| # taz.de -- Sonderzug zum G20-Gipfel: Drei-Klassen-System mit Durchgang | |
| > Sie kommen aus ganz Deutschland und wollen in Hamburg gegen den | |
| > G20-Gipfel demonstrieren. Eine Reise im bestbewachten Zug des Landes. | |
| Bild: Ausgestiegen: Passagiere des Sonderzugs in Hamburg | |
| Waggon 8 taz | Es klappert und quietscht und rauscht und ruckelt, und | |
| außerdem stinkt es nach Zigarettenqualm und Schmieröl, und genau dieser Ort | |
| hier, dieser wackelnde, ungemütliche Übergang auf offener Strecke, zwischen | |
| zwei veralteten Bahnabteilen, ist so etwas wie das Zentrum einer Reise aus | |
| der Vergangenheit hinein mitten ins Jetzt. In wenigen Minuten, um 8.35 Uhr | |
| an diesem Donnerstagmorgen, wird sie am Hamburger Hauptbahnhof enden und | |
| dann auf einem Protestcamp und dann auf mindestens einer Demonstration und | |
| dann für manche wohl auch in einer Gefangenensammelstelle. Jedenfalls | |
| vielleicht. | |
| Es sind nur noch wenige Minuten bis zur Ankunft in Hamburg, und am Ende | |
| dieser langen Bahnfahrt in einem Protestsonderzug durch die ganze Republik | |
| stehen zwei mittfünfzigjährige Herren im schwarzen Autonomenschick inmitten | |
| dieses Lärms und beraten die Situation. | |
| „Veteranen“, sagen sie, „sind wir. Keine Senioren.“ | |
| Und dann lachen sie und ziehen an ihren selbst gedrehten Zigaretten, und | |
| ein breites Grinsen zieht sich durch ihre warmen, gezeichneten Gesichter. | |
| Und dann geht es um die Höllennacht. | |
| ## Subventioniert durch die Antirepressionstombola | |
| Dies ist der sagenumwobene Protestzug, der als die wohl bestbewachteste | |
| Wagenreihung der Republik und mit einem Drei-Klassen-System 14 Stunden | |
| zuvor in Basel gestartet ist. 1. Klasse: Liegewagen. 2. Klasse: | |
| Polstersessel. 3. Klasse: Antikabteile, mit braunroten Sesseln aus | |
| irgendeinem vergangenen Jahrzehnt. Was so deutlich an dieser | |
| Klassengesellschaft ist: Der Klassenwechsel ist jederzeit möglich. | |
| Wer hier mitfährt, hat etwas in die Solikasse gezahlt oder mitgemacht bei | |
| der Antirepressionstombola, bei der ein Los zwei Euro kostet und drei Lose | |
| zum Preis von fünf Euro zu haben sind. Als Preise winken dann | |
| Twix-Schokoriegel oder eine Schrift von Abdullah Öcalan. Es dauert | |
| zunächst, bis die Reise am Bahnhof von Basel überhaupt beginnen kann: Dort | |
| patrouillieren am Mittwochnachmittag bewaffnete Beamte der Bundespolizei. | |
| Das Gleis 3, an dem der Zug wartet, ist abgesperrt. Die Mobile Kontroll- | |
| und Überwachungseinheit der Bundespolizeidirektion Stuttgart hat ein | |
| Schleusensystem errichtet, von dem jeder Flughafenbetreiber nur träumen | |
| kann. | |
| Weil die Bundesregierung eigens zum #G20-Gipfel wieder Grenzkontrollen | |
| eingeführt hat, stehen den Beamten alle Wege offen, die Mitreisenden, wie | |
| es im Polizeisprech heißt, einer „Intensivprüfung“ zu unterziehen. Es | |
| warten: ein Identitätsabgleich mit einschlägigen Fahndungslisten, eine | |
| Taschenkontrolle bis ins Kreditkartenfach – und im Zweifel auch eine | |
| sensible Unterhosenprüfung, begleitet von einem freundlichen Lächeln. | |
| 33 Personen, so teilt später eine Polizeipressesprecherin mit, wird | |
| schließlich die Einreise nach Deutschland verweigert. Die meisten von ihnen | |
| seien in der Vergangenheit polizeilich aufgefallen. Mindestens einer habe | |
| eine Gasmaske dabeigehabt. | |
| Mit vier Stunden Verspätung – um 18.18 Uhr statt wie geplant um 14.27 Uhr – | |
| fährt der Sonderzug zum G20-Gipfel in Basel los. Da sind viele der | |
| Mitreisenden zwar frustriert. Aber sie singen auch und winken, als es | |
| losgeht, und manche rufen dann der Polizei noch ein paar Unflätigkeiten aus | |
| dem offenen Zugfenster hinterher. | |
| ## Intensivprüfung für Journalisten | |
| Da sind zum Beispiel ein paar Franzosen, junge Burschen, die mit freiem | |
| Oberkörper in der Bahn sitzen, die gucken immer ganz böse, wenn ein | |
| Journalist vorbeikommt – also einer der wenigen Journalisten, die überhaupt | |
| mitfahren dürfen. Denn um den Zug zu begleiten – das dürfen die taz und die | |
| Schweizer Wochenzeitung Woz – musste zunächst das Organisationskomittee aus | |
| zahlreichen Stuttgarter Gruppen die Presseanfragen einer, sagen wir: | |
| Intensivprüfung unterziehen. Spiegel Online etwa meldet, einer eigenen | |
| Reporterin sei die Mitfahrt verweigert worden. | |
| Dabei ist doch auch dies genau eine der Fragen, die zu später Stunde noch | |
| in diesem Zug diskutiert werden sollen: Wie können die unterschiedlichen | |
| radikalen Perspektiven all der Mitreisenden hier eigentlich der | |
| gesellschaftlichen Mitte in Hamburg und Deutschland verständlich gemacht | |
| werden? Eine der anderen Fragen ist: Wie wird aus der kurdischen | |
| Befreiungsorganisation PKK wieder eine erlaubte Gesellschaft? | |
| Im Partywaggon, in dem nachts bei bunter Illumination Protestmusik läuft, | |
| hängt ein Plakat mit der Aufschrift „PKK? Na klar!“ Darunter sitzen drei | |
| Autonome und erzählen sich von einem Phänomen: „Wie deutsch ich doch bin“, | |
| sagt eine Frau, ganz in Schwarz, „dass ich noch immer an jeder roten | |
| Fußgängerampel anhalte.“ Rund 800 Personen sind es am Ende, die aus allen | |
| Teilen des Landes nach Hamburg reisen, zugestiegen in Heidelberg, | |
| Stuttgart, Frankfurt, in Köln und Dortmund. | |
| Kurz vor Hamburg stehen nun also die rauchenden Veteranen und lachen. Sie | |
| denken über den kommenden Abend nach, wenn in Hamburg der vermeintlich | |
| größte Schwarze Block Europas auflaufen soll. Einer der beiden sagt: „Die | |
| Stimmung ist im Moment so gegen die Bullen, das sollten wir einfach so | |
| lassen. Randale wären jetzt kontraproduktiv.“ Da sagt der andere: „Gut, | |
| aber wir sind ja auch schon was älter.“ | |
| 6 Jul 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Martin Kaul | |
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