# taz.de -- Kriminologe über Selbstbewaffnung: „Angst macht enorm konservati… | |
> Der Run auf den Kleinen Waffenschein rührt von einem subjektiven Gefühl | |
> der Unsicherheit her, sagt der Hamburger Kriminologe Nils Zurawski | |
Bild: Erfreut sich seit vergangenem Jahr größerer Beliebtheit: Schreckschussp… | |
taz: Herr Zurawski, sind die 50 Euro für einen Kleinen Waffenschein gut | |
investiertes Geld? | |
Nils Zurawski: Ich halte Geld, das man für Waffen ausgibt, in den meisten | |
Fällen für schlecht investiertes Geld. Für wen wäre es gut investiert? | |
Vielleicht für den, der sie sich kauft und sich dann sicherer fühlt. Aber | |
ich kann mir kaum vorstellen, dass die Leute weniger Angst haben, wenn sie | |
solch eine Waffe in der Tasche haben. Sie sind ja nur bewaffnet, können | |
aber mit den Waffen nicht umgehen. Ich halte das für rausgeschmissenes | |
Geld. | |
Die Polizei teilt da Ihre Meinung und warnt, dass das Tragen von Waffen zur | |
Eskalation von Konflikten beitragen kann. | |
Natürlich. Wenn ich nur Fäuste habe, um mich zu wehren, dann bekomme ich | |
eine aufs Maul. Wenn ich eine Waffe habe, riskiere ich etwas anderes. Wir | |
wissen es im Grunde nicht: Wir leben in Deutschland in einer Gesellschaft, | |
die enorm viel Waffen hat, in der aber erstaunlich wenig | |
Schusswaffendelikte vorkommen. Waffen spielen eine tabuisierte Rolle, sie | |
tauchen in der Öffentlichkeit nur bei der Polizei auf, ansonsten sind sie | |
im öffentlichen Raum ein echtes Schreckszenario. Von daher stelle ich mir | |
vor, dass jemand, der etwa auf der Reeperbahn entlanggeht und eine | |
Schusswaffe zückt, einen unabsehbaren Kaskadeneffekt auslöst. | |
Die Waffen könnten verdeckt getragen werden, sodass nicht von vorneherein | |
klar ist, dass jemand bewaffnet ist. | |
Sicher – aber was passiert, wenn wir nicht mehr sicher sein können, dass | |
die meisten Leute, denen wir begegnen, nicht bewaffnet sind? Man weiß ja | |
nicht, wozu die Waffen eingesetzt werden: Streit um einen Parkplatz, abends | |
auf der Reeperbahn, beim Verkehrskonflikt … Zurzeit kann ich sicher sein, | |
dass da nur gebrüllt wird, aber nichts weiter passiert. | |
Erst einmal ist das ja ein positiver Befund: viele Waffen, aber – anders | |
als etwa in den USA – wenig Delikte in Verbindung damit. Woran liegt das? | |
In den USA gibt es eine Mythologie der Eroberung des amerikanischen | |
Kontinents, die US-amerikanische Verfassung erlaubt indirekt das Tragen von | |
Waffen. Diesen Stellenwert haben sie bei uns nicht. Gleichwohl gibt es eine | |
Mengen Waffen ganz legal in Privatbesitz und nahezu jedes Mal, wenn es | |
einen Amoklauf gibt, geschieht das mit Waffen, die die Eltern zu Hause | |
stehen haben. | |
Die Amokläufe sind zum Glück die absolute Ausnahme. | |
Wir leben in einer stark pazifizierten Gesellschaft: Wir haben die | |
Wehrpflicht abgeschafft, schon zuvor hat die Hälfte der Wehrpflichtigen | |
verweigert. Das heißt nicht, dass Gewalt, auch direkte, nicht in unserer | |
Gesellschaft vorkäme, aber die Tendenz ist generell rückläufig. | |
Um so frappierender ist die gewachsene Nachfrage nach dem Kleinen | |
Waffenschein. Generell wird das mit den Übergriffen in Köln und Hamburg an | |
Silvester 2015 erklärt. Finden Sie diese Deutung schlüssig? | |
Nein. Sicher gab es nach Köln noch einmal eine höhere Aufmerksamkeit, | |
vielleicht war es der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, aber | |
schon vorher gab es eine Gemengelage aus Angst und Unsicherheit und den | |
Diskurs der AfD, wir würden überrannt. Die Gründe für die Bewaffnung sind | |
vermutlich vielfältig. Die Polizei spricht viel von Einbruchskriminalität, | |
da haben Leute Angst vor Einbrechern und wollen sich bewaffnen, obwohl die | |
Einbrecher wahrscheinlich kommen, wenn sie nicht zu Hause sind. Seit dem | |
11. September 2001 greift die Angst ohnehin um sich: Wir stünden im Zentrum | |
des Terrorismus, sagt der Innenminister, wir hätten neue Gefährdungslagen, | |
aber man könne nicht sagen, welche. Die Angst macht enorm konservativ und | |
führt zu einer Verteidigungshaltung, die für mich als fast 50-Jährigen in | |
dieser Republik neu ist. Wir bauen eine Burg und verschanzen uns – das | |
finde ich beängstigend und keine gute Entwicklung. Aber in dieses Bild | |
passen die Waffenscheine. Da müsste man untersuchen, was es mit den Leuten | |
macht, eine Waffe herumzutragen. Haben sie weniger oder mehr Angst? | |
Es ist paradox: Jede Kriminalitätsstatistik zeigt, dass die Zahl der | |
schweren Gewaltverbrechen zurückgeht, Sie sprechen von einer pazifizierten | |
Gesellschaft, gleichzeitig bröckelt das subjektive Sicherheitsgefühl. | |
Dieses subjektive Sicherheitsgefühl hat ja nichts damit zu tun, ob ich | |
Opfer einer Gewalttat geworden bin. Wir leben in einer | |
Wohlstandsgesellschaft, es geht uns extrem gut – vielleicht ist der Grund | |
der Unsicherheit diese Saturiertheit. Es bleibt schwierig zu erklären. | |
Sicher ist, dass damit gut Politik zu machen ist, siehe AfD, siehe | |
Polizeigewerkschaften, die die Unsicherheit nutzten, um mehr Polizeibeamte | |
zu fordern. | |
Was könnte die Politik tun, um ein Sicherheitsgefühl zu schaffen, das den | |
Tatsachen unseres alltäglichen Lebens entspricht? | |
Warum muss immer die Politik alles machen – wir müssen das tun. Wir müssen | |
sehen, dass den meisten Leuten am Tag nichts passiert und das auch für den | |
nächsten Tag als Gewissheit nehmen. Die Politik kann die Diskurse bis zu | |
einem gewissen Grad bestimmen, aber wir müssen fragen: Was für Gründe hat | |
diese Unsicherheit eigentlich? Vielleicht hat sie gar nicht so viel mit | |
Kriminalität zu tun, sondern mit Sorge um meinen Job, um den Klimawandel, | |
um die Schwulenehe – die alte Welt scheint aus den Fugen und die Leute | |
fragen sich, was sie darin zu tun haben und wie ihr Leben künftig aussehen | |
soll. Das macht viel unsicherer als der Räuber, der nie kommt. | |
Noch einmal zur Politik: Welchen Diskurs könnte und sollte sie initiieren? | |
Hin zu einer Gesellschaft, die mehr Selbstbewusstsein hat und die offener | |
ist. Aber natürlich: Hartz-IV und die Abstiegsangst der Mittelklasse … | |
… die in manchem so irrational wirkt wie die Angst um die Sicherheit. Ist | |
Ängsten, die so irrational sind, überhaupt beizukommen? | |
Das ist eben die Frage: ob Menschen immer so rational sind. Früher haben | |
die Leute an Hexen oder Feen geglaubt, oder dass ihnen der Himmel auf den | |
Kopf fallen könnte, heute scheint die Welt durchweg rationalisiert. Aber | |
immer gibt es etwas, was wir nicht verstehen. Die Grundängste des Lebens, | |
dass wir nicht wissen, wohin wir gehen, bleiben und um uns herum scheint | |
die Welt aus den Fugen: Millionen von Menschen fliehen zu uns, in Syrien | |
knallt es, in der Ukraine knallt es. Und sobald wir etwas nicht verstehen, | |
müssen wir angesichts dieses Nicht-Verstehens unsere Ängste irgendwohin | |
projizieren: Im Mittelalter wurden die Juden beschuldigt, Brunnen zu | |
vergiften und heute die Flüchtlinge, sie wollten unsere Frauen | |
vergewaltigen. Es gibt vielleicht sogar eine Angst vor der Angst – und ich | |
bin unsicher, ob es hilft, den Leuten zu sagen: Laut Kriminalitätsstatistik | |
gibt es keinen Grund dazu. | |
Was würde denn helfen? | |
Sicherheit hat etwas mit Selbstvertrauen zu tun, damit, wie man auf | |
Menschen zugeht, wie man mit Andersartigkeit umgeht. Es ist natürlich, | |
Angst vor Fremden zu haben, aber man kann offener damit umgehen und sehen, | |
dass sich das Risiko lohnt, dass man etwa mit Freundlichkeit belohnt wird. | |
So wie Sie es darstellen, werden wir der Angst nie ganz entgehen können – | |
und damit auch nicht dem Projektionsbedürfnis. | |
Ich habe auch Angst vor bestimmten Dingen – aber darüber kann man ja | |
nachdenken und reden. Das tut aber keiner. Die einen sagen, ihr sollt alle | |
herkommen, die anderen sagen, die klauen uns die Frauen. Niemand sagt: Ich | |
habe Angst, lass uns darüber reden, wie gehst du damit um? Das wird nicht | |
getan, weder von der Politik noch von uns. Stattdessen wird mit den Ängsten | |
gespielt. Ich mag die Pegida-Leute wirklich nicht, aber niemand fragt sie, | |
außer vielleicht auf dem Dresdner Marktplatz: Wovor habt ihr eigentlich | |
Angst, erzählt mal davon. Lieber baut man eine Mauer. Das finden alle | |
super, denn über Ängste zu sprechen, wirkt schwach. | |
Ich glaube mich zu erinnern, dass es mal in einer Bundespräsidentenrede | |
anklang. | |
Im alltäglichen Marktgeschrei der Politik ist das zu kompliziert. Da gab es | |
1.000 Meinungen, kein Schwarz-Weiß, sondern lauter Grauschattierungen, wie | |
soll man sich da zurechtfinden? | |
Ist es auch eine Frage des politisch-korrekten Diskurses, der es schwierig | |
macht, Ängste im Umgang mit Flüchtlingen zu formulieren? | |
Das glaube ich nicht. Wenn, dann haben uns die Schreihälse von rechts die | |
Freude an der Diskussion verdorben, weil man leicht in ihre Ecke geholt | |
wird. | |
Ein Erklärungsansatz für die Ängstlichkeit unserer Gesellschaft ist, dass | |
wir in einer alternden Gesellschaft leben und dass alternde Menschen | |
leichter zu verunsichern sind. Daran lässt sich wenig ändern. | |
Das stimmt – wobei: Wir können junge Menschen aufnehmen. | |
Vor denen haben wir ja Angst. | |
Das stimmt. Vor den jungen am meisten. | |
Die Zahl der Waffenscheinanträge ist inzwischen wieder gesunken, wenn auch | |
auf hohem Niveau. Wie glauben Sie, wird sich das Sicherheitsbedürfnis in | |
den nächsten Jahren entwickeln? | |
Wenn ich das wüsste, wäre ich reich. Dazu müsste man die Entwicklungen der | |
letzten 20 Jahre ansehen. Im Augenblick scheinen Möchtegern-Diktatoren, | |
Neu-Sultane und lustige Präsidenten gut mit der Angst zu leben, weil es sie | |
stark macht. Von daher denke ich, dass sie sich gesellschaftlich überträgt | |
und auf hohem Niveau bleibt. | |
22 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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