| # taz.de -- Lob der Dunkelheit: Die Stadt im Stand-by | |
| > Nachts erlahmt alle Betriebsamkeit. Nur das Böse schläft angeblich nicht. | |
| > Doch so eindeutig ist der Zusammenhang zwischen Licht und Ordnung gar | |
| > nicht. | |
| Bild: Ob sie Gutes im Schilde führen? Besucher auf dem Hamburger Energieberg | |
| „Sieh, des Verbrechers Freund, der holde Abend, naht / Mit leisem | |
| Raubtierschritt, der Helfer bei der Tat; / Der Himmel schließt nun sacht | |
| des schweren Vorhangs Falten, / Zu Tieren wandeln sich die menschlichen | |
| Gestalten.“ | |
| Als der französische Dichter Charles Baudelaire [1][mit diesen Zeilen seine | |
| „Abenddämmerung“ eröffnete] – in anderen Übertragungen klingt’s ein … | |
| anders –, also Mitte des 19. Jahrhunderts, konnte er sich auf eine in | |
| vielen Köpfen alternativlose Vorstellung stützen: wo Dunkelheit, da böse. | |
| Oder, in der Umkehr: wo Licht, da nicht. Oder zumindest nicht so sehr. Das | |
| Licht, die menschengemachte Beleuchtung dessen, was noch niemand | |
| öffentlicher Raum genannt haben wird, der Straßen und Plätze also, nicht | |
| unbedingt auch der Gassen und Gänge: Es hatte sich da längst durchgesetzt – | |
| mindestens als Idee, mancherorts auch schon tatsächlich. | |
| In Hamburg etwa brannten im 17. Jahrhundert erste Tranfunzeln, ab 1845 gab | |
| es Gasbeleuchtung, 1882 würde die elektrische Beleuchtung folgen – und man | |
| war, der Reeperbahn zum Trotz, weiß Gott keine jener Metropolen, deren | |
| Nachtleben als sinnbildlich in alle Welt ausstrahlte. (Ist es nötig darauf | |
| hinzuweisen? Als erstes elektrifizierte man im Jahr 1879 Teile des Hafens, | |
| um einen 24-Stunden-Warenumschlag zu ermöglichen, erst drei Jahre später | |
| bekamen auch die Menschen Licht auf ihren Wegen.) | |
| ## Licht und Ordnung | |
| Auch wenn es am Behördenschreibtisch, nun ja, einleuchtet: So eindeutig ist | |
| der Zusammenhang zwischen Licht und Ordnung gar nicht. Vor einigen Jahren | |
| suchten zahlreiche Kommunen in Großbritannien Kosten zu senken, indem sie | |
| die Zahl der Straßenlampen reduzierten, andere, günstigere Lichtquellen | |
| einbauten oder auch die Leuchtdauer pro Nacht verringerten. Einer 2015 | |
| vorgelegten Studie zufolge führte weniger Polizeipräsenz zu mehr | |
| Kriminalität – nicht aber weniger Straßenlaternen, weniger lange | |
| eingeschaltete oder schlicht in ihrer Helligkeit gedimmte. | |
| Nicht erst, seit noch der letzte Nachtwächter das Postfaktische im Munde | |
| führt, ist eine Tatsache das eine – das andere aber, wie sie wahrgenommen | |
| und also wirksam wird. Und es ist auch noch nicht schrecklich lange her, | |
| dass in Hamburg – Deutschlands nach Nürnberg und Berlin dritter Stadt mit | |
| elektrischem Straßenlicht – Wahlen gewonnen wurden, indem man von sich | |
| behauptete, die gefühlte Sicherheit der Menschen ernster zu nehmen, als die | |
| politische Konkurrenz das tue. | |
| Mit dieser Zutat, neben ein paar anderen, gelangte nach Jahrzehnten wieder | |
| ein Christdemokrat ins Bürgermeisteramt und ein heute als C-Promi | |
| durchgehender Polit-Hasardeur wurde Innensenator. Gut möglich also, dass | |
| das Flutbeleuchten des prominenten Hamburger Jungfernstiegs sich nur als | |
| der Anfang erweist, stehen erst wieder Wahlen an. | |
| ## Innerer Ausnahmezustand | |
| „Beim Gang durch nächtliche Szenen können verlorengeglaubte Gefühle | |
| wiederbelebt, Erinnerungen wachgerufen, versteckte Möglichkeiten entdeckt | |
| und Phantasien entfaltet werden“, schreibt die Literaturwissenschaftlerin | |
| Elisabeth Bronfen in ihrer [2][nocturnen Kulturgeschichte „Tiefer als der | |
| Tag gedacht“] (2008). Und umreißt damit eine Ambivalenz: So ein Streifzug | |
| durch die Nacht sei einerseits „Gang in eine gesellschaftliche Unterwelt“, | |
| worin ja der von Baudelaire weder zuerst noch letztgültig formulierte | |
| Gedanke widerhallt. | |
| „[3][The freaks come out at night“], texteten über 100 Jahre später, 1984 | |
| nämlich, die New Yorker Rapper Whodini, und lagen damit genau so richtig, | |
| denn: „Die urbane Nachtlandschaft spiegelt die Geistesverfassung dessen, | |
| der durch sie reist“, schreibt Bronfen. „Wenn in der Nacht die Stadt aus | |
| sich herausgeht, so tut es auch der Flaneur, der sich ruhelos durch sie | |
| hindurch bewegt.“ Die Chance und das Versprechen finden darin genauso Platz | |
| wie das Bedrohliche, das am eigenen Selbst kaum Bekannte. | |
| Der britische Architekturtheoretiker Nick Dunn hat dem „joy of walking in | |
| cities at night“ kürzlich ein schönes kleines Buch gewidmet – laut | |
| Untertitel gar ein „Manifest für die nächtliche Stadt“: In [4][“Dark | |
| Matters“] (Zero Books 2017) erzählt er anfangs, wie ihm erst der | |
| Spaziergang bei Nacht als Weg erschien, sich freizumachen von all dem | |
| Gezerre, der Geschäftigkeit des Tages – und so nicht nur klarere, sondern | |
| manchmal überhaupt erst Gedanken zu formulieren ermöglicht habe. | |
| Dass das Gehen eine produktive Tätigkeit sei, ja: ein besonders | |
| erstrebenswerter Zustand gerade für den als Denker sich Verstehenden, das | |
| ist so eine Idee, die sich mindestens so weit zurückverfolgen lässt wie die | |
| Faszination des im Dunklen Liegenden. Vielleicht, weil es seinem | |
| Hintergrund entspricht, bindet Dunn seine Überlegungen und Beobachtungen, | |
| seine „Meditation über die und mit der Stadt“ immer wieder zurück ans | |
| Konkrete: den ihn umgebenden, vom Menschen gestalteten Raum, die Bauten, | |
| die Infrastruktur. | |
| ## Allein zwischen den Bauten | |
| Nehmen wir Hamburgs Hafencity: Deren längst nicht von jedem goutierte | |
| Durchgeplantheit, das mitunter als Aus-der-Retorte Wahrgenommene (oder auch | |
| Diffamierte) dieses demnächst fertig werdenden Stadtteils bekommt, im | |
| Stand-by-Zustand erlebt, eine ganz eigene majestätische Größe. Wer bei | |
| Nacht den dortigen U-Bahnhof Überseequartier mit seinen dann absurd | |
| überdimensioniert wirkenden Zugängen betritt, mag sich ans Setting des | |
| „Omega-Manns“ – für die Jüngeren: an den Will-Smith-Film „I am Legend… | |
| erinnert fühlen: allein in einer Welt, aus der die Menschen verschwunden | |
| sind, in der alles andere aber noch so dasteht, als wären sie nur kurz | |
| Zigaretten holen gegangen oder – angeblichen Millenial-Gepflogenheiten | |
| angemessener – das Sharing-Auto einsammeln. Auch das: ein Versprechen – du | |
| bist der Herr der Welt! – wie auch eine Drohung – du bist auch ganz und gar | |
| allein. | |
| ## Brummen unter der Oberfläche | |
| Bei aller nicht erst am Ende ja zutiefst romantischen Faszination ist die | |
| Nacht, ist das Erlahmen von Betriebsamkeit, ist die Dunkelheit relativer | |
| denn je: Wenn an diesem Ende der Welt die frommen Aktionäre schlafen, wird | |
| irgendwo anders in ihrem Sinne gearbeitet, brennt dort mehr als nur das | |
| nötigste Licht. Wir produzieren in anderen Zeitzonen und wollen doch jeden | |
| Morgen die ganze Vielfalt von Waren vorgesetzt bekommen, an die man uns | |
| gewöhnt hat. | |
| Im Schutz der Nacht also rollen auch die Kühl- und anderen Laster. Weh dem, | |
| der da zu nah an Ring- und Ausfallstraße wohnt: Der hat sich, nicht zu | |
| schlafen, dann nämlich gar nicht ausgesucht. | |
| Den ganzen Schwerpunkt zum Thema „Dunkelheit“ finden Sie in der taz.am | |
| Wochenenden am Kiosk oder [5][hier]. | |
| 4 Jun 2017 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://gutenberg.spiegel.de/buch/-1361/123 | |
| [2] https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/tiefer-als-der-tag-gedacht/978-… | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=FxwrLLlQwBw | |
| [4] http://www.zero-books.net/books/dark-matters | |
| [5] /e-kiosk/!114771/ | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Diehl | |
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