# taz.de -- Menschengemachte Wildnis im Polder: Wie viel Ökosystem darf’s de… | |
> Oostvaardersplassen heißt das einzigartige Naturgebiet im Polder. Doch es | |
> ist auch das umstrittenste: Die Wildnis ist außer Rand und Band. | |
Bild: Wild und frei: Konikpferde in den Oostvaardersplassen | |
Es war eine außergewöhnliche Dokumentation, die 2013 fast 700.000 | |
Niederländer in die Kinos lockte. „De Nieuwe Wildernis“ (deutscher Titel: | |
„Die neue Wildnis“) zählte zu den erfolgreichsten Filmen des Jahres. Man | |
sah balgende Hirsche, jagende Füchse und die ersten staksigen Schritte | |
junger Wildpferde. „Eine Ode an die niederländische Natur“, so der Trailer, | |
zielend auf die Annahme, solche Szenen seien in dem dicht bevölkerten Land | |
an der Nordseeküste längst nicht mehr zu finden. Außer eben in den Weiten | |
der Oostvaardersplassen. | |
Vier Jahre später ein Sonntagnachmittag im Mai. Frühsommerliche Wärme liegt | |
schwer über dem Wasser, in der Luft hängt Vögelgeschnatter. Soeben ist | |
wieder ein voll besetzter Jeep zur Exkursion aufgebrochen. Rund um das | |
großzügige „Naturerlebniszentrum“ drängen sich Besucher, weit mehr als | |
1.000 sind es im Verlauf des Tages, der den Beginn der Exkursionssaison | |
markiert. Das „Rolling Nature Festival“ soll künftig jedes Jahr | |
stattfinden, um den Tourismus rund um die Oostvaardersplassen zu | |
stimulieren. | |
An einem der Stände sitzt Liesbeth Bronkhorst, die Direktorin der Stiftung | |
„Stadt und Natur“ aus der nahen Stadt Almere. Gemeinsam mit der staatlichen | |
Naturbehörde Staatsbosbeheer hat sie die Veranstaltung organisiert: | |
geführte Wanderungen, Workshops, einen „Naturdetektiv“ für Kinder, alles | |
für „städtische Menschen, die nicht so oft mit der Natur in Berührung | |
kommen“. Wovon es hier freilich jede Menge gibt, nicht weit entfernt von | |
den Ballungsgebieten der niederländischen Großstädte. „Du musst nicht nach | |
Afrika, du kannst auch hierhin kommen“, lacht Liesbeth Bronkhorst. | |
Afrika, natürlich. Das kam damals auch dem Kinopublikum in den Sinn, als es | |
die spektakulären Naturaufnahmen sah. Ebenso drängt sich die Assoziation | |
auf, wenn man auf einer Zugfahrt von Amsterdam Richtung Nordosten aus dem | |
Fenster blickt und auf einmal dieses Szenario wahrnimmt: ausgedehnte | |
Wasserflächen, gefolgt von Graslandschaften und einer bizarr anmutenden | |
Savanne, flach wie die „Etosha-Pfanne“ im gleichnamigen namibischen | |
Nationalpark. 2016 wurde die Strecke zur „schönsten Zugreise der | |
Niederlande“ gewählt. | |
## Die Wildnis soll weichen | |
Was dahinter leicht verschwindet: die Oostvaardersplassen sind nicht nur | |
eins der bekanntesten, sondern auch das umstrittenste Naturgebiet des | |
Landes. Ihre Zukunft steht in den Sternen, seit das Parlament der Provinz | |
Flevoland zu Jahresbeginn einem Antrag zustimmte: die liberale Partei VVD | |
und die streng calvinistische SGP wollen den touristischen Wert des Gebiets | |
erhöhen – und dazu weniger große Pflanzenfresser. In einem nahrungsreichen | |
System und weil natürliche Feinde fehlen, haben diese sich ziemlich | |
vermehrt – rund 2.500 Rotwild, 900 Konikpferde und um die 180 Heckrinder – | |
und die Vegetation der Neuen Wildnis sichtbar beeinflusst. | |
„Wildnis muss für Touristen weichen“ – „Mehr große Graser abschießen… | |
„Weniger Tiere bedeutet mehr Grün“, so lauteten die Schlagzeilen | |
niederländischer Zeitungen. Was genau beinhaltet der Plan? Jan de Reus ist | |
Fraktionsvorsitzender der VVD in Flevoland. Während in den | |
Oostvaardersplassen die Touristensaison beginnt, macht er wie viele | |
Niederländer im Frühjahr Urlaub. Eine telefonische Erklärung aber gibt er | |
gern: Die „großen Graser“, wie man sie hier nennt, fräßen alles kahl und | |
verschandelten dadurch die Aussicht. Vor allem aber litten sie an | |
Futtermangel im Winter, wodurch viele einen elenden Tod stürben. „Diese | |
Bilder wollen wir nicht mehr.“ | |
Endzeitlich anmutende Aufnahmen einer gefrorenen Steppe und verhungerte | |
Tiere in Schneeresten, diese Bilder finden sich tatsächlich in so manchen | |
niederländischen YouTube-Filmen. Von „Doodsvaardersplassen“ ist die Rede | |
oder von einem „Hungercamp“. | |
Jan de Reus sagt, der Vorschlag seiner Partei ziele vor allem darauf ab, | |
die Situation der Heckrinder, Rotwild und Konikpferde zu verbessern. Dazu | |
soll ihre Anzahl gesenkt werden. Wie, das ist noch die Frage. „Die einen | |
wollen einen Teil der Tiere abschießen. Andere bevorzugen eine Spritze, | |
damit sie keine Jungen mehr bekommen.“ | |
Die Sache mit dem Tierwohl ist Jan de Reus ein Anliegen. Zumal Kritiker | |
unterstellen, es gehe in dem Vorschlag eigentlich um etwas anderes. Die | |
Ausbreitung des Flughafens Lelystad zum Beispiel, an der sich der | |
Gesetzesentwurf ausdrücklich orientiert und der für die Wildgänsekolonien | |
nicht gerade förderlich seien. Weniger Gänse bekäme man wiederum durch | |
weniger Pflanzenfresser, welche die Vegetation im sumpfigen Teil des | |
Geländes zum Wohl der Gänse kurz halten. Doch Jan de Reus winkt ab. | |
„Grundsätzlich wollen wir eine Politik, die dem Flughafen nicht schadet. | |
Aber in diesem Fall steht das nicht im Vordergrund, denn | |
Start-und-Lande-Bahn liegen nicht in direkter Nähe.“ | |
Ein weiteres Missverständnis sei, dass die Provinz künftig auf | |
Massentourismus setze. „Die Natur wird den wirtschaftlichen Belangen des | |
Tourismus unterstellt“, heißt es in einer Protestpetition. Ist das so? | |
Keineswegs, beteuert Jan de Reus. „Vielleicht wird es einige Hotels an den | |
Zugängen zu den Oostvaardersplassen geben, aber mehr nicht.“ Wohl räumt er | |
ein: „Wir wollen das Gebiet schöner machen.“ Der Kassenschlagerfilm sei | |
geschönt gewesen, klagt er. Ein Naturpark mit weniger kahlen Flächen ließe | |
sich eher vorzeigen. „Man muss sich mal die Fotos anschauen, wie es vor 15, | |
20 Jahren dort aussah.“ | |
Einer, der sich damals schon regelmäßig hier aufhielt, ist Frans Vera. Ach | |
was, aufhielt. Der 68-jährige Biologe gilt in den Niederlanden als | |
„geistiger Vater der Oostvaardersplassen“. Seine Verbindung mit dem Gebiet | |
begann 1979. In dem frischen, noch feuchten Polder hatte sich inzwischen | |
durch aus der Luft abgeworfenes Schilf und Weiden der Tiere Vegetation | |
gebildet. Zehntausende Graugänse aus ganz Europa hatten den schilfgesäumten | |
Morast entdeckt als Schutz während der Mauser, wenn sie besonders | |
verletzlich sind. | |
## Zwischen Steppe und Gras: Exkursion ins Schutzgebiet | |
Zum Nutzen der Gänse und anderer Vögel, die sich hier niederließen, sollte | |
auch die entstehende Vegetation im umliegenden Gebiet in Grasland | |
verwandelt werden. Dafür plädierte Frans Vera, damals als Ökologe bei der | |
Naturbehörde angestellt, in einem Aufsatz. Aber wie würde man das | |
erreichen? Landwirtschaft konnte mit all den Vögeln in der Nachbarschaft | |
keine Option sein. Doch, und das war der Clou seiner Überlegung, warum | |
sollten wild lebende Graser nicht leisten, was domestizierte Kühe können? | |
Vier Jahrzehnte und eine abgeschlossene Biologenlaufbahn später: Frans | |
Vera, inzwischen pensioniert, sitzt im Café des Natur-Erlebniszentrums, wo | |
wenige Tage später das „Rolling Nature Festival“ stattfinden wird. | |
Begleitet wird er von Hans-Erik Kuypers, der bei der Naturbehörde eine Art | |
Ranger ist. Sein Arbeitsplatz liegt an der Schnittstelle zwischen Tourismus | |
und einem Naturgebiet, das unter dem besonderen Schutz des europaweiten | |
Programms „Natura 2000“ steht. Ziel: der Erhalt von Biodiversität. | |
Kuypers und Vera tragen die Gesichtsfarbe von Menschen, die von Berufs | |
wegen viel draußen sind. Sie haben Ferngläser umgehängt, durch die sie | |
immer wieder auf das 270-Grad-Wasserpanorama vor der Fensterfront schauen. | |
Im flachen Bereich bewegt ein Löffler auf der Suche nach Futter den Kopf | |
hin und her. Auf den kleinen Inseln brüteten bis vor Kurzem noch | |
Säbelschnäbler, erzählt Kuypers. Dann sieht er „eine Kita von Graugänsen�… | |
vorbeischwimmen. „36 Junge“, sagt er nach einem scharfen Blick durchs Glas. | |
Zahlreiche Vogelarten gibt es in den Oostvaardersplassen, darunter allein | |
31 geschützte. „Und seit 2006 brüten Seeadler hier“, so Vera nicht ohne | |
Stolz. „Das gab es in den Niederlanden ein paar hundert Jahre nicht.“ | |
## Begrenzter Zugang | |
Kuypers und Vera wollen heute zeigen, wozu normalerweise nur vorab gebuchte | |
Exkursionen Zugang haben: das 5.600 Hektar große „Kerngebiet“, in dem die | |
Tiere so wenig wie möglich gestört werden sollen. Der Kleinwagen der | |
Naturbehörde rumpelt über einen Waldweg. Kuypers sitzt am Steuer, Vera | |
schließt das Tor auf, welches das Erholungs- vom Schutzgebiet trennt, dann | |
geht es über einen Wasserlauf hinein in eine blass gelbliche | |
Steppenlandschaft. Schilfreste stehen herum und windschiefe, abgefressene | |
Weidenreste. Der Kot der Konikpferde bedeckt den Boden. | |
Neben einem Schilfwäldchen steht die erste Herde der gräulichen Pferde. | |
Etwas abseits liegt ein Fohlen. Dann verändert sich die Szenerie in sattes | |
Grasland. Ein paar Meter vom Weg entfernt taucht ein Fuchs auf. Er hält | |
inne, beäugt das Auto und läuft weiter. | |
„Ich kenne keinen Ort, an dem man das so beobachten kann“, sagt Kuypers. | |
Dann suchen er und Vera durchs Fernglas die Baumstümpfe nach Falken ab. An | |
der Biege eines Wasserlaufs steht eine Forschungshütte. Auch ein Hochsitz | |
gehört dazu, von dem der Blick weit über die flache Landschaft fällt. | |
Schnatternd steigt eine Gänsekolonie auf und verdunkelt den Himmel. In der | |
Ferne donnert ein Rudel Rothirsche durch den Polder. | |
Was hält ein Mann wie Frans Vera von den Plänen der Politiker? Im Auftrag | |
der Naturbehörde fuhr er in den frühen 1980ern mit einem Tierarzt nach | |
Polen, um die ersten zwanzig Konikpferde zu erstehen. Die ersten 32 | |
Heckrinder kauften sie in Belgien, Deutschland und Österreich. Bringen | |
deren hundert-, ja tausendfache Nachkommen nun das Gebiet aus dem | |
Gleichgewicht? Vera schüttelt entschieden den Kopf. „Gerade wenn man die | |
großen Pflanzenfresser reduziert, entzieht man dem Ökosystem den Boden.“ | |
## Bestandspflege mit dem Gewehr | |
Und das Leiden und Sterben in Zeiten knappen Futters? Vera räumt ein, dass | |
jährlich 20 bis 30 Prozent der Fauna „reaktiv“ abgeschossen werden: dann, | |
wenn sich abzeichnet, dass sie zu schwach sind, um durch den Winter zu | |
kommen. „Das entspricht der normalen Sterbequote in der Wildnis, wo die | |
Nahrungsmenge die Zahl der Tiere reguliert.“ | |
Einen Ausblick zu wagen findet auch der geistige Vater der | |
Oostvaardersplassen schwierig. Zunächst vertraut er darauf, dass die | |
strengen europäischen Natura-2000- Regeln dem Vorhaben der Provinz einen | |
Riegel vorschieben. Deshalb steht er dem Plan, der auch Details zur | |
künftigen Anzahl der großen Pflanzenfresser enthält, gleichmütig gegenüber. | |
„Der Plan hat keine Chance. Notfalls werde ich vor Gericht ziehen.“ | |
Damit steht möglicherweise ein bemerkenswertes Szenario bevor: Just wenn im | |
Herbst die Besuchergruppen zur Rotwild-Brunftzeit herbeiströmen, könnten | |
sich Kommissionen und Juristen über das komplexe Verhältnis von Natur und | |
Kultur, Ökosystem und touristischen Ambition beugen. | |
19 Aug 2017 | |
## AUTOREN | |
Tobias Müller | |
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