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# taz.de -- Hafenerweiterung Antwerpen: Die Fata Morgana im Polder
> Das Dorf Doel soll dem Ausbau des Antwerpener Hafens weichen. Die
> Bewohner wehren sich in dritter Generation. Der Überlebenskampf hat
> Spuren hinterlassen.
Bild: Blick vom Deich auf Doel, im Hintergrund die Kräne des Hafens.
DOEL taz | Das Schild kommt unerwartet in diesem Archipel der
Containerberge, die sich blau und dunkelrot längs der Straße auftürmen.
Überall recken Kräne ihre verwinkelten Glieder in den dunstigen Himmel, und
hinter jeder Kurve tauchen neue Verladestationen auf.
Doch genau hier, wo bis zum Horizont alles Hafen ist, steht an einer
Kreuzung ein gelbes Schild, zwei Meter hoch, mit einer Gleichung: „Doel =
bewohntes Dorf“ liest es sich holprig, und dann: „respektier die Bewohner�…
Es folgt die polizeiliche Warnung, die Häuser nicht zu betreten. Hohes Gras
säumt die Straße, die ins Dorf führt.
Ein Schild hängt auch an der Tür von Emilienne Driessen in der
Camermanstraat. „Dieses Haus ist noch bewohnt“, steht darauf. Zweifellos
ist es das, der gepflegte dunkle Klinker hat nichts gemein mit den
brüchigen Fassaden ringsum. Gleich nebenan, gegenüber der Kirche, liegt
eine bewachsene Brache. An die Rückwand eines Nachbarhauses hat jemand in
riesigen blauen Lettern „Doel blijft“ gesprüht. Und solange Doel bleibt,
bleibt auch Emilienne Driessen, eine kleine alte Dame mit geknotetem Haar
und dezentem Schmuck. Ihr ganzes Leben hat sie in dem Polderdorf an der
Schelde verbracht. Im Frühjahr wurde sie 80.
Nun ist das mit dem Bleiben hier so eine Sache: Eigentlich nämlich soll
Doel, in dessen niedrigen Backsteinhäusern einst mehr als 1.000 Menschen
wohnten, verschwinden. Darauf drängt jedenfalls die Regierung der
belgischen Region Flandern, um dem Hafen von Antwerpen Raum zum Wachsen zu
geben. Fast ein halbes Jahrhundert schon steht Doel verschiedenen
Großprojekten im Weg. Wurde eines aufgegeben, kündete die Regierung bald
das nächste an und ließ sich im Lauf der Jahre eine Menge einfallen, die
Bewohner zu vertreiben.
## Noch 26 Bewohner
Der Überlebenskampf hat Spuren hinterlassen: Fast alle Häuser stehen heute
leer, rund 40 wurden bereits abgerissen. 26 Bewohner leben noch in dem
Geisterdorf. Für Emilienne Driessen wurde Doel zum persönlichen
Freilichtmuseum, denn all ihre Freundinnen sind weggezogen. „Angèle war die
Erste, vor 26 Jahren. Danach kamen Suzanne, Maria, meine beste Freundin
José und auch meine Schwester.“ Schatten zeichnen sich draußen vor dem
Wohnzimmerfenster von Emilienne Driessen ab. Wie jeden Sonntag streifen
Hobbyfotografen durch die verlassenen Straßen Doels. Ein bewohntes Haus
ruft Neugier hervor.
„Es stört mich nicht, wenn sie gucken“, sagt Emilienne Driessen und blickt
kurz auf, während sie Weißwein auf den Tisch stellt und sich noch eine
Zigarette anzündet. Wovon ihr der Kardiologe nach ihrem Herzanfall abriet,
aber die eigensinnige Emilienne, in deren Erzählungen das schwere belgische
Trappistenbier ein Leitmotiv ist, lässt sich von Ärzten nicht bange machen.
Unten an der Schelde steigt der Wasserdampf aus den beiden Kühltürmen des
AKWs, für das Doel in ganz Belgien bekannt ist. In ihrem Wohnzimmer qualmt
Emilienne Driessen unbeirrt vor sich hin.
Einschüchtern konnte sie auch der Gerichtsvollzieher nicht, der vor einigen
Jahren auftauchte und drohte, ihren Besitzstand mitzunehmen. „Mach doch“,
entgegnete die Witwe kühl. Seither hat sie ihn mehr gesehen. „Sie machen
den Menschen Angst, aber ich glaube ihnen nicht.“ Sie, das ist die
„Gesellschaft Linkes Scheldeufer“, die von der Regierung mit der
Hafenerweiterung beauftragt wurde. Dazu gehört auch, die Hauseigentümer
herauszukaufen. Gemeinsam mit ihrem Mann, der wenig später verstarb, nahm
Driessen das Angebot an. Bis in Doel die Bulldozer anrücken, wohnt
Emilienne Driessen mietfrei. Gehen will sie erst, „wenn sie mich
rausschmeißen“.
Natürlich sind da die Erinnerungen, von denen sie sich nicht trennen will.
Die Bilder von einer Zeit, in der das Dorf voll Leben war und, wie sie
sagt, „plaisanter“. Als ihre Kinder hier zur Schule gingen, der Sohn im
Fußballclub spielte, als es Bäcker, Supermarkt und Schuhgeschäft gab, als
sie auf Kostümbällen tanzte – „und wir in dieser Straße sechs Cafés
hatten“. Heute bringt die Tochter sie zum Einkaufen ins nächste Dorf. Statt
ihrer Freundinnen hat Emilienne Driessen nun zehn zurückgelassene Katzen,
die sie mit Futter und Wasser versorgt.
## Der Nachwuchs
Solange sich Denis Malcorps erinnern kann, ziehen die Menschen aus Doel
weg. Er war fünf Jahre alt, als seine Eltern in den frühen 90ern aus
Antwerpen hierherzogen. Die ersten Ausbaupläne für den Hafen waren gerade
abgewendet, junge Familien zogen in den Polder. Heute studiert der
24-Jährige in Leuven Ökonomie. Er, seine Mutter und der jüngere Bruder sind
die letzten Nachbarn von Emilienne Driessen in der Camermanstraat. Bleiben
wollen auch sie.
Genau darum steht Denis Malcorps nun in Stiefeln und Kapuzenpullover unten
am Deich auf einer triefnassen Wiese. Ein paar Mitstreiter sind da, junge
Leute wie er, aus den Siedlungen der Umgebung, die ebenfalls dem Hafen
weichen sollen. Alle tragen Arbeitskleidung. „Die dritte Generation“ nennen
sie sich, ein Name, der zeigt, wie lange sich Doel schon gegen sein Ende
stemmt. Die Jungen springen den Veteranen der Bürgerinitiative Doel2020 in
ihrem endlosen Rechtsstreit bei, verfassen Beschwerdeschriften und stellen
Filme ins Internet, die auf den bedrohten Polder aufmerksam machen.
Nun aber legt die „Dritte Generation“ letzte Hand an etwas, was sie
„Gedichtweide“ nennen. Denis Malcorps weist auf die Tafeln, die im Kreis
auf der Wiese aufgestellt sind. Plastikfolie schützt sie vor dem
Polderregen. Darunter befinden sich 26 lyrische Bestandsaufnahmen
verschiedener Dorfdichter. Es mag schlecht aussehen für Doel; sein 400.
Geburtstag soll diesen Sommer trotzdem gefeiert werden, und die
Gedichtweide macht den Auftakt. „Wir wollen Doel positiv ins Bild setzen“,
sagt Denis Malcorps. „In den letzten Jahren verbindet man vor allem Verfall
und Vandalismus mit dem Namen.“
## 400 Jahre Geschichte
Die Gedichte lesen sich dennoch eher wie ein unfreiwilliger Abgesang auf
Doel. Denis Malcorps teilt den Pessimismus nicht. Selbst jetzt nicht,
nachdem die Regierung Ende April bekannt gegeben hat, dass sie den Plan zur
Hafenerweiterung realisieren lässt. „Die ganze Zeit sagen sie, dass wir
wegmüssen“, hebt er an und klingt mit einem Mal wie ein alter Kämpfer.
„Wieso sollte ich jetzt daran glauben?“ Soeben hat ein Transporter einen
Berg Rindenmulch abgeladen, den die anderen mit dem Spaten verteilen, damit
die Besucher trockenen Fußes die Lyriktafeln erreichen können.
Dann wird Denis Malcorps doch nachdenklich. 26 Bewohner zählt Doel noch,
vor drei Jahren waren es doppelt so viele. „Einerseits“, meint er, „wird
unser Verhältnis immer enger. Aber das, was eine Gemeinschaft ausmacht,
fällt doch langsam auseinander.“ Ein normales Leben, ein normaler Alltag
ist in Doel nicht möglich.
Nachts dringen Vandalen in Doel ein, auf der Suche nach ein bisschen
Zerstörung. Am Wochenende kommen Touristen, auf der Suche nach einem guten
Bild. Sogar ein paar Alteisenhändler musste Denis Malcorps schon verjagen,
die das Haus seiner Familie für unbewohnt gehalten hatten.
In den Straßen von Doel scheinen sich seine Worte zu bestätigen. Fast alle
Eingänge sind mit hellen Holzplatten verrammelt, viele Fenster im
Erdgeschoss ebenso. Am frühen Abend verstummen die Motorengeräusche, die
eben noch vom Dock herüberwehten. Nur Vogelstimmen füllen die Luft. Beinahe
schon surreal wirkt der Mann, der mit seinem Hund zwischen den Häusern zum
Deich geht. Oben dampfen die Kühltürme, und drüben, am anderen Ufer der
Schelde, leuchten im Rauch der Schornsteine die roten Lichter der
Raffinerien auf. Wer sich jetzt umdreht, könnte Doel für eine Fata Morgana
halten.
15 Jul 2013
## AUTOREN
Tobias Müller
## TAGS
Hafenerweiterung
Reiseland Niederlande
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