# taz.de -- Reiseverkehr zwischen Ukraine und EU: Run auf den biometrischen Pass | |
> Die visumfreie Einreise in die EU tritt Mitte Juni in Kraft. Wenn man die | |
> richtigen Dokumente hat. Die fehlen der Mehrheit der Bevölkerung noch. | |
Bild: Ist der Pass nicht biometrisch, braucht es auch in Zukunft ein Visum | |
Kiew taz | Wer diese Tage in Kiew Richtung Innenstadt fährt, dem fallen die | |
langen Schlangen auf der Schewtschenkostraße Nr. 27 auf, nur ein paar Meter | |
von der U-Bahnstation „Universität“ entfernt. Schon um 6 Uhr morgens stehen | |
hier die Ersten vor den Türen des Passdienstes des staatlichen Unternehmens | |
„Dokument“, um einen der begehrten 450 Talons um 9 Uhr zu ergattern. Mit | |
diesem lässt sich an einem der acht Schalter die Ausstellung eines | |
biometrischen Passes beantragen. Nach 12 Uhr spuckt das System keine Talons | |
mehr aus. | |
Seitdem klar ist, dass die Visafreiheit für die EU Mitte Juni kommen wird, | |
hat der Run auf die biometrischen Pässe begonnen. Derzeit seien bereits 3,3 | |
Millionen Ukrainer im Besitz eines biometrischen Passes, hatte Präsident | |
Petro Poroschenko unlängst erklärt. Im Umkehrschluss bedeutet dies: 40 | |
Millionen Ukrainer haben keinen. | |
Im Prinzip kann man sich auch online einen Termin auf der | |
Schewtschenkostraße Nr. 27 geben lassen. Doch der Server ist so überlastet, | |
dass diese Anmeldung nur kurz nach Mitternacht funktionieren soll. Man kann | |
sich auch in einer der 10 Bezirkspassstellen in Kiew einen Pass ausstellen | |
lassen. Hier liegen die Wartezeiten bei 45 Tagen. | |
In der Schewtschenkostraße läuft, wenn man seinen Talon rechtzeitig hat | |
ziehen können, alles wie am Schnürchen. Man kommt noch am gleichen Tag an | |
die Reihe. Wer umgerechnet 43 Euro bezahlt, darf seinen Pass in sieben | |
Tagen abholen, wer nur 34 Euro bezahlen möchte, kann den Pass drei Wochen | |
später abholen. Mit enthalten in diesem Preis ist auch eine obligatorische | |
Beratungsgebühr von 14 Euro. | |
## Mit Beratungsgebühren abgezogen | |
Doch das, was auf der Schewtschenkostraße geleistet wird, ist nur ein | |
Tropfen auf den heißen Stein. Bei einer Kapazität von 450 Pässen am Tag | |
kann man pro Monat maximal 13.000 biometrische Pässe ausstellen. Die zehn | |
Bezirkspassstellen kommen Schätzungen zufolge auf 2.000 Pässe pro Tag. | |
Insgesamt lassen sich so in Kiew pro Monat zwischen 70.000 und 80.000 | |
biometrische Pässe ausstellen. In Kiew leben aber fast fünf Millionen | |
Menschen. | |
Die renommierte Wochenzeitung Zerkalo Nedeli kritisiert, dass gleich drei | |
Einrichtungen, die Migrationsbehörde, die Passbehörde und das staatliche | |
Unternehmen „Dokument“, zur Ausstellung von biometrischen Pässen berechtigt | |
sind. Noch weniger sei nachvollziehbar, dass das Unternehmen „Dokument“ | |
zusätzlich eine Beratungsgebühr von 14 Euro erhebe. „Die Bürger brauchen | |
Pässe, keine Beratung“, schreibt die Zeitung. | |
Der Flaschenhals bei der Ausstellung der biometrischen Pässe ruft auch | |
geschäftstüchtige „Vermittler“ auf den Plan. Eine von ihnen ist die | |
27-jährige Aljona. Sie hat ihr Jura-Studium abgebrochen und angefangen, | |
Beratung bei der Ausstellung von Dokumenten anzubieten. In den letzten | |
Jahren hatte sie ihren Kunden geholfen, unbürokratisch in den Besitz von | |
Schengen-Visa zu gelangen. 300 Euro kostete ein Visum. Nun bietet sie auch | |
Unterstützung bei der Beantragung biometrischer Pässe an. Bisher hatte sie | |
dafür 70 Euro genommen. Nun hat sie ihre Gebühr auf 140 Euro verdoppelt. | |
Grundlage ihrer Einnahmen ist der große Respekt, den die meisten Ukrainer | |
vor den Behörden haben. Vermieter melden ihre Mieter in der Regel | |
wohnbehördlich nicht an. Zum einen werden viele kommunale Gebühren pauschal | |
für die in der betreffenden Wohnung angemeldete Person bezahlt, zum anderen | |
will man die Miete nicht bei der Steuer angeben. | |
Seit Jahren nutzt Aljona ihre Kontakte zu den Behörden, um Menschen, die | |
eine wohnbehördliche Anmeldung brauchen, zu „beraten“. Fünfmal werde sie | |
pro Tag am Telefon um Rat gefragt, berichtet Aljona. Bei einem oder zwei | |
Anrufern entwickle sich eine Geschäftsbeziehung. Ziehe man alle Unkosten | |
ab, komme sie am Tag auf einen Gewinn von 200 Euro. „Steuerfrei natürlich.“ | |
Kein schlechtes Geschäftsmodell in einem Land, in dem die Mehrheit der | |
Bevölkerung mit weniger als 200 Euro pro Monat auskommen muss. | |
30 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Bernhard Clasen | |
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