# taz.de -- Kolumne Globetrotter: Katerstimmung nach Sieg | |
> Ökonomie, Ökologie, Bildung: Wo kommt er nur her, der Hauch der Hoffnung, | |
> die derzeit in Emmanuel Macron projiziert wird? | |
Bild: Macron mahnt bereits, dass positive Veränderungen sich erst langfristig … | |
Vor neun Tagen habe ich für den neuen Präsidenten Frankreichs votiert, weil | |
ich keine andere Wahl hatte. Marine Le Pen erlitt eine klare Niederlage, | |
aber meine Freude hält sich in Grenzen: Die Beklommenheit der letzten | |
Wochen lässt nicht nach, und ich schaffe es nicht, auch nur einen Hauch der | |
Hoffnung, die derzeit in Emmanuel Macron projiziert wird, mitzuempfinden. | |
Das liegt zunächst nicht mal an ihm, sondern an seinem Vorgänger, der | |
bitter enttäuschte. In seiner Rede am Ende der traditionellen Debatte | |
zwischen beiden Wahlrunden hatte der Sozialist François Hollande immer | |
wieder mantraartig den Satz „Haben Sie keine Angst“ wiederholt. | |
Damit versprach er, sich für die Wiederherstellung eines Dialogs innerhalb | |
der Gesellschaft einzusetzen. 2012 war die Freude groß, als | |
Bling-Bling-Sarkozy, der mit rabiatem Führungsstil die Bürger gegeneinander | |
aufgehetzt hatte, endlich den Platz räumen musste. | |
Doch auf die Terroranschläge, die Frankreich erlebte, lautete die Antwort | |
der sozialistischen Regierung: Ausnahmezustand ad infinitum und Militär an | |
jeder Ecke. Es wurde mit der Aberkennung der Staatsangehörigkeit gedroht | |
und friedlichen Demos mit Tränengas ein Ende gemacht. Schon allein taktisch | |
verstehe ich bis heute nicht, wie Hollande seine Wähler so falsch | |
einschätzen konnte. | |
Es war abzusehen, dass die allgegenwärtigen Antiterrormaßnahmen Angst und | |
Hass sähen würden. Und es war klar, dass Konservative bei der nächsten | |
Gelegenheit eher zum Extrem tendieren, die Populisten erstarken und | |
diejenigen, die nachhaltige Lösungen befürworten, ihr Glück woanders suchen | |
würden. Nach der Enttäuschung kommt jetzt auch bei Macron keine Hoffnung | |
mehr auf. | |
## Kein Dialog mehr | |
Wie viele verspürte auch ich nach dem Wahlausgang zunächst das Bedürfnis, | |
wenigstens kurz der Realität zu entfliehen und auf andere Gedanken zu | |
kommen. Ich war im Museum, habe Blumen gezeichnet, Chateaubriand und | |
Pornocomics gelesen und besuchte das Pictoplasma-Festival, wo ich mir zum | |
ersten Mal in meinem Leben eine Virtual-Reality-Brille vor die Augen | |
schnallte. Doch selbst auf dem alljährlichen Treff internationaler | |
Illustratoren und Designer wird man mit der Weltlage konfrontiert. | |
So war zu erfahren, wie ein US-amerikanischer Animationszeichner allein | |
nach Berlin einreisen musste. Seine Frau, eine Iranerin, traute sich nicht, | |
die USA zu verlassen: aus Angst, bei der Rückreise nicht mehr ins Land | |
gelassen zu werden – zu ihrer Wohnung, ihrem Job, ihrer Familie. „Vor dir | |
steht eines der ersten Brexit-Opfer!“, meinte der Freund einer slowakischen | |
Künstlerin zu mir, als diese erzählte, sie sei vor drei Monaten fluchtartig | |
von London nach Berlin gezogen. „Musstest du England wirklich verlassen?“, | |
fragte ich verdutzt. „Quatsch, ich hatte eine gültige Arbeitserlaubnis“, | |
beruhigt sie. „Aber ich habe mich nicht mehr willkommen gefühlt. Die Zeit | |
war gekommen, möglichst sofort die Biege zu machen.“ | |
Später meinte noch eine französische Illustratorin zu mir: „Wäre Le Pen | |
gewählt worden, hätte ich die Teilnahme am Festival abgesagt. Ich hätte | |
mich einfach zu sehr geschämt.“ Wie wir beide Macron einschätzen – mit dem | |
Thema fingen wir gar nicht erst an. Nach Hollande gibt es innerhalb der | |
französischen Gesellschaft so gut wie keinen Dialog mehr, jegliche | |
Verbindung zur politischen Elite ist gekappt. Macron trägt dadurch eine | |
große Verantwortung und mahnt bereits, dass positive Veränderungen erst | |
langfristig bemerkbar würden. | |
## „Chiche!“ | |
Von einer fälligen Reform des Bildungswesens und einer aufrichtigen | |
Auseinandersetzung mit der französischen Kolonialvergangenheit hat er | |
gesprochen. Das klingt vielversprechend, aber wenig glaubhaft, wenn sich | |
gleichzeitig alles auf das Ankurbeln von Wachstum fokussiert. Nachhaltiger | |
wäre der Versuch einer wirtschaftlichen Entschleunigung zugunsten einer | |
ökologischen Nutzung und fairen Umverteilung vorhandener Ressourcen. | |
Am letzten Tag seiner Wahlkampagne war Macron zu Gast bei der unabhängigen | |
Internetzeitung Médiapart. Chefredakteur Edwy Plenel lud ihn dazu ein, in | |
genau einem Jahr noch mal in der Redaktion vorbeizuschauen, um gemeinsam | |
eine Zwischenbilanz zu ziehen. Macron sagte: „Chiche!“ – die Wette gilt, | |
was ein wenig wie Ja klingt. Doch bis zu diesem Termin sollten wir nicht | |
warten. Ab jetzt liegt die Verantwortung beim Wahlvolk, wir müssen uns | |
einmischen und die Kritik an den Verhältnissen nicht den Populisten | |
überlassen – trotz aller Katerstimmung. | |
16 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Elise Graton | |
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