er klang nervös und fragte,
wie es mir und den Kindern geht, da wurde ihm das Telefon auch schon aus
der Hand gerissen. Seither habe ich nichts mehr von ihm gehört.“, so Emine
Özben.
Özben glaubt nicht, dass ihr Ehemann „durchgebrannt“ sein könnte, daher
macht sie sich mit Hilfe von Angehörigen selbst auf die Suche. Sie fanden
heraus, dass er an einem Geldautomaten, nicht weit von ihrer Wohnung, Geld
abgehoben hatte, in dessen unmittelbarer Nähe wiederum Tage nach seinem
Verschwinden sein verlassenes Auto gefunden wurde.
## Augenzeugen berichten von Entführung
Die Familie fand heraus, dass Özben kurz nachdem er Geld abgehoben hatte,
in einem nahe gelegenen Supermarkt einkaufen war und beim Verlassen des
Geschäfts verschleppt wurde. Augenzeugenberichten zufolge hätten drei
Personen den Familienvater in einen schwarzen Transporter mit Istanbuler
Kennzeichen in ein Auto gezerrt.
Einer der Entführer sei maskiert gewesen, „Es war wie in einem Thriller, im
Handumdrehen haben sie in geschnappt und sind davon gefahren.“, so ein
Augenzeuge, der die Tat beobachtet hatte. Weitere Zeugen hätten die Tat
unverzüglich dem Notruf gemeldet und sogar das Kennzeichen durchgegeben.
Bei Nachforschungen erfuhr Emine Özben allerdings, dass die Polizei die
Zeugen zwar vernahm, aber ihre Aussagen nicht offiziell protokolliert
hatte.
Außerdem erfuhr Özben, dass gegen ihren Mann ein Ermittlungsverfahren wegen
FETÖ-Mitgliedschaft eingeleitet wurde. Özben will trotz allem an keinen
Zusammenhang zwischen den Ermittlungen und der Entführung glauben. Sollte
eine Straftat vorliegen, so müsse dieses auf dem Rechtsweg erwiesen werden.
## Ergebnislose Ermittlungen
Daher legte Özben die ihr vorliegenden Informationen, sowie
Videoaufzeichnungen von der Tat der Polizei und Staatsanwaltschaft vor.
Trotz der Hinweise konnte der verdächtige Wagen jedoch nicht identifiziert
werden. Es wurde eine Vermisstenanzeige aufgenommen und eine
Ermittlungsakte angelegt.
Die Ermittlungen blieben ergebnislos. Vielleicht weil seit Beginn dieser
bereits drei mal der Staatsanwalt gewechselt hat. Özben stellte diverse
Untersuchungsanträge unter anderem bei der Präfektur Ankara, beim
Ministerpräsidialamt und beim Amt des Staatspräsidenten diverse
Untersuchungsanträge – alle unbeantwortet.
## Grund zur echten Sorge
Die Häufung dieser Art von Fällen, wie die von Özben, wird auch politisch
diskutiert. Sezgin Tanrıkulu, CHP-Ageordneter aus Istanbul, brachte das
Thema „Verschleppung“ im Parlament auf die Tagesordnung und stellt Fragen
zum Verbleib der seit dem vergangenen Jahr verschwundenen 13 Menschen.
Seit Tanrıkulu, der seinerzeit als Anwalt Angehörige von anderen
„Verschwundene“ vertreten hatte, sich dem Thema angenommen hat, sorgt sich
Emine Özben um das Leben ihres Mannes. Dass die Familien von anderen
Verschwundenen, ähnlich wie im Falle von Özben keine Informationen von den
Behörden erhalten, verstärkt die Befürchtung um eine mögliche Entführung.
Die Suche nach eigenen Hinweisen will Özben aber nicht aufgeben.
## 41 Tage gefoltert
Önder Asan, Lehrer an einer inzwischen per Notstandsdekret geschlossenen
Privatschule, wurde am 1. April 2017 in Yenimahalle, einem an Ankara nahe
gelegenen Landkreis, entführt. Es ließ sich rekonstruieren, dass Asan ein
Taxi nahm, weil die Reifen seines Autos abgenommen worden waren, aus dem er
dann gewaltsam heraus gezerrt und in einem Transporter entführt wurde. 41
Tage nach seiner Entführung tauchte Önder Asan am 12. Mai 2017 in der
Abteilung Organisierte Kriminalität des Polizeipräsidiums in Ankara wieder
auf.
Erst zu diesem Zeitpunkt wurde Asans Familie über seine Festnahme
unterrichtet. Als sein Anwalt aufs Präsidium kam, um seinen Mandaten zu
sprechen, wurde er erst am Folgetag durchgelassen. Asan berichtete, dass
das Taxi, indem er am 1. April 2017 fuhr, von vier anderen Wagen gestoppt
wurde und er anschließend von Bewaffneten Männern entführt worden sei.
Diese hätten sich ihm gegenüber als Polizisten ausgegeben, ihn 41 Tage in
einer Zelle von 1,5 qm festgehalten und gefoltert und am 12. Mai 2017 am
Eymir-See der Polizei übergeben.
Folgende Menschen wurden dem Menschenrechtsverein in Ankara als entführt
gemeldet:
Önder Asan, Sunay Elmas, Mustafa Özgür Gültekin, Hüseyin Kötüce, Ayhan
Oran, Mesut Geçer, Turgut Çapan, Cengiz Usta, Mustafa Özben, Fatih Kılıç,
Durmuş Ali Çetin, Cemil Koçak, Murat Okumuş.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
4 Jul 2017
## AUTOREN
Hayri Demir
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