# taz.de -- Lesung der Berliner Literaturinitiative: Reif für den Rückblick | |
> Bei „Daughters & Sons of Gastarbeiters“ erzählen Kinder der ersten | |
> Gastarbeitergeneration von ihren Erfahrungen beim Aufwachsen zwischen den | |
> Kulturen. | |
Bild: Jeden Sommer 2.600 Kilometer nach Andalusien: „Daughters & Sons“-Auto… | |
In Deutschland zu Hause zu sein, doch von den anderen als „fremd“ | |
betrachtet zu werden, ist ein Gefühl, mit dem viele Kinder von sogenannten | |
Gastarbeitern hierzulande groß werden mussten. Heute sind die Kinder der | |
ersten Gastarbeitergeneration selbst schon mittlere Generation, längst er- | |
und den gröbsten Identitätskrisen entwachsen; und vielleicht ist die Zeit | |
inzwischen einfach reif für einen umfassenden Rückblick. | |
Jedenfalls gibt es offenbar einen großen Bedarf an Geschichten vom | |
Aufwachsen zwischen den Kulturen, wie der wachsende Erfolg der | |
literarischen Initiative Daughters and Sons of Gastarbeiters zeigt, die vor | |
zwei Jahren von der Kulturmanagerin Çiçek Bacik und der Publizistin Ferda | |
Ataman gegründet wurde und seitdem bereits etwa zwanzigmal zu Lesungen in | |
verschiedenen deutschen Städten eingeladen wurde. | |
Sie selbst habe jahrelang Tagebuch geführt, erzählt Çiçek Bacik, und daraus | |
habe sich in ihrem Kopf irgendwann wie von selbst die Grundidee für | |
Daughters & Sons entwickelt. Es sei wichtig, sich heute diese Geschichten | |
zu erzählen, denn früher sei es eben nicht so einfach gewesen, über viele | |
Dinge zu reden. „Ich finde, dafür, dass kaum in unsere Eltern investiert | |
wurde, sind wir ganz gut geraten!“, sagt die 45-jährige im Interview und | |
lacht. | |
## Perspektive der zweiten Generation | |
Irgendwann begann sie, Freunde und Bekannte anzusprechen, und schnell | |
formierte sich eine offene Gruppe, die seither stetig wächst. Bisher hätten | |
etwa zwanzig verschiedene Personen in wechselnder Zusammensetzung an | |
Lesungen teilgenommen, erzählt die Initiatorin; die jüngste Leserin sei | |
erst dreizehn Jahre alt gewesen. „Es ist mir sehr wichtig, dass die Gruppe | |
offen bleibt“, erklärt Bacik. Der Fokus liege bisher zwar auf der | |
Perspektive der zweiten Generation, aber natürlich sei jede Art von | |
Migrationserfahrung es wert, erzählt zu werden. „Wir wollen ein | |
Gemeinschaftsgefühl erreichen, niemanden ausschließen – schon weil wir | |
selbst oft diese Erfahrung haben machen müssen.“ | |
Bereits zur ersten Lesung der Daughters & Sons im Januar 2015 kamen doppelt | |
so viele Zuhörer, als im kleinen Veranstaltungssaal des Kreuzberger | |
Wasserturms eigentlich Platz gefunden hätten – und das, obwohl Einladungen | |
nur über private E-Mails und Facebook verschickt worden waren. Seither | |
seien die Veranstaltungen fast immer ausverkauft gewesen, erzählt Çiçek | |
Bacik stolz. | |
Oft kämen nach den Lesungen Leute auf sie zu und fragten, ob sie sich auch | |
selbst beteiligen könnten. Und natürlich werde prinzipiell erst einmal | |
niemand abgewiesen. Für die Novizen unter den AutorInnen habe der Autor | |
Kolja Unger sogar einmal einen Schreibworkshop abgehalten. All die Arbeit, | |
die rund um die Lesungen anfällt, sei im Übrigen völlig ehrenamtlich, | |
erklärt Bacik noch – auch ihre eigene, mitunter ausufernde | |
Koordinationstätigkeit. Bisher kommt die Initiative gänzlich ohne | |
Fördergelder aus. | |
Ebenfalls komplett in privater Initiative – also im Eigenverlag – ist sogar | |
schon ein Buch entstanden, das zwölf Geschichten von ebenso vielen | |
AutorInnen bündelt. Es heißt, sehr sachlich, „Daughters & Sons of | |
Gastarbeiters – Zwölf Stories“. Diese Stories erzählen von durchaus sehr | |
unterschiedlichen kulturellen Hintergründen – was nicht nur Länder, | |
Sprachen, Religionen betrifft, sondern auch den Bildungshintergrund. Denn | |
es seien nicht nur Kinder von „Gastarbeitern“ bei der Initiative dabei, | |
betont Bacik, sondern auch Akademikersprösslinge. | |
Von einer recht originellen Kindheit etwa weiß Shlomit Tulgan | |
(„Legasthenikerin in sechs Sprachen“) zu berichten, deren Eltern als | |
Mitglieder der türkischen KP etliche Jahre in Berlin lebten, um dann in | |
verschiedenen Ländern des damals noch kommunistischen „Ostblocks“ für | |
Parteizeitungen zu arbeiten, die in der Türkei verboten waren. | |
## Vom Sauerland nach Andalusien | |
Die spanischstämmige Eva Andrades erinnert sich in ihrem Beitrag an die | |
langen Autoreisen in die Heimat der Eltern, Andalusien. Jedes Jahr | |
zweitausendsechshundert Kilometer von Kierspe im Sauerland bis nach | |
Chiclana de la Frontera. Und jedes Mal sprang ihre Mutter nach dem | |
Passieren der spanischen Grenze aus dem Wagen und „küsste den Erdboden. Ich | |
habe das sonst nur bei dem Papst so gesehen“. | |
Die Wut könnte einen packen, wenn man lesen muss, wie viele der AutorInnen | |
erzählen, wie sie als Kinder im deutschen Schulsystem unbesehen (aus dem | |
Regelvollzug) ausgesondert und in Ausländerklassen gesteckt werden sollten | |
– etliche von ihnen vor diesem Zugriff nur durch die Hartnäckigkeit ihrer | |
Eltern gerettet. Von einer gegenteiligen Erfahrung weiß hingegen Nusrat | |
Sheikh zu berichten, die als Muslima ein katholisches Mädchengymnasium | |
besuchen durfte, wo sie von Nonnen unterrichtet wurde („meine neue | |
Klassenlehrerin trug immer ein Kopftuch“), und später in Pakistan, der | |
Heimat ihrer Eltern, selbst als Deutschlehrerin arbeitete. | |
Die „Zwölf Stories“ sind nicht über einen allgemeinen Vertrieb erhältlich | |
und können bisher ausschließlich in der Buchhandlung Ebert und Weber in der | |
Falckensteinstraße 44 käuflich erworben werden. Das Buch kostet 14 Euro. | |
22 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
## TAGS | |
Gastarbeiter | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
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